Sechzehntes Kapitel
Bitte verschwinde nie wieder, ohne mir vorher Bescheid zu geben«, sagt Mum. »Wenn Conor mir nicht gesagt hätte, dass du mit Sadie spazieren gehst, hätte ich mir wirklich Sorgen gemacht.«
»Tut mir Leid, Mum. Es war so heiß, dass ich mit Sadie im Bach geplanscht habe.«
»Das sehe ich. Du bist ja völlig durchnässt. Ihr wart stundenlang unterwegs.«
Nur Stunden, denke ich erleichtert. Die Zeit in Indigo und an Land war diesmal gar nicht so verschieden. Wenn die Zeit ein Fächer ist, dann hat sie sich diesmal nicht weit genug geöffnet, um Mums Zeit von meiner zu trennen. Gute Idee von Conor zu sagen, ich sei mit Sadie spazieren gegangen. Mum hat nicht daran gezweifelt, weil Conor eigentlich immer die Wahrheit sagt.
Doch mir zuliebe hat er gelogen. Oder war es Mum zuliebe ? Er wollte einfach nicht, dass sie sich Sorgen macht.
Ich muss zugeben, dass ich nicht immer die Wahrheit sage. Als ich klein war, habe ich getobt und geschrien, wenn mir jemand meine Geschichten nicht glaubte. Ich erzählte, dass unter dem Rosmarinbusch kleine Elfen lebten, denen ich eine Höhle gebaut hätte. Ich besaß auch ein eingebildetes kleines Kätzchen, das ich jeden Morgen mit Milch fütterte. Ansonsten aß es nur Whiskas, wie ich es von den Katzen im Fernsehen kannte. Einmal hat mir Dad sogar eine ganze Palette mit Whiskas gekauft, doch Mum wurde fürchterlich böse und ließ mich die Dosen nicht öffnen.
»Sapphy hat eben eine lebhafte Fantasie«, sagte Dad.
»Hör auf, alles mitzumachen, Mathew. Sie muss endlich den Unterschied zwischen Fantasie und Wirklichkeit begreifen. «
Doch manchmal sind Fantasie und Wirklichkeit nur schwer auseinander zu halten, und das Leben ist einfacher, wenn man die Realität ein bisschen ausschmückt …
»Wo ist Conor jetzt, Mum?«, frage ich beiläufig.
»Der ist mit Roger mit dem Boot rausgefahren. Sie wollten den neuen Motor ausprobieren und die Wassertiefe bei den Bawns messen. Du weißt doch, dass Roger später dort tauchen will. Warum gehst du nicht erst mal nach oben, Sapphy, ziehst dir trockene Sachen an und räumst dein Zimmer auf, während ich mit dem Bügeln weitermache. Und vielleicht könntest du die Wäsche für mich sortieren. Ich muss noch eine Maschine waschen, ehe die Jungs zurückkommen. «
Die Jungs, denke ich ärgerlich. Als würde Roger schon zur Familie gehören. Ich denke angestrengt nach, während ich langsam die Treppe hinaufgehe. Roger will also an verschiedenen Orten die Wassertiefe testen, um herauszufinden, ob man dort tauchen kann. Die Bawns sind ein großes Riff, das ungefähr eine Meile vor der Küste liegt. Das Riff befindet sich größtenteils unter Wasser, doch einige Felsen ragen auch über die Oberfläche hinaus. Ihr sichtbarer Teil ist schwarz und zerklüftet, doch was man nicht sehen kann, ist die Reihe der Felsen, die wie scharfe Zähne unter der Oberfläche liegen. Diese verborgenen Felsen sind am gefährlichsten. In früherer Zeit, als die Schifffahrtswege noch dichter an der Küste vorbeiführten als heute, wurden die Schiffe manchmal von Wind und Gezeiten auf das Riff zugetrieben und zerschellten dort nachts oder bei Nebel.
Bei schlechtem Wetter wird das Riff von der tosenden Brandung verborgen. Wenn sich die Wellen an den Felsen brechen, schießt die Gischt in die Höhe, als würden die Steine selbst das Wasser ausstoßen, wie Wale. Ich schaudere bei dem Gedanken, dort schwimmen zu müssen. Dad hat mir mal erzählt, dass ein Junge am Morgen nach einem Schiffbruch in unserer Bucht gefunden wurde. Er war an den Strand geworfen worden und hielt sich immer noch an einem glitschigen Holzstück fest. Die Menschen, die ihn fanden, konnten seine Finger nicht davon lösen.
