Dreizehntes Kapitel

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Mum richtet sich auf und geht vom Backofen zum Küchentisch hinüber, an dem wir sitzen. Sie stellt eine Pfanne mit Ofenkartoffeln auf den Untersetzer, auf dem bereits das Brathuhn steht, das zehn Minuten geruht hat.

»Die Hühner sollen sich ausruhen, bevor wir sie essen«, hat Dad immer gesagt, als wir noch klein waren. »Es ist anstrengend, gegessen zu werden.«

»Erzähl den Kindern doch nicht so einen Blödsinn, Mathew. Das Huhn sollte ein bisschen ruhen, damit man es nachher leichter tranchieren kann, Sapphire«, entgegnete Mum.

Dad ist nicht mehr da, aber wir essen immer noch Brathuhn. Ist es nicht merkwürdig, dass ein Gericht eine Person überdauern kann? Das übliche Sonntagsessen. Ich betrachte die goldene Haut des Brathuhns und die knusprigen goldbraunen Kartoffeln. Mum streut immer zuerst das Salz über die Kartoffeln, bevor sie in heißem Öl gebraten werden.

»Für mich nur Kartoffeln und Brokkoli«, sage ich, als ich an der Reihe bin. Mum hat Roger bereits reichlich aufgegeben, der begierig auf die Hühnerbrust und die Keule starrt.

»Du willst doch nicht wieder anfangen, dich vegetarisch zu ernähren, Sapphire?«, fragt sie argwöhnisch.

»Ich werde kein Vegetarier, ich will nur kein Huhn.«

»Das Huhn sieht großartig aus«, bemerkt Roger.

»Als es draußen herumlief, sah es noch besser aus«, entgegne ich. Ich fühle mich auf sicherem Grund, weil ich weiß, dass dies eines von Nances Hühnern ist. Ich muss es also tatsächlich oft draußen gesehen haben.

Wahrscheinlich habe ich ihm sogar manchmal Körner hingestreut, was es mir noch schwerer macht, es jetzt auf dem Teller zu betrachten.

»Was ist besser für ein Huhn?«, fragt Conor. »Wenn es draußen herumläuft, ein schönes Leben hat und schließlich gegessen wird oder wenn man es in einen Käfig sperrt, aus dem es nie herauskommt, um schließlich eines natürlichen Todes zu sterben?«

Mum gießt einen langen Streifen Bratensaft über Rogers Teller. Ihre Lippen sind vor Verärgerung zusammengepresst. Ihr Gesicht ist von der Hitze des Ofens und der Sommerwärme gerötet, und plötzlich bereue ich, etwas über herumlaufende Hühner gesagt zu haben.

»Komm, oh Herr, sei unser Gast, und segne, was du uns bescheret hast«, sagt Roger. Wir schauen ihn an. Sein Gesicht ist ernst und ruhig. Er nickt mir zu, greift zu Messer und Gabel und beginnt zu essen.

»Nichts gegen deinen Arbeitsplatz, Jennie, aber dieses Gericht schlägt alles, was ich je in einem Restaurant gegessen habe«, sagt er, nachdem er die ersten Bissen verschlungen hat. Ich lausche nur dem Klang seiner Stimme, ohne auf die Wörter zu achten, und mache eine unerwartete Entdeckung. Mum hat uns gar nicht erzählt, dass Roger Australier ist. Allerdings ist sein Akzent nicht besonders stark. Vielleicht ist er vor gar nicht langer Zeit nach Australien gezogen, um am Great Barrier Riff zu tauchen.

»Habe ich Soße am Kinn?«, fragt Roger lächelnd.

Ich muss ihn gedankenverloren angestarrt haben.

»Nein, nein«, entgegne ich, »ich habe mich nur gefragt, ob Sie aus Australien kommen?«

Roger scheint beeindruckt zu sein. »Ja, das stimmt. Ich wurde in einem kleinen Ort der Blue Mountains in der Nähe von Sydney geboren. Meine Eltern sind nach ihrer Heirat dorthin ausgewandert. Aber die Dinge haben sich nicht nach ihren Vorstellungen entwickelt, also zog meine Mutter hierher zurück, als ich zehn Jahre alt war. Ich denke, man kann immer noch ein bisschen australischen Akzent bei mir heraushören, wenn man ein Ohr dafür hat.«

»Das habe ich ja gar nicht gewusst«, sagt Mum.

»Deine Tochter hat ein feines Gehör«, sagt Roger, und ich kann nicht anders, als mich geschmeichelt zu fühlen. Ich senke den Blick, um mein Lächeln zu verbergen. Ich will nicht, dass Mum denkt, ich könnte Roger mögen.

