Zweites Kapitel

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Spät am nächsten Morgen erwache ich durch den Geruch von Essen. Dad ist in der Küche und brät Pilze in einer gusseisernen Pfanne. Er pfeift leise durch die Zähne. Mum knallt Messer in die Schublade.

»Er ist erst um acht Uhr morgens nach Hause gekommen«, flüstert Conor mir zu.

Die Stimmung in der Küche ist gereizt. Conor und ich ziehen uns mit einer Schale Haferflocken ins Wohnzimmer zurück. Während wir essen, beginnen sie wieder zu streiten. Ihre Stimmen schwellen an: »Bist du verrückt, Mathew, nachts mit dem Boot rauszufahren, nachdem du getrunken hast?«

»Ich bin nicht mit dem Boot rausgefahren.«

»Lüg mich nicht an. Ich rieche das Meer an dir. Schau nur, wie durchnässt deine Sachen sind. Es reicht dir wohl nicht, dein Leben zu riskieren, indem du im Dunkeln in den Klippen herumkletterst, nein, du musst auch noch das Boot nehmen. Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugemacht. Hast du völlig den Verstand verloren?«

Dad kontert mit derselben Schärfe: »Ich weiß genau, was ich tue. Willst du etwa für den Rest deines Lebens an Land bleiben, Jennie? Wenn du bloß einfach mitkommen würdest …«

Seine Stimme bricht ab. Er ist genauso böse auf Mum wie sie auf ihn. Aber warum? Dad weiß, dass Mum das Meer nicht ausstehen kann. Sie setzt sich nie in ein Boot und ausnahmsweise bin ich froh darüber. Ich fange an zu zittern, wenn ich mir vorstelle, dass beide im Dunkeln hinausfahren könnten – so weit, dass sie mich nicht hören würden, so laut ich auch riefe.

»Du weißt genau, warum ich nicht mitkomme«, sagt Mum. »Ich habe allen Grund, mich vom Meer fern zu halten.« Ihre Stimme klingt bedeutungsschwer. Wir sind so vertraut mit Mums Abneigung gegen das Meer, dass wir nie nach dem Grund fragen, doch plötzlich möchte ich mehr wissen.

»Warum fährt Mum eigentlich nie mit der Peggy Gordon ?«, flüstere ich Conor zu. Immer, absolut immer ist Dad es gewesen, der Conor und mich mit aufs Meer genommen hat, während Mum zu Hause blieb. Conor zuckt die Schultern, doch plötzlich sehe ich in seinem Gesicht, dass er mir etwas verheimlicht.

»Na, sag schon, Conor! Bloß weil ich die Jüngste bin, will mir nie jemand was erzählen.«

»Genau haben sie’s mir auch nicht gesagt.«

»Aber du weißt etwas.«

»Ich habe mal gehört, wie sie sich unterhalten haben«, räumt Conor widerwillig ein. »Mum hatte gesagt, dass sie am Sonntag einen Hasenrücken zubereiten wollte.«

»Hase? Igitt! Das würde ich nicht essen.«

»Das hat Dad auch gesagt. Er sagte, Hase essen bringt Unglück. Aber Mum war das egal. Sie meinte, sie wäre nicht abergläubisch. Darauf hat Dad gesagt, sie wäre die abergläubischste Person, die er jemals kennen gelernt hat. Und Mum sagte: ›Nur in einem Punkt, Mathew. Und ich habe einen guten Grund, das Meer zu fürchten.‹«

»Was meinte sie damit? Einen guten Grund?«

»Ich habe Dad später danach gefragt. Ich sagte, sie hätten so laut gesprochen, dass ich ihr Gespräch unfreiwillig mit angehört habe. Erst wollte er mir nichts sagen, aber dann hat er es mir doch erzählt. Er sagte, Mum wäre mal bei einer Wahrsagerin gewesen und danach hätte sie sich nie wieder aufs Wasser hinausgewagt. Das ist schon Jahre her, aber sie hat es wirklich nie wieder getan. Nicht ein einziges Mal.«