Rätselhafterweise war der Junge immer noch am Leben. Sie schlugen ihn in Wolldecken ein, trugen ihn die Klippen hinauf, entzündeten oben am Weg ein Lagerfeuer, an dem er sich wärmen konnte, und flößten ihm Weinbrand ein. Doch wurde seine Sprache von niemandem verstanden. Sie haben nie herausgefunden, aus welchem Land er kam. Sie nannten ihn Petrus, weil der heilige Petrus in der Bibel ebenfalls nach einem Schiffbruch gerettet worden war. Die Treveals haben ihn damals bei sich aufgenommen und so wuchs er gemeinsam mit ihren Kindern auf. Er liegt heute auf dem Friedhof begraben.
Als das Schiff unterging, war Petrus in meinem Alter gewesen. Er war der einzige Überlebende des Unglücks. Niemand hat je herausgefunden, woher das Schiff kam oder welche Fracht es mit sich führte. Auch nachdem er Englisch gelernt hatte, sprach er nie über den Untergang oder sein früheres Leben. Auf seinem Grabstein steht, er sei 1852 gestorben. Er heiratete Miriam Treveal und bekam acht Kinder mit ihr. Von diesen acht Kindern hatte wiederum jedes acht Kinder, die ihrerseits acht Kinder hatten und so weiter… So hat es mir Dad erzählt. Also haben alle Leute in dieser Gegend zweifellos einen Tropfen vom Blut des geretteten Jungen in sich.
Selbst an einem ruhigen Tag würde Dad die Bawns meiden.
»Mach immer einen großen Bogen um das Riff, Sapphire, auch wenn du eines Tages alt genug sein wirst, um allein mit dem Boot rauszufahren. Dieser Ort hat zu viel Macht und einen unstillbaren Hunger nach Booten und Menschenf leisch. Ihm zu nahe zu kommen, heißt seinen Kopf in den Rachen eines Wolfs zu legen.« Nachdem Dad das gesagt hatte, konnte ich am äußersten der Felsen stets den Kopf eines Wolfs erkennen. Selbst beim Fischen sind wir dem Riff nie zu nahe gekommen. Doch jetzt hat Roger Conor dorthin mitgenommen. Und Conor muss einverstanden gewesen sein, obwohl er genau weiß, wie gefährlich es ist.
Ich eile die Treppe hinunter. »Hast du Roger denn nicht gesagt, dass er Conor nicht dorthin mitnehmen soll?«
»Roger ist ein sehr erfahrener Taucher, Sapphy. Er kann die Risiken schon richtig einschätzen.«
»Aber er kennt die Küste doch längst nicht so gut wie wir. Das Riff ist gefährlich.«
Ein Anflug von Unsicherheit huscht über Mums Gesicht, doch sie nimmt sich zusammen und entgegnet leichthin: »Bei Roger kann Conor nichts passieren. Außerdem ist die See heute vollkommen ruhig. Hast du eigentlich schon die Wäsche sortiert? Ich will mit der weißen anfangen.«
»Aber Mum, sie sollten da nicht hinfahren!« Doch sie hört mir nicht zu. Ich kann nicht verstehen, dass ausgerechnet sie, die so große Angst vor dem Meer hat, das erlaubt hat. Sie, die jedes Mal, wenn Dad mich mitnehmen wollte, behauptete, es würde ein Sturm aufziehen. Ich erinnere mich noch genau, wie heftig sie mich immer an sich drückte, wenn wir vom Fischen und Fotografieren zurückkamen. Sie war so erleichtert, dass ich fast keine Luft mehr bekam.
Mum hat sogar den hinteren Raum als Schlafzimmer für sich gewählt, weil er nicht zum Meer hinausgeht.
Und jetzt lässt sie es ohne weiteres zu, dass Roger Conor mit hinausnimmt, obwohl er nahezu ein Fremder ist und nicht annähernd so viel über diese Küste und ihre Strömungen weiß wie Dad. Dad kannte das Meer fast ebenso gut wie die Mer.