»Iss deinen Brokkoli, Sapphire«, sagt Mum automatisch, obwohl ich ihn schon aufgegessen habe.

»Sie sieht schon viel besser aus, oder?«, fährt Mum fort. Das ist keine wirkliche Frage, deshalb antwortet auch niemand.

»Es geht dir doch schon besser, oder, Sapphire?«

»Äh, ja …«, beginne ich, als mir klar wird, dass ich mich alles andere als besser fühle. Hingegen habe ich das merkwürdige Gefühl, der Esstisch entferne sich von mir. Conor blickt mich besorgt an. Es kommt mir so vor, als sei sämtliche Luft aus dem Raum entwichen, obwohl die Tür zur Küche offen steht. Der Essensgeruch nimmt mir den Atem. Warum sitzen wir hier drinnen, wenn draußen die Sonne auf das Gras scheint und das Meer ruft.

»Der Gezeitenwechsel steht unmittelbar bevor«, sage ich, bevor ich begreife, was ich da ausspreche.

Roger schaut auf seine Uhr. »Du hast völlig Recht«, sagt er überrascht. »Auf die Minute. Du beobachtest die Gezeiten?«

»So wie Sie.«

»Bei mir ist das selbstverständlich. Als Taucher ist es mir zur zweiten Natur geworden.«

»Bei Saph ist es die erste Natur«, sagt Conor. Ich traue meinen Ohren nicht. Will er etwa unsere Geheimnisse verraten ?

»Ach, wirklich?«, fragt Roger. Er mustert mich nachdenklich. Ich vermute, dass Taucher von Haus aus gute Beobachter sind.

»Ich habe schon Leute kennen gelernt, die genau über den Stand des Wassers Bescheid wussten, ohne auf die Uhr oder den Tidenkalender blicken zu müssen. Ich dachte, das hinge mit ihrer lebenslangen Erfahrung zusammen. Aber bei dir muss das andere Ursachen haben, Sapphire.«

»Die Kinder sind mit dem Geräusch des Meeres aufgewachsen«, sagt Mum. »Kinder in dieser Gegend haben doch automatisch eine sehr enge Verbindung zum Meer, jedenfalls meine.«

»Eine bessere Art aufzuwachsen kann ich mir gar nicht vorstellen«, erwidert Roger. »Sag mal, Sapphire, klingt das Meer nach dem Gezeitenwechsel eigentlich anders als vorher ?« Ihn scheint das wirklich zu interessieren, doch ich antworte ihm nicht, sondern lausche aufmerksam. Das Brüllen des Meeres füllt meine Ohren. Conor versucht, Roger abzulenken.

»Ich würde gern tauchen lernen«, sagt er, indem er ihm in die Augen blickt.

»Ist doch gar nicht wahr!«, bricht es aus mir heraus.

»Woher willst du das wissen, Saph?«

»Dann brauchst du einen guten Tauchlehrer«, sagt Roger. »Wie alt bist du jetzt?«

»Dreizehn.«

»Wenn du es ernst meinst, dann will ich sehen, was ich für dich tun kann. Ich würde erst mal einen einwöchigen Anfängerkurs vorschlagen.«

»Ich meine es ernst«, sagt Conor. »Ich würde es wirklich gern lernen.«

»Aber das ist doch gefährlich«, sagt Mum. »Nicht wahr, Roger?«

»Nicht gefährlicher als andere Dinge auch. Wenn man die Regeln befolgt, seinen gesunden Menschenverstand benutzt und keine unnötigen Risiken eingeht, kann eigentlich nichts passieren.«

Die Regeln befolgt … seinen gesunden Menschenverstand benutzt … keine unnötigen Risiken eingeht. Ohne dass ich es gleich bemerkt habe, ist das Brüllen des Meeres verklungen.

»Aber wie soll man Entdeckungen machen, wenn man nie etwas riskiert?«, frage ich.

Roger denkt einen Moment nach. »Da ist etwas Wahres dran. Aber man fängt ja nicht damit an, dass man Risiken eingeht. Gerade am Anfang tut man alles, um sie zu minimieren. Du musst immer wissen, was du tust, Schritt für Schritt, und dir den Respekt vor der Gewalt des Meeres bewahren. Man darf nie vergessen, dass man sich dort unten in einer anderen Welt befindet. Einer fremdartigen Welt. Du wirst verstehen, was ich meine, Conor, wenn du deinen ersten Tauchgang machst.«

»Das muss wunderschön sein«, sage ich.