»Was hat die Wahrsagerin gesagt?«

»Dad wollte es mir nicht erzählen. Es muss aber was Schlimmes gewesen sein.«

»Vielleicht hat sie prophezeit, dass Mum eines Tages ertrinken wird.«

»Ach, was, Saph! So was würde eine Wahrsagerin nie prophezeien. Sie werden eines Tages ertrinken. Das macht zehn Pfund, bitte.«

»Aber sie muss Mum irgendwas Schreckliches erzählt haben. Sonst würde sich Mum doch nicht für den Rest ihres Lebens weigern, ein Boot zu besteigen.«

»Bitte, Saph, hör auf damit, sonst wäre mir lieber, ich hätte es dir nie erzählt. Sie dürfen nicht merken, dass du es weißt. Dad sagte, ich soll es dir nicht erzählen, damit du keine Angst kriegst.«

Die Stimmen von Dad und Mum werden wieder lauter. Warum müssen sie nur immer so viel streiten? Ich streite mich fast nie mit Conor.

»Ich geh jetzt rein und mache uns einen Toast, dann hören sie auf«, sagt Conor.

»Ich komm mit.«

Mum und Dad stehen am Herd. Sie verstummen, als sie uns sehen, aber die Luft ist aufgeladen von all den hässlichen Dingen, die sie gesagt haben. Wenn der Streit von Erwachsenen einen Geruch hätte, denke ich manchmal, dann würde er nach verbranntem Essen riechen. Dads Pilze sind schwarz und verschrumpelt. Als er bemerkt, dass ich sie anstarre, nimmt er die Pfanne in die Hand, kratzt die verbrannten Pilze zusammen und befördert sie in den Mülleimer.

Was für ein Jammer. Ich liebe Pilze.

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An diesem Abend radeln Conor und ich zu Conors Freund Jack. Wir bleiben länger bei ihm als geplant, weil Jacks Labradorweibchen drei Junge bekommen hat. Bisher konnten wir mit ihnen nicht spielen, weil sie noch zu klein waren, doch jetzt sind sie sieben Wochen alt. Jack lässt uns jeder einen Welpen auf den Arm nehmen. Ich bekomme eine kleine, pummelige Hündin. Sie zappelt, schnuppert an meinen Fingern und schleckt sie ab, während aus ihrer Kehle hohe, piepsende Laute kommen. Sie ist so niedlich. Conor und ich wollten schon immer einen Hund haben, doch bis jetzt ist unser Wunsch nicht in Erfüllung gegangen.

»Du bist das süßeste Hundebaby auf der ganzen Welt«, flüstere ich ihr zu, während ich sie dicht an mein Gesicht halte. Sie hat ein lustig abgeknicktes linkes Ohr und sanfte, neugierige braune Augen. Wenn ich mir einen Welpen aussuchen dürfte, dann würde ich sie wählen. Sie rümpft die Nase und stößt ein kleines Welpenniesen aus, bevor sie ihre Schnauze unter meinem Kinn vergräbt. Ich glaube, sie hat sich schon für mich entschieden.

Poppy, die Hundemutter, kennt Conor und mich. Deshalb hat sie auch nichts dagegen, dass wir mit ihren Kindern spielen.

Dennoch bleibt sie in unserer Nähe, sieht uns zufrieden, stolz und wachsam zu. Jedes Mal wenn eines der Kleinen sich davonstehlen will, trägt Poppy es sofort zurück ins Körbchen. Ich liebe die Art, wie Poppy ihr Maul ganz weich macht, um die Welpen im Genick packen zu können.

Wir vergessen die Zeit. Als wir wieder daran denken, ist es schon spät, und wir müssen uns beeilen.

»Schnell, Saph! Mum flippt aus, wenn wir noch später kommen!«

Conor rast davon. Mein Fahrrad ist zu klein für mich, und selbst wenn ich strampele wie eine Verrückte, fahre ich nicht besonders schnell. Wenn Conor ein neues Fahrrad kriegt, dann bekomme ich seins. Vielleicht wird es Weihnachten so weit sein.

»Warte!«, rufe ich ihm nach, aber Conor ist schon auf und davon. An der letzten Kurve wartet er auf mich.