Aber daran darf ich jetzt nicht denken. Ich darf Mum gegenüber kein Wort über Indigo oder die Mer verlieren. Sie würde das nicht verstehen und nur noch größere Angst vor dem Meer bekommen.
»Wie lange sind sie schon weg, Mum?«
»Mein Gott, Sapphy, jetzt hör auf, so ein Theater zu machen! Conor kann nichts passieren. Roger hat seine vollständige Rettungsausrüstung und sein Handy dabei.«
»Da draußen hat man aber keinen Empfang.«
»Sie testen doch nur den Motor, messen die Wassertiefe und kommen wieder zurück. Und dann werden wir zusammen Tee trinken.«
Ich kann es nicht glauben. Bei Mum klingt das wie eine Geschichte von Enid Blyton: erst ein kleines Abenteuer und dann nach Hause zum Teetrinken. Aber so ist Indigo nicht. Sie waren überhaupt nicht in der Nähe des Riffs, als ich Roger gesehen habe, hätte ich am liebsten gesagt. Sie waren viel weiter draußen. Den Motor testen? Dass ich nicht lache! Doch nie im Leben könnte ich Mum davon erzählen, wie ich mich im Sonnenwasser treiben ließ und plötzlich den Schatten von Rogers Boot über mir spürte.
»Da sind sie ja!«, sagt Mum und eilt zur Tür. Sie kann ihre Erleichterung nicht völlig verbergen. Sie hat ihre Schritte und Stimmen früher gehört als ich. Rogers dunkle Stimme murmelt etwas und Conor antwortet. Mum errötet leicht. Ein sanftes Lächeln umspielt ihre Mundwinkel, und ich weiß, dass sie glücklich ist, weil Roger und Conor sich gut verstehen. So ist Conor eben. Er tut sich immer leicht, Freunde zu finden.
Conor und Roger ziehen draußen ihre Schuhe aus. Ich bleibe drinnen.
»Ist Saph schon zurück?«, fragt Conor. Ich höre die Sorge in seiner Stimme und frage mich, ob Mum sie auch hört.
»Ja, sie ist in der Küche«, antwortet Mum unbeschwert, während sie nach draußen geht, um die beiden zu begrüßen.
»Wann ist sie zurückgekommen?«
»Erst vor kurzem. Du hast Recht gehabt, sie war mit Sadie spazieren. Und ihr beide hört euch so an, als hättet ihr eine schöne Zeit miteinander verbracht.«
»Das haben wir auch«, bestätigt Roger entschieden. »Das gilt zumindest für mich. Es war eine Freude, dich dabeizuhaben, Conor.«
Was für ein Speichellecker. Aber dann höre ich Conors Stimme. »Ja, es hat Spaß gemacht. Können wir das bald wiederholen? «
»Kein Problem«, antwortet Roger. »Ich bin dankbar, dass sich jemand in dieser Gegend auskennt. Ohne Conor hätte sich das Boot schon beim Ablegen ein paar Kratzer geholt, Jennie.«
Conor entgegnet, dass Roger auch ausgezeichnet allein klargekommen wäre. Alle drei lachen. Dann treten sie durch die dunkle Tür und blinzeln, wie alle das tun, die stundenlang auf See dem hellen Sonnenlicht ausgesetzt waren. Da meine Augen bereits an die Lichtverhältnisse im Haus gewöhnt sind, kann ich Rogers Gesicht klar erkennen. Es zuckt leicht zusammen, als er mich sieht, obwohl er sich zu beherrschen versucht. Er tritt näher und gibt sich offenbar Mühe, mich nicht unentwegt anzustarren. Doch genau das tut er. Er mustert mein Gesicht und scheint es mit seiner Erinnerung zu vergleichen. Vermutlich versucht er, sich davon zu überzeugen, dass seine Sinne ihm einen Streich gespielt haben müssen.
»Hallo, Roger!«, sage ich fröhlich. Mum wirft mir einen dankbaren Blick zu, weil ich ihm endlich freundlich gegenübertrete, anstatt mir einzureden, ich könne ihn nicht ausstehen.
»Lasst uns ins Wohnzimmer gehen«, sagte sie. »Ich habe Tee gemacht und einen Walnusskuchen gebacken.«
»Mmh, Tee und Walnusskuchen, ich kenne nichts Besseres! «, ruft Roger enthusiastisch. Doch er starrt mich immer noch an, während sich eine Falte auf seiner Stirn abzeichnet. Vielleicht wird er Tee und Walnusskuchen ein bisschen weniger genießen, als Mum gehofft hatte.
