Achtzehntes Kapitel

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Wach auf, Sapphire. Wach auf. Es ist wichtig. Du musst dich erinnern.

Wer hat das gesagt?

Eine weiße Wand. Die Wand meines Schlafzimmers. Ich bin wach. Zumindest glaube ich, dass ich wach bin. Es ist früh am Morgen. Mum ist noch nicht zur Arbeit gefahren. Ich höre sie unten.

In meinem Kopf fällt alles an seinen Platz. Irgendwas war geschehen in der Nacht. Das Meer hat zu mir gesprochen, doch dann hat Sadie angefangen zu bellen und die Stimme des Meeres verstummte. Eine Eule erschien direkt vor meinem Fenster. Fast hätte ich ihre Federn berühren können. Sie starrte mich an. Ihre Augen erinnerten mich an etwas, doch ich weiß nicht, woran.

Ich sitze kerzengerade in meinem Bett. Das war kein Traum. Das war Realität, und sie war von größter Bedeutung, auch wenn mir ihr Sinn nicht klar ist. Ich muss Conor davon erzählen.

Conor zu wecken, ist ein hartes Stück Arbeit. Er versucht, tiefer unter seine Decke zu kriechen.

»Mmmhh!«

Aber ich kenne kein Erbarmen. Ich ziehe ihm die Decke weg und drehe ihn zurück, sobald er sich zur Wand rollt.

»Wassollndas?«

»Conor, wach auf. Etwas ganz Wichtiges ist passiert.«

Endlich dringen die Worte durch den Nebel seines Bewusstseins. Klar und deutlich sagt er: »Geh weg, ich schlafe noch.«

»Wie kannst du schlafen, während du mit mir sprichst?«

Conor stöhnt. »Verschwinde, Saph. Nur weil du in aller Herrgottsfrühe aufstehen musst …«

»Das Meer hat mich letzte Nacht gerufen. Es hat mich beim Namen genannt. Das Meer hat eine Stimme, Conor! Ich glaube, es hat meinen Namen in Mer gesagt, und stell dir vor, ich habe ihn verstanden!«

Conor reißt die Augen auf. »Was sagst du da?«

»Moryow hat mich gerufen.«

»Wer zum Teufel ist Moryow?«

»Habe ich das gesagt?«

»Weißt du nicht mal mehr, was du gesagt hast?«

Plötzlich öffnet sich mein Bewusstsein für die Bedeutung des Wortes.

»Moryow sind die Meere dieser Erde«, erkläre ich.

»Das hast du dir gerade ausgedacht.«

»Habe ich nicht, ich schwöre! Moryow kam mir letzte Nacht sehr nah. So nah, wie sie nur konnte. Doch Sadie wollte mich die Stimme nicht hören lassen … und ich glaube, auch die Eule hat es verhindert.«

Conor stützt sich auf seine Ellbogen. Er sieht zerzaust und besorgt aus.

»Das muss ein Traum gewesen sein, Saph. Eine andere Erklärung gibt es nicht.«

»Es war aber kein Traum. Ich habe wirklich eine Stimme gehört. Sie war so klar wie deine und sie hat mich gerufen. «

»Vielleicht ein Verrückter, der draußen herumgelaufen ist.« Er schaudert. »Gott sei Dank bist du ihr nicht gefolgt.«

»Aber ich hätte es fast getan. Nur das Bellen von Sadie hat mich davon abgehalten.«

»Jack wohnt doch über zwei Meilen entfernt. Wie solltest du da ihr Bellen hören?«

»Ich weiß, aber das Bellen war so laut, als wäre sie in meinem Zimmer gewesen. Zuerst hörte ich die Lev von Moryow, dann wurde sie von Sadies Lev übertönt.«

Conor lässt sich ins Bett zurücksinken. »Das ist doch alles totaler Unsinn. Moryow … Lev … ich habe keine Ahnung, wovon du da redest.«

»Das ist kein Unsinn. Hör zu, Con! Ich glaube, es klingt nur verrückt, wenn man versucht, es … es auf eine menschliche Art zu verstehen.«

»Wie soll ich es sonst verstehen? Ich bin ein Mensch und du bist es auch.«

»Aber stell dir vor, ich könnte fließend Mer sprechen und mit allen Lebewesen in Indigo reden … vielleicht habe ich schon begonnen, ihre Sprache zu lernen.«

Mit einem Mal wirkt Conor nicht mehr böse.