»Das ist es«, bestätigt Roger. »Es ist eine eigene Welt mit ganz besonderen Lichtverhältnissen. Wenn eine Wurzelmundqualle an dir vorbeischwimmt oder ein Hai … Ich kann euch sagen, das sind unglaubliche Momente. Wusstet ihr, dass es in diesen Gewässern Riesenhaie gibt?«

»Ja.«

»Und ganze Wälder aus Seetang. Es ist wirklich eine vollkommen andere Welt. Man muss das Meer respektieren. Wir gehören dort nicht hin. Sobald du das vergisst, hast du ein großes Problem.«

Und dennoch spioniert ihr in Indigo, sagt eine Stimme in meinem Kopf. Die Mer wollen euch da nicht. Was ist so respektvoll daran, in eine Welt vorzudringen, in der man nicht willkommen ist?

Doch nichts davon sage ich laut. Stattdessen nicke ich und sage: »Ja, vielleicht.«

»Roger wird sich mit seinem Boot in der Bucht aufhalten und dort tauchen«, sagt Mum. Obwohl sie das Meer hasst, scheint sie sich keine Sorgen um ihn zu machen.

Aber sie hat sich ständig Sorgen gemacht, wenn Dad auf See war, auch wenn sie uns das nicht zeigen wollte. Erst wenn er wieder zu Hause und die Tür geschlossen war, wenn das Feuer brannte oder wenn draußen solch ein heftiger Sturm tobte, dass niemand daran dachte, mit dem Boot hinauszufahren, dann war Mum glücklich und entspannt.

»Wir wollen erst mal die Gegend erkunden«, fügt Roger rasch hinzu. Doch ich bin mir nicht sicher, ob ich ihm glaube. Ich wittere Gefahr. Er vermutet sicher, dass es in dieser Gegend lohnende Objekte für einen Taucher gibt: Wracks, Schätze – Dinge, die Indigo entrissen und an die Luft gezerrt werden sollen. Die den Mer weggenommen werden. Kostbarkeiten, die Roger entdecken will, ehe ihm jemand zuvorkommt.

»Wonach halten Sie Ausschau?«, fragt Conor.

»Das weiß ich erst, wenn ich mich ein wenig umgesehen habe«, antwortet er ausweichend. Er lässt seinen Blick um den Tisch wandern. »Ich wäre euch also sehr dankbar, wenn ihr erst mal nichts darüber erzählen würdet. Ich will nicht, dass mir andere Taucher in die Quere kommen.«

»Wir sollen also unseren Schulkameraden und den Freunden hier in der Nachbarschaft nichts sagen?«, frage ich.

»Genau. Zumindest vorerst nicht.«

»Ich werde nichts verraten, versprochen!«, sage ich und lächele Roger zum ersten Mal an. Es ist ein breites, warmherziges Lächeln, das ihn in Sicherheit wiegen soll. Mum wirft mir einen dankbaren Blick zu. Ich weiß genau, was sie jetzt denkt. Gott sei Dank, vielleicht mag Sapphy ihn ja doch ein wenig.

»Möchtest du noch einen Schenkel, Roger?«, fragt sie.

 

»Du wirst ihnen nichts von Roger erzählen!«, zischt Conor, als wir zusammen abwaschen.

Ich reiße meine Augen weit auf. »Natürlich nicht. Das hab ich doch versprochen.«

»Du weißt, was ich meine. Ich hab genau gehört, was du gesagt hast. Du hast versprochen, den Leuten aus der Schule und den Nachbarn nichts zu erzählen.«

»Roger hat mich auch nur darum gebeten.«

»Nur weil er nicht weiß, wem du es sonst erzählen könntest. «

»Nein, weil er überhaupt nichts weiß! Er kennt sie nicht, und sie sind ihm auch völlig egal. Was passiert denn mit Faro, wenn Roger findet, wonach er sucht? Vielleicht geht es wirklich um einen Goldschatz. Andere Taucher werden ebenfalls davon hören und jede Menge Touristen anlocken. Dann wird es im Meer bald so voll sein wie an Land und die Mer werden vertrieben.«

Conor trocknet sehr langsam einen Teller ab. »Ich weiß, daran habe ich auch schon gedacht.«

»Warum hast du ihn dann angestachelt? Warum hast du ihm dann erzählt, dass du auch tauchen lernen willst?«

»Weil ich es will.«

»Aber du kannst doch schon tauchen, auch ohne Roger. Du brauchst weder Luft auf dem Rücken noch einen Taucheranzug, um Indigo zu erreichen.«

»Gib Roger eine Chance, Saph. Er ist in Ordnung. Er würde auch nicht wollen, dass Horden von Menschen nach irgendwelchen Schätzen tauchen.«

Ich habe das Gefühl, als hätte ich einen Schlag bekommen. Ich hole tief Luft und schlage zurück. »Das ging aber verdammt schnell!«