»Du bist so langsam!«, motzt er, als wir den letzten Abhang nebeneinander herfahren.

»Ich bin genauso schnell wie du. Nur mein Fahrrad ist langsam«, sage ich. »Wenn ich dein Fahrrad hätte …« Conor hat mir schon versprochen, sein Fahrrad für mich anzumalen, wenn er ein neues bekommt, und die Lichter kann ich auch behalten. Die Farbe darf ich mir aussuchen.

Wir erreichen das Tor, dort, wo der abschüssige Weg an unserem Haus vorbeiführt. Unser Haus ist nicht das einzige in dieser Gegend, aber unsere Nachbarn wohnen ein gutes Stück entfernt. Abends sieht man die Lichter der anderen Häuser vor dem dunklen Hang. Unser Haus liegt dem Meer am nächsten.

»Schau mal, da ist Mum. Was macht sie da?«, fragt Conor plötzlich.

Sie ist auf einen Zaunpfosten geklettert, der sich gegenüber von unserem Haus befindet. Ihre Silhouette zeichnet sich vor der Dämmerung ab. Sie steht vorgebeugt da, als würde sie nach etwas Ausschau halten.

»Irgendwas stimmt da nicht«, sagt Conor, lässt sein Fahrrad am Wegesrand fallen und beginnt zu laufen. Als ich auch meines hinlege, verhaken sich die Lenker. Ich kriege sie nicht auseinander und lehne beide Fahrräder gegen die Mauer. Eigentlich will ich auch zu Mum rennen, aber irgendwas hält mich davon ab. Ich zögere. Ich habe das beklemmende Gefühl, dass Conor Recht hat. Irgendwas stimmt da nicht. Irgendwas ist passiert.

 

So begann eine lange Nacht. Die längste Nacht meines Lebens, obwohl die Nächte im Sommer eigentlich kurz sind.

Niemand von uns geht ins Bett. Zunächst sitzen wir alle am Küchentisch und warten. Immer wieder nicke ich ein. Dann sinkt mein Kopf auf die Brust, und ich zucke zusammen, kurz bevor ich vom Stuhl kippe. Mum nimmt davon keine Notiz und sie schickt mich auch nicht ins Bett. Sie starrt unentwegt die Tür an, als würde Dad jeden Moment hereinkommen.

»Dad fährt doch oft noch spät mit dem Boot raus«, wiederholt Conor störrisch, während die Stunden vergehen. Zehn Uhr, elf Uhr …

»Aber nicht so spät«, sagt Mum. Ihre Lippen bewegen sich kaum. Ich weiß, dass sie Recht hat, und Conor weiß es auch. Irgendwas ist passiert. Wenn er fischen geht, dann meistens mit Badge oder Pete zusammen. Manchmal ist er auch allein unterwegs, aber er würde nie, wirklich nie so einfach verschwinden, ohne uns zu sagen, wo er hinwill. Oft helfen wir ihm, das Boot zu beladen, und sehen ihm zu, wie er bei Flut hinausfährt.

Aber diesmal hat Dad nichts gesagt. Er hat den ganzen Nachmittag im Garten gearbeitet. Mum hat ihn singen gehört.

Sie hat sich für eine halbe Stunde hingelegt, weil ihr der Schlaf der letzten Nacht fehlte. Als sie aufwachte, stand die Sonne schon tief. Sie hat nach Dad gerufen, doch es kam keine Antwort. Sie ging ein Stück den Weg hinunter und rief erneut, doch wieder blieb alles ruhig. Unsere Nachbarin, Mary Thomas, kam aus ihrem Haus.