»Ich sage ja nicht, dass ich dir nicht glaube, Saph. Es ist nur ziemlich erschreckend, wenn man eine Schwester hat, die plötzlich anfängt, eine andere Sprache zu sprechen. Da kommt man sich wie ein Fremder vor.«

»Wie könntest du denn ein Fremder für mich sein? Wir sind doch Bruder und Hwoer.«

Conor presste seine Hände gegen den Kopf. »Hör auf, Saph! Und was immer auch passieren mag – wenn du wieder mitten in der Nacht eine Stimme hörst, dann folge ihr nicht. Du darfst auf keinen Fall tun, was sie sagt. Versprich mir das!«

»Ich kann nicht.«

»Du musst.«

»Aber versteh doch. Versprechen, die ich an Land abgebe, gelten auch nur an Land. Ich kann hier nicht sagen, was ich in Indigo tun werde.«

Conor nickt widerwillig. »Okay, aber schwör es trotzdem. «

»Ich schwöre!« Wir spucken in unsere rechten Hände und schlagen sie zusammen.

 

Conor glaubt mir, dass mich die Meere der Erde gerufen haben. Noch gestern Nachmittag hatte ich das Gefühl, nicht mehr richtig zu unserer Familie zu gehören, während er sich offenbar immer enger mit Mum und Roger zusammenschloss. Doch jetzt bilden wir wieder eine Einheit.

»Hey, Saph, was ist los? Du weinst doch nicht, oder?«

»Nein, ich bin nur so froh, dass …«

»Dass was?«, fragt Conor, während er mir mit der Ecke seiner Bettdecke die Tränen abwischt. »Du weinst wirklich die dicksten Tränen von ganz Cornwall. Wir sollten sie in Flaschen füllen und an die Touristen verkaufen.«

»… dass du es nicht für einen Traum hältst.«

»Ich weiß doch, wann du mir einen Bären aufbindest. Deine Worte klangen ganz echt. Ich weiß nur leider nicht, was ich mit ihnen anfangen soll.«

»Lass uns mit Granny Carne reden«, schlage ich vor. Nicht weil ich gründlich darüber nachgedacht hätte, sondern weil es das ist, was die Leute in dieser Gegend tun, wenn sie schwer wiegende Probleme haben.

Zu meinem Erstaunen ist Conor sofort einverstanden. »Gute Idee, Saph. Das machen wir. Dass ich nicht selbst darauf gekommen bin.«

»Du meinst, wir sollten gleich zu ihr gehen?«

»Ja, warum nicht? Lass uns aufbrechen, sobald Mum zur Arbeit gefahren ist.«

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Mum ist in ihrem Schlafzimmer, bürstet sich die Haare und bindet sie für die Arbeit zu einem glatten Knoten zusammen. Sie lächelt mein Spiegelbild an.

»Da bist du ja. Als ich vorhin nach dir geschaut habe, hast du noch tief und fest geschlafen. Du siehst übrigens schon viel besser aus. Roger hat mir erzählt, dass ihr euch gestern in der Küche gut unterhalten habt.«

»Ja.«

»Das ist schön. Er hält dich für ein sehr aufgewecktes Mädchen. Da sollte er mal deine Schulzeugnisse sehen! Jedes Mal derselbe Satz: ›Sapphire ist intelligent, aber sie könnte sich mehr Mühe geben.‹«

»Du hast ihm doch wohl nicht von meinen Zeugnissen erzählt? «

»Natürlich nicht. Ich bin zu nett, das ist mein Fehler. Aber Mr Carthew sagt immer, dass du viel mehr aus deinen Begabungen machen müsstest. Du könntest so gut sein, Sapphy, wenn du dir mehr Mühe geben würdest. Du könntest studieren, einen spannenden Beruf ergreifen, von hier fortgehen …«

»Ich will aber nicht von hier fortgehen.«

Mum legt seufzend die Bürste hin. »Ich weiß, dass du am liebsten für den Rest deines Lebens in der Bucht schwimmen und mit Conor durch die Gegend streifen würdest. Ich werfe dir das nicht vor, ich war früher genauso. Deswegen bin ich auch durch alle Prüfungen gerasselt, ohne dass es mir etwas ausgemacht hätte. Aber ich will nicht, dass du später mal genauso endest wie ich, Sapphy, am Ende des Abends die Trinkgelder zusammenzählst und hoffst, dass du auch die nächste Stromrechnung bezahlen kannst.«

»Ich dachte, du arbeitest gern im Restaurant?«

»Es ist schon in Ordnung. Aber du sollst mehr erreichen als ich, ein anderes Leben führen. Alle wollen, dass es ihre Kinder mal besser haben als sie selbst, das ist doch selbstverständlich. «

Ob das bei den Mer auch so ist?, frage ich mich und hoffe, dass mir dieser Gedanke nicht ins Gesicht geschrieben steht.