Doch Roger ist nicht der Einzige, der mich mustert. Conor wirft mir einen wissenden Blick zu. Oben!, signalisieren mir seine stummen Lippen. Laut sagt er: »Bin gleich wieder da, Mum. Zieh mir nur schnell eine andere Hose an. Die hier ist im Boot nass geworden.«
Aber Conors Jeans ist trocken. Eine weitere Lüge von ihm. Ich folge ihm die Stufen hinauf. Wenn er so weiterlügt, wird es nicht mehr lange dauern, bis die Leute aufhören, ihm Glauben zu schenken.
»Hast du völlig den Verstand verloren?«, raunt er mir zu, als wir die oberste Stufe erreichen. Er packt meinen Arm und dreht mich zu sich herum.
»Leise, Conor, sie können uns hören. Außerdem tust du mir weh!«
»Unsinn!«, sagt Conor. »Ich würde dir niemals wehtun, Saph. Aber du musst total verrückt sein. Erstens: Du warst schon wieder in Indigo, sogar allein. Wie oft habe ich dich davor gewarnt!«
»Das war doch völlig okay. Diesmal gab es fast keinen Unterschied zwischen der Indigozeit und unserer Zeit.«
»Ja, diesmal hast du Glück gehabt«, entgegnet Conor grimmig. »Und auch ich hatte ein sicheres Gefühl – ich weiß gar nicht, warum. Ich war nicht so besorgt wie beim letzten Mal. Also habe ich Mum erzählt, dass Jack dich gefragt hätte, ob du mit Sadie spazieren gehen kannst, weil er surfen wollte.«
»Oh, Conor, du bist so ein schlechter Lügner. Heute ist doch gar kein Wind.«
»Ach, darüber wird Mum bestimmt nicht nachgedacht haben. Diesmal bist du gerade noch davongekommen. Jedenfalls fast. Roger hat dich gesehen. Und jetzt versucht er, sich einzureden, er hätte nur eine Luftspiegelung gesehen. Als sei dein Abbild infolge der besonderen Wetterbedingungen und Lichtverhältnisse durch die Luft geflimmert und als Reflexion unter Wasser wieder sichtbar geworden.«
»Wie soll das denn gehen?«
»Keine Ahnung. Das hört sich aber nicht weniger fantastisch an als die Behauptung, dich unter Wasser mit einem breiten Lächeln im Gesicht gesehen zu haben. Atmen musstest du auch nicht. Außerdem warst du meilenweit von der Küste entfernt.«
»Hast du mich auch gesehen?«
»Nein. Zuerst hatte er mir gar nichts erzählt. Ich dachte mir schon, dass etwas nicht stimmt, weil er plötzlich sehr leise und angespannt war. Aber ich kenne ihn nicht gut genug, um nachzufragen. Erst nach einer Weile hat er sich zu mir umgedreht und gesagt, er hätte etwas gesehen, das einfach nicht sein könne, nämlich ein Mädchen unter Wasser. Das Mädchen sei nicht ertrunken gewesen, sondern habe zu ihm aufgeblickt. Dann hat er gesagt: ›Du wirst es nicht glauben, Conor, aber sie hat genauso ausgesehen wie deine Schwester. Sie hätte ihre Zwillingsschwester sein können.‹ Und dann hat er mit dem ganzen Zeug von der Krümmung des Lichts und der Reflexion unter Wasser angefangen. Aber ich wusste, dass er selbst nicht daran glaubte, sondern nur nach irgendeiner Erklärung suchte. Also habe ich ihm erzählt, dass es in dieser Gegend schon immer viele Meerfrauen gegeben habe und eine vielleicht deine Zwillingsschwester sei. Darüber hat er gelacht.«
»Er hat über die Mer gelacht?«
»Sapphire, bitte! Ich habe versucht, ihn zum Lachen zu bringen. Ich wollte, dass er alles für eine Sinnestäuschung hält und die ganze Geschichte als Unsinn abtut. ›Jedenfalls weiß ich genau, dass deine Schwester keine Meerfrau ist‹, hat er gesagt. ›Ich habe sie laufen sehen und sie hat definitiv zwei Füße gehabt.‹«
Unwillkürlich schaue ich nach unten, um mich davon zu überzeugen, dass meine Füße noch da sind. Und richtig, dort sehe ich sie in meinen Turnschuhen. Ganz ruhig, Sapphire. Conor ist auf deiner Seite. Er versucht nur, Roger davon zu überzeugen, dass er dich unmöglich unter Wasser beim Sonnenbaden gesehen haben kann.