»Ist was nicht in Ordnung, Jennie?«, fragte sie. »Ich habe gehört, wie du nach Mathew gerufen hast.«

»Doch, doch, alles in Ordnung«, antwortete Mum. »Ich weiß nur gerade nicht, wo er ist. Vielleicht repariert er irgendwas am Boot. Ich geh mal zur Anlegestelle und schau nach.«

Eine merkwürdige Vorstellung, dass Mum den ganzen Weg allein bis zur Bucht gegangen ist, so nah ans Meer! Es muss ihr Angst gemacht haben, aber sie tat es. Als sie über einen Stein klettern wollte, ist sie ausgerutscht und hat sich die Hand an einer Muschelschale aufgeschnitten. Ihre Jeans ist voller Blutflecken. So schnell, wie sie nur wagte, ist sie weitergehastet, bis sie sehen konnte, dass an der Anlegestelle kein Boot festgemacht war. Es herrschte Flut, doch der Gezeitenwechsel stand unmittelbar bevor. Mum hat immer wieder seinen Namen gerufen, obwohl ihr doch klar sein musste, dass Dad nicht da war. Sie konnte einfach nicht aufhören zu rufen.

»Ich hatte das Gefühl, dass Mathew in der Nähe war. Er wollte zu mir kommen, aber er konnte es nicht.«

All das hat uns Mum nicht erzählt, als wir um den Küchentisch saßen. Erst viel später in dieser Nacht, nachdem sie uns ins Bett geschickt hat, sitzen wir auf den Treppenstufen und lauschen ihrem Gespräch mit Mary Thomas. Ihr erzählt sie alles, was sie uns nicht erzählt hat – von ihrem ewigen Rufen nach Dad, weil sie dachte, er sei ganz in der Nähe, und dass er nicht zu ihr kommen konnte, obwohl er es wollte.

Als der Morgen dämmert, ist Dad immer noch nicht zurück. Mary Thomas sitzt bei Mum in der Küche. Conor und ich hocken immer noch auf den Stufen, warten und lauschen. Irgendwann muss ich eingeschlafen sein, denn als ich aufwache, hat Conor seinen Arm um mich gelegt. Ich bin völlig steif, mein Kopf schmerzt und das Gefühl einer schrecklichen Angst ist stärker als je zuvor.

Mum hat gesagt, dass Dad am Morgen zurück sein würde. Aber jetzt ist es Morgen und er ist nicht da. Ein Murmeln dringt durch die geschlossene Küchentür, und wir müssen uns sehr anstrengen, um Mums Worte zu verstehen.

»Ich weiß nicht, was ich tun soll, Mary!«, sagt sie. Wir können die Panik in ihrer Stimme hören. Ich warte darauf, dass Mary ihr sagt, sie solle sich beruhigen, weil Dad doch schon tausendmal mit dem Boot rausgefahren ist, ohne dass je etwas passiert wäre. Aber das tut Mary nicht. Während das Morgenlicht langsam in unser Haus dringt, sagt sie: »Ich denke, wir sollten jetzt die Küstenwache verständigen, Jennie.«

»Komm, Saph«, sagt Conor. Als er aufsteht, sieht sein Gesicht plötzlich viel älter aus als zuvor. Wir betreten die Küche, und Mum starrt uns so entgeistert an, als wüsste sie nicht, wer wir sind. Sie sieht furchtbar aus.

Mary wendet sich an Conor: »Ich habe gerade zu deiner Mutter gesagt, dass wir die Küstenwache verständigen sollten. Es passt nicht zu deinem Vater, einfach zu verschwinden und deine Mutter im Unklaren zurückzulassen. Es ist jetzt hell genug, um mit der Suche zu beginnen. Selbst wenn er auf See beim Fischen ist, schadet es nicht, wenn die Küstenwache bei ihm vorbeischaut. Ich hol dir jetzt das Telefon, Jennie.«

 

Mit Mums Anruf fängt alles an. Und wenn es erst mal anfängt, kannst du es nicht mehr aufhalten. Ich klammere mich immer noch an die Hoffnung, dass Polizei und Küstenwache sich beschweren werden, wir hätten sie wegen einer so nichtigen Angelegenheit belästigt. Immer mit der Ruhe, eurem Dad geht es gut. Wartet noch ein bisschen, dann wird er bestimmt auftauchen. Aber das sagen sie nicht.

Der Jeep der Küstenwache holpert den Weg hinunter. Leute sprechen in Funkgeräte und Handys. Polizeibeamte drängen in unsere Küche und füllen sie mit ihren Uniformen.