»Um Conor mache ich mir keine Sorgen«, fährt sie fort. »Der arbeitet hart und weiß, was er will. Aber du bist so verträumt, Sapphy. Manchmal… manchmal möchte ich dich durchschütteln, um dich zur Vernunft zu bringen.«

Mum lacht und ich lache auch.

»Roger ist ein guter Kerl«, sagt sie plötzlich. »Und ich will doch nur das Beste für dich und Con.«

»Das hört sich ja so an, als wolltest du ihn heiraten.«

Mum steigt die Röte ins Gesicht.

»Wer hat denn was von Heiraten gesagt?«, fragt sie. »Wir haben uns doch gerade erst kennen gelernt. Ich möchte nur, dass du Roger eine faire Chance gibst. Er hätte gern ein gutes Verhältnis zu dir, wenn du es zulässt.«

Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll, und ich habe auch keine Lust, über Roger zu reden. »Warum glänzen deine Haare viel mehr als meine, Mum?«

»Weil ich sie regelmäßig durchbürste«, antwortet sie.

»Ich hab dich so oft gefragt, ob wir mal wieder eine Hennakur machen können, aber du hast ja nie Zeit.«

»Das werden wir bald, ich verspreche es dir. Aber jetzt hör auf, an meinen Haaren rumzufummeln, und lass mich weitermachen. Ich muss gleich los. Herrgott, diese Ferien nehmen einfach kein Ende. Was werde ich froh sein, wenn ihr wieder in der Schule seid und ich mir nicht mehr den ganzen Tag Sorgen um euch zu machen brauche. Tu mir den Gefallen, Sapphy, und geh nicht alleine weg. Unternimm etwas mit Conor.«

»Ist gut, Mum. Aber… glaubst du eigentlich …«

»Ja?«

»Glaubst du, dass man Stimmen hören kann … die es gar nicht gibt?«

»Was für Stimmen?«

»Nun, zum Beispiel eine unbekannte Stimme, die deinen Namen ruft.«

Sie nimmt meinen Kopf in beide Hände. Ihre Finger sind sanft und kühl. »Ich glaube, es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als wir uns vorstellen können. Ich hab dir doch mal erzählt, dass ich im Landesinneren in Plymouth gearbeitet habe, als meine Mutter starb.«

»Ja.«

»Niemand hatte mit ihrem Tod gerechnet. Sie hatte eine Infektion und nahm Antibiotika. Eigentlich war sie schon über den Berg, aber dann hat sie eine Lungenembolie bekommen und ist um drei Uhr morgens gestorben. Um vier hat Dad mich angerufen.«

Ich weiß nicht, was eine Lungenembolie ist, aber ich will jetzt lieber nicht fragen.

»Ich habe sie vor ihrem Tod also gar nicht mehr gesehen«, fährt Mum fort. »Doch ungefähr zwei Wochen später, nach der Beerdigung, als ich bei uns zu Hause im Garten war – ich hatte noch nicht wieder begonnen zu arbeiten und half solange Dad –, da habe ich auf einmal ihre Stimme gehört. ›Jennie?‹, sagte sie, und ich fragte: ›Ja?‹ Dann sagte sie: ›Mach dir keine Sorgen um mich, Jennie. Mir geht es gut.‹«

Ich starre Mum an. Davon hat sie mir noch nie erzählt.

»Hat sie noch mehr gesagt?«

»Nein, aber ich hatte das Gefühl, dass sie bei mir ist. Sie streichelte meine Wange, wie sie es getan hat, als ich ein Kind war. Und ich habe es genauso deutlich gespürt.«

»War sie ein Geist?«

»Nein, sie war ganz sie selbst. Doch dann war sie plötzlich verschwunden. Weißt du, Sapphy, du bist die Allererste, der ich davon erzähle.«

Mum lächelt, aber ihre Augen sind feucht.

»Macht es dich traurig, wenn du an deine Mutter denkst?«

Sie schüttelt den Kopf. »Nein, ich rede gern von ihr. Komm her, Sapph. Lass dich umarmen.«

Ich nehme sie so fest in den Arm, dass sie fast keine Luft mehr bekommt. Ich stelle mir vor, Mum würde plötzlich sterben und nur noch als Geist wiederkehren, der sich auf dem Pfad vor dem Haus zeigt, bevor er verschwindet. Sie scheint ja glücklich darüber zu sein, dass ihre Mum das getan hat, aber ich lege bestimmt keinen Wert darauf.

»Versprich mir, dass du das nie tun wirst«, flüstere ich.

»Was?«

»Du weißt schon. Versprich es! Du wirst niemals …«

»Niemals?«

»Verschwinden.«

Mum atmet tief durch. Ich spüre, wie sich ihre Rippen nach oben bewegen, als sich ihre Lungen mit Luft füllen.

»Ich verspreche es, Sapphy.«