»Es tut mir so Leid, Conor«, sage ich. »Ich weiß, dass ich Unrecht hatte.«
»Wovon redest du?«
»Von Dad. Natürlich hoffst du immer noch, dass er zurückkommt. «
»Natürlich tue ich das«, entgegnet Conor ungeduldig, als hätte er unseren Streit längst vergessen. »Aber trotzdem, Saph …«
»Was?«
»Trotzdem brauchst du Roger gegenüber nicht so abweisend zu sein. Er ist wirklich okay.«
»Ist er nicht! Er ist ein Taucher. Er ist ein Feind der Mer.«
Conor schweigt eine Weile. Er sieht mich aufmerksam an und sagt schließlich leise:
»Aber du bist keine Mer, Sapphire. Du bist ein Mensch, so wie Mum, Roger und ich.«
»Ich bin nicht wie Roger!«, bricht es aus mir heraus.
»Aber du bist wie ich, oder?«, fährt Conor fort. Er spricht immer noch sehr leise, als wäre er sich nicht ganz sicher, wie ich reagiere. »Wir sind Bruder und Schwester und haben dieselben Gene. Menschliche Gene, Saph.«
»Ja«, sage ich unsicher. Natürlich gehöre ich zu Conor, meinem Bruder. Aber ich erinnere mich auch, was ich zu den Delfinen gesagt habe: Ich gehöre doch auch zu Indigo. Auch wenn Faro Recht damit hat, dass ich von Indigo nicht mehr als ein Sandkorn kenne, so fühle ich mich dort nicht fremd. In Indigo fühle ich mich anders. Lebendiger. So … wie ich wirklich bin.
»Sag mir ganz ehrlich, Con, glaubst du wirklich, dass wir hundertprozentig an Land gehören und kein bisschen Mer in uns haben? Ich meine, du und ich.«
»Aber, Saph. Was sollen wir denn anderes sein als Menschen? Wir haben eine menschliche Mutter und einen menschlichen Vater. Das macht auch uns zu hundertprozentigen Menschen. Warum willst du unbedingt etwas anderes glauben?«
»Ich weiß es nicht.« Plötzlich fühle ich mich sehr müde. Conor steht direkt neben mir, doch scheint er weit weg zu sein. »Ich weiß nicht, warum ich es glaube, aber es ist eben so. In Indigo fühle ich mich frei. Ich kann überall hinschwimmen …«
»Ja, solange du an Faros Handgelenk hängst«, erwidert Conor sarkastisch. »So viel Freiheit kann ich darin nicht erkennen. «
»Aber das brauche ich gar nicht mehr.«
»Was? Das brauchst du nicht mehr?«, wiederholt Conor langsam. »Natürlich … wenn du immer noch sein Handgelenk festhalten würdest, dann hätte Roger auch Faro gesehen. Du kannst also selbstständig atmen und dich frei bewegen, wenn du da unten bist?«
»Aber ja. Nur wenn es richtig schnell gehen soll, fasse ich um Faros Handgelenk, oder wir reiten auf Delfinen.«
»Du hättest nie dorthin zurückkehren dürfen, Saph. Es ist gefährlich. Und es verändert dich. Es zieht dich jedes Mal tiefer hinein. Das habe ich dir schon letztes Mal zu sagen versucht. Warum hörst du mir nicht zu?«
»Warum hörst du mir nicht einmal zu, Conor? Du hättest heute mitkommen sollen. Du weißt noch gar nicht, wie das ist. Wir sind auf den Delfinen geritten und ich habe fast ihre Sprache verstanden. Es tut überhaupt nicht mehr weh, nach Indigo zu gelangen – nicht wie beim ersten Mal. Außerdem können Faro und ich …« Fast hätte ich mich verplappert. Fast hätte ich hinausposaunt, dass Faro meine Gedanken lesen kann.