»Was ging verdammt schnell?«

»Du bist schon auf seiner Seite, stimmt’s?«

»Gib das Glas her, du machst es nur kaputt. Hör zu, Saph. Es geht nicht darum, auf irgendeiner Seite zu stehen. Sieh dir Mum an. Sieht sie nicht viel besser aus als noch vor kurzem ? Oder willst du etwa, dass es ihr wieder so geht wie damals, als Dad verschwunden ist?«

Mum und Roger sitzen im Wohnzimmer und spielen Karten. Es hört sich so an, als würde Mum gewinnen. Als Conor und ich an der Tür lauschen, hören wir sie lachen. Ein sanftes, warmes, glucksendes Lachen. Sie klingt glücklich und entspannt.

»Es geht ihr viel besser«, sagt Conor. »Viel, viel besser. Und du willst doch, dass es ihr besser geht, oder?«

»Dad ist dir egal geworden.«

Conors Gesicht errötet langsam unter der braunen Haut, während er jedes einzelne Wort betont: »Sag das nie wieder zu mir!«

»Nein, Conor, das wollte ich nicht, es tut mir Leid …«

Conor dreht mir den Rücken zu und geht leise aus dem Zimmer. Er knallt die Tür nicht zu, doch die Art, wie er sie schließt, ist viel schlimmer. Ich höre seine Schritte auf den Stufen, dann in meinem Zimmer und auf der Leiter, die zu seinem Dachboden führt. Er zieht die Leiter nach oben, schließt die Falltür und sperrt mich aus.

Conor hat mir den Rücken zugewandt. Er will nicht mit mir zusammen sein. Er ist wütend, und ich weiß, dass sein größter Zorn sich sehr leise äußert und sehr lange anhält.

Es ist alles meine Schuld. Wie konnte ich nur so blöd sein? Ich gehe ihm nach und versichere ihm, dass mir meine Worte schrecklich Leid tun.

»Conor!«, rufe ich leise unter der Falltür, damit Mum nichts mitbekommt. »Es tut mir Leid, Con. Ich habe es nicht so gemeint.«

Doch es kommt keine Antwort. Angst und Einsamkeit überwältigen mich. Erneut höre ich Mums Lachen und ihre Stimme, aber ich kann nicht verstehen, was sie sagt. Conor hat Recht. Sie klingt glücklich. Roger fällt in ihr Lachen ein.

Ich habe das furchtbare Gefühl, dass Roger schon mehr hierher gehört als ich. Nachher, wenn Conor weiß, dass ich nicht mehr unter der Falltür stehe und warte, wird er die Leiter herunterkommen, um mit ihnen Karten zu spielen und über das Tauchen zu reden. Ich sehe die drei einträchtig nebeneinander sitzen und spüre, wie der Schmerz zunimmt.

Warum war ich so dumm? Wie konnte ich nur zu Conor sagen, dass Dad ihm egal ist? Ich wünschte, ich könnte die Worte zurücknehmen. Wenn ich nur wüsste, wie man die Zeit zurückdreht. Dann könnte ich alle Fehler in meinem Leben ungeschehen machen.

Mum und Roger lachen erneut. Mum ist glücklich. Ist sie glücklicher, wenn ich nicht da bin? Vielleicht will sie mich gar nicht hier haben, weil ich sie an Dad erinnere, sobald ich den Mund öffne. Ich sehe auch so aus wie Dad. Alle haben das immer gesagt.

Wenn Dad doch nur hier wäre.

Während ich das denke, meldet sich zum ersten Mal eine leise, monotone Stimme zu Wort: Vielleicht haben sie Recht und du irrst dich. Vielleicht kommt er nie mehr zurück.

In meinem Kopf sammeln sich die trostlosesten Gedanken. Ich fühle mich müde und einsam und weiß nicht, was ich dagegen tun soll. Wenn mir doch nur jemand helfen könnte. Doch ich fühle nichts als die Leere, die sich in mir ausbreitet.

Bis ich plötzlich einen Sog verspüre, erst schwach, dann immer stärker werdend. Ich weiß, was das zu bedeuten hat. Der Wasserspiegel sinkt rasch.

Seit dem Gezeitenwechsel ist schon eine Stunde vergangen. Ich weiß es, ohne zu wissen, woher. Ich spüre die Gezeiten in mir, als hätte sich mein Blut in Salzwasser verwandelt. Da ist der Sog wieder, stärker als je zuvor, und reißt mir fast meine Füße weg. Ich muss los. Auf der Stelle.

Schnell, schnell, schnell. Sonst ist es zu spät.