Nachbarn klopfen an die Tür. Mary geht hinaus, um mit ihnen zu reden – leise, damit wir nicht hören, wie sie immer wieder dieselbe Geschichte erzählt. Teebecher stehen auf dem Küchentisch. Einige sind voll, andere halb leer. Die Leute bringen Sandwiches und Kuchen und Kekse vorbei, bis wir mehr haben, als wir je essen könnten. Ich kriege keinen Bissen hinunter. Ich probiere einen Keks, aber er bleibt mir im Hals stecken. Mum hält mir ein Glas Wasser an den Mund, während ich huste und pruste. Die Angst und der Schlafmangel stehen ihr ins Gesicht geschrieben.

Das alte Leben von mir und Dad und Mum und Conor ist abgelaufen wie eine Uhr, die plötzlich stehen bleibt. Ein neues Leben hat begonnen, und ich höre es flüstern: Dein Dad ist weg, dein Dad ist weg, dein Dad ist weg.

Draußen herrscht strahlender Sonnenschein, es wird warm werden. Conor steht unten bei Mum, aber ich gehe hinauf in mein Schlafzimmer, ziehe die Bettdecke eng um mich zusammen, schließe die Augen und versuche, Dad in Gedanken zu uns zurückzubringen. Ich kümmere mich nicht um die Geräusche, die aus der Küche kommen, sondern versuche, mich zu konzentrieren. Wenn du jemand so sehr liebst, dann muss er dich doch hören, wenn du ihn rufst.

»Dad«, sage ich. »Dad, bitte, komm nach Hause. Kannst du mich hören? Ich bin’s, Sapphy. Ich lasse nicht zu, dass Mum böse auf dich ist, wenn du gleich nach Hause kommst.«

Niemand. Nichts. Alles, was ich höre, ist das Rauschen des Blutes in meinem Kopf, weil die Decke um meine Ohren geschlungen ist.

»Bitte, Dad …«

Ich setze mich fröstelnd auf und lausche angestrengt auf die beiden Dinge, die ich lieber als alles andere auf der Welt hören möchte – auf Dads schlagendes Herz, wie ich es hörte, als er mich in der Mittsommernacht nach Hause trug, und auf seine Stimme, die sich in die Sommerluft erhebt, wenn er O Peggy Gordon singt:

O Peggy Gordon, du bist mein Liebling, komm und setz dich auf meinen Schoß…

»Ich heiße nicht Peggy«, habe ich immer gesagt, als ich noch klein war. »Setz dich trotzdem auf meinen Schoß«, entgegnete Dad. Dann fasste er unter meine Ellenbogen und hob mich mit großem Schwung auf seinen Schoß. Ich lachte, und er lachte auch und schwang mich sogleich noch höher in die Luft, immer höher und höher, bis Mum sagte, er solle aufhören, ehe mir total schwindelig sei. Aber sie war ihm nicht böse, sondern lachte ebenfalls.

Wenn man die Zeit doch nur zurückstellen könnte. Oder wenn sie plötzlich in die entgegengesetzte Richtung liefe, wie das Seewasser bei Ebbe. Zurück zu dem Moment, als das Mittsommerfeuer noch nicht entzündet und alles noch in bester Ordnung war. Dann könnten wir alle noch mal von vorne anfangen …

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Die Küstenwache sucht die gesamte Küste ab, doch ohne Erfolg. Sie suchen den ganzen Tag und den nächsten und übernächsten Tag auch. Der Seenotrettungsdienst schickt einen Hubschrauber, der im Tiefflug über Buchten und Klippen hinwegknattert.

Nach zwei Tagen erklärt mir Conor, dass sie die Suche nun langsam zurückfahren. Er erklärt mir, was das bedeutet. Es bedeutet, dass Dad entweder im Wasser oder in den Klippen ist und dass sie nicht mehr damit rechnen, ihn noch lebend zu finden. Zu viel Zeit ist inzwischen vergangen. Der Hubschrauber fliegt nicht mehr und anstelle von Polizeibeamten, Männern der Küstenwache und freiwilligen Helfern befinden sich nur noch Nachbarn in unserer Küche. Dann kehren auch die Nachbarn zu ihrem eigenen Leben zurück, abgesehen von Mary.