»Was könnt ihr?«
»Ach, nichts.«
»Was könnt ihr?«
»Es ist nichts, Conor. Jetzt schau mich nicht so an. Es ist nur, dass er… ich meine, dass wir… unsere Gedanken lesen können. Er sieht meine Gedanken und ich sehe seine. Das ist wie bei den Fischen, die in den Schwärmen ihre gemeinsame Erinnerung bewahren. Hast du das gewusst?«
»Ich kann nicht glauben, was ich da höre, Sapphire. Du – bist – kein – Fisch. Du bist auch nicht teilweise ein Fisch. Begreif das endlich! Du bist meine Schwester und du lebst in Senara Churchtown, West Penwith, Cornwall, auf der Erde, im Universum. Nicht in diesem verdammten Indigo!«
»Schade, dass Mum dich nicht fluchen hört.«
»Schwimm doch gleich zu ihr und erzähl es ihr. Vorausgesetzt, du bist der menschlichen Sprache noch mächtig. Mum kann deine Gedanken nicht lesen, so wie Faro. Sie ist ein Mensch.«
»Conor, lass uns nicht …«
»Was?«
»Lass uns nicht streiten.«
»Ich streite doch gar nicht.«
»Ich auch nicht.«
Nase an Nase, nicht streitend, wissen wir nicht, was wir noch sagen sollen. Doch auch schweigend weiß ich, dass sich etwas verändert hat. Conor ist wieder mein Freund. Das hört sich vielleicht merkwürdig an — warum sollte mein Bruder nicht mein Freund sein?
»Wie dem auch sei, Saph«, sagt Conor nach einer Weile, »ich werde wieder mit Roger hinausfahren. Ich will wirklich tauchen lernen. Roger will einen Kurs für mich organisieren. Er hat einen Kumpel, der das umsonst macht, weil er ihm noch einen Gefallen schuldig ist. Roger macht wirklich interessante Dinge. So was will ich später auch machen.«
»Es ist gefährlich«, sage ich, bevor mir klar wird, dass ich Conors Worte wiederhole. »Die Mer wollen das nicht. Und in ihrer eigenen Welt – in Indigo – sind sie mächtig. Wir nicht.«
»Ja, ja, ich weiß. Würdest du bitte aufhören, wie das Staatsfernsehen von Indigo zu klingen. Hör zu, Roger will doch niemandem Schaden zufügen. Er arbeitet nicht für eine Ölgesellschaft oder so etwas. Er weiß sehr viel über Meeresökologie. Das Meer liegt ihm am Herzen. Du solltest mal mit ihm darüber reden.«
»Fahr nicht mit ihm raus, Conor.«
»Warum denn nicht? Du bist doch selbst ständig mit Dad aufs Meer rausgefahren und nie ist etwas passiert. Und mir auch nicht. Wo soll da der Unterschied liegen?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe so ein Gefühl, als ob … als ob gleich das Wetter umschlägt, obwohl die Sonne noch scheint. Der Sturm braut sich schon über dem Meer zusammen und man spürt den Druck in seinem Kopf.«
»Okay, ich verspreche dir, dass ich zu Hause bleibe, wenn auch nur das kleinste Anzeichen auf schlechtes Wetter hindeutet«, sagt Conor.
Doch ich habe nicht von schlechtem Wetter gesprochen. Ich meinte eine andere Art von Sturm. Ach, wenn ich für meine Angst doch nur die richtigen Worte fände, damit Conor mich versteht.
»Und Roger macht das genauso. Er ist sehr vorsichtig. Als Taucher muss man das sein. Komm, Saph, lass uns wieder nach unten gehen.«
Jedenfalls wird Conor in nächster Zeit nicht mit Roger hinausfahren, also bleibt mir noch etwas Zeit, ihn zu überzeugen.
»Beeil dich, Saph, Mum wartet auf uns.«
»Tut sie nicht. Sie ist glücklich, Roger für sich allein zu haben. Außerdem würde ich an deiner Stelle noch die Jeans wechseln.«
»Warum?«
»Weil du Mum gesagt hast, dass sie nass ist. Außerdem ist es von Vorteil, wenn sie weiterhin glaubt, dass zumindest einer von uns die Wahrheit sagt.«