Ein paar Tage später meint Mary, wir sollten doch beide wieder zur Schule gehen. Es tue uns nicht gut, ständig zu Hause zu sein und zu warten, immer nur zu warten.

Fünf Wochen darauf macht ein Kletterer mehrere Meilen die Küste abwärts eine Entdeckung. Er findet den Schiffsrumpf der Peggy Gordon, kopfüber zwischen den Felsen verkeilt. Er liest ihren Namen. Die Küstenwache fährt dorthin und ein Team von Tauchern sucht die See in dieser Gegend ab. Von Dad keine Spur. Schließlich bergen sie das Boot aus den Klippen, um es gründlich untersuchen zu können und herauszufinden, was das Unglück verursacht hat. Aber das Boot liefert keinen Anhaltspunkt.

Mum sagt zu uns: »Wir müssen es akzeptieren. Euer Dad hatte einen Unfall.«

»Nein!«, schreit Conor und knallt seine Fäuste auf die Tischplatte. »Nein, nein, nein! Dad würde die Peggy Gordon nie auf diese Art und Weise verlieren. Nicht in einer ruhigen Nacht!« Er stürmt aus dem Haus, schnappt sich sein Fahrrad und verschwindet. Ich vermute, dass er zu Jack fährt. Wie auch immer, jedenfalls kommt er spät nach Hause, und als er in mein Zimmer schleicht, um die Leiter zum Dachboden hochzuklettern, schlafe ich schon halb.

»Conor?«

»Pst.«

»Alles okay. Mum schläft schon. Sie hat den ganzen Abend …«

»Geweint?«

»Nein, vor sich hingestarrt. Ich hasse das.«

»Ich weiß.«

»Wo ist Dad?«

Ich bin immer noch im Halbschlaf, sonst hätte ich diese Frage nie gestellt. Woher soll Conor das wissen, wenn es sonst niemand weiß? Die Frage ist mir einfach so rausgerutscht. Doch Conor ist mir nicht böse. Er geht auf Zehenspitzen zu mir und kniet sich neben mein Bett.

»Ich weiß nicht, was passiert ist, Saph. Aber er ist nicht ertrunken. Da bin ich ganz sicher. Wenn er ertrunken wäre, dann wüssten wir es. Wir würden es fühlen. Wir würden einen Unterschied bemerken, wenn er tot wäre.«

»Ja«, sage ich. Die Erleichterung durchflutet mich. »Du hast Recht. Ich habe auch nicht das Gefühl, dass er tot ist.«

Conor nickt. »Wir werden ihn finden, Saph. Egal, wie lange es dauert. Aber du darfst Mum nichts davon erzählen. Schwöre!«

»Ich schwöre«, entgegne ich und spucke auf meine rechte Handfläche. Conor spuckt auf seine und wir schlagen unsere Handflächen aneinander. Danach schlafe ich ein.

 

In der Kirche wird ein Gedenkgottesdienst für Dad abgehalten. Mum erklärt uns, dass es kein richtiges Begräbnis geben kann, weil Dads Körper nicht gefunden wurde. Er wurde nicht gefunden, weil es nichts zu finden gibt. Dad ist nicht tot, denke ich und weiß, dass Conor dasselbe denkt.

Alle erscheinen in dunkler Kleidung und mit traurigen Gesichtern.

»Oh, meine arme Jennie«, sagen sie und legen Mum den Arm um die Schultern. Manche Frauen küssen mich, obwohl ich darauf wirklich keinen Wert lege. Conor macht ein finsteres Gesicht und verschränkt die Arme, damit bloß keiner auf die Idee kommt, auch ihn zu küssen. Er ist wütend, weil alle wie Schafe zum Gedenkgottesdienst trotten und glauben, Dad sei gestorben, obwohl sein Körper nie gefunden wurde. Die meisten glauben, er sei sehr tapfer, Mum zuliebe.

»Jetzt bist du der Mann im Haus, Conor«, sagt Alice Trewhidden mit ihrer knarrenden, alten Stimme. »Eure Mutter kann sich glücklich schätzen, einen Sohn zu haben, der sich um sie kümmert.« Alice mag nur Jungs, keine Mädchen. In ihren Augen existieren Mädchen gar nicht.

»Conor muss sich um sein eigenes Leben kümmern, Alice«, entgegnet Granny Carne mit Schärfe. Ich habe Granny Carne gar nicht kommen sehen, doch plötzlich steht sie da: groß, stark und gebieterisch. Die Leute weichen respektvoll zurück. Jeder zollt Granny Carne Respekt, als wäre sie eine Königin. »Conor muss seine eigenen Entscheidungen treffen«, fährt Granny Carne fort. »Niemand von uns kann ihm dies abnehmen.«

Die mürrische, scharfzüngige Alice Trewhidden erwidert nichts. Sie murmelt etwas vor sich hin und bewegt sich wie ein Krebs zur Seite, um einen guten Platz zu finden. Sie hat nicht direkt Angst vor Granny Carne, doch sie will sich nicht mit ihr anlegen. Niemand will das.

Ich wundere mich, dass Granny Carne überhaupt zu dem Gedenkgottesdienst gekommen ist. In der Kirche habe ich sie nie zuvor gesehen. Auch alle anderen wirken überrascht. Köpfe werden gedreht, und ein raunendes Echo hallt durch den kühlen Raum, als sie hereinkommt.

Schaut mal, wer da ist!

Wer?

Granny Carne. Kann mich gar nicht erinnern, wann wir sie das letzte Mal in der Kirche gesehen haben.

Ich habe sie in meinem Leben noch nicht hier gesehen und ich lebe schon ziemlich lange, grummelt Alice Trewhidden.

Granny Carne geht nicht weit in die Kirche hinein. Sie bleibt nahe am Eingang stehen, sieht sich um und lauscht. Vielleicht hört sie all das Brummen und Murmeln, aber sie lässt sich nichts anmerken. Wie üblich trägt sie ihre schäbigen, erdfarbenen Kleider, doch ihr klatschmohnroter Schal leuchtet durch das gesamte Kirchenschiff.

Granny Carne ist eine groß gewachsene und Furcht einflößende Erscheinung. Die Leute bahnen sich immer noch ihren Weg durch die voll besetzte Kirche, nachdem sie ihr am Eingang einen flüchtigen Blick zugeworfen haben. Manche nicken ihr respektvoll zu, so wie sie auch dem Pfarrer zunicken. Der Gedanke, Granny Carne und der Pfarrer könnten etwas gemein haben, lässt meine Lippen zucken.

Granny Carne bemerkt, wie ich sie anblicke. Der Anflug eines Lächelns huscht über ihr Gesicht und ich fühle einen Hauch von Hoffnung und Mut in der bedrückenden Finsternis der Kirche.

Wer ist Granny Carne? Warum ist sie anders als alle anderen?

Das habe ich Dad gefragt, als ich sieben Jahre alt war.

Wir saßen am Strand, das Meer war spiegelglatt und Dad ließ mit einer kurzen Bewegung seines Handgelenks Steine über das Wasser hüpfen. Nur Dad und ich, niemand sonst. Die Steine sprangen über das samtweiche Wasser – einmal, zweimal, viermal, sechsmal …

»Wer ist Granny Carne, Dad? Warum wird sie so genannt, obwohl sie von niemandem die Großmutter ist?«

»Manche sagen, sie sei eine Hexe«, antwortete Dad.

»Ich weiß«, entgegnete ich. »Ich habe es auf dem Spielplatz gehört. Aber es gibt doch gar keine richtigen Hexen.«

»Wer weiß?«, sagte er. »Fest steht, dass eine ganz bestimmte Kraft von ihr ausgeht. Du kannst es auch Zauberkraft nennen oder Magie.«

»Kann sie denn wirklich zaubern?«

»Du meinst, ob sie ein großes Zauberbuch besitzt?«

»Vielleicht kann sie die Zaubersprüche ja auswendig.«

»Ja, vielleicht. Sie verfügt über irdische Zauberkraft. Darum ist sie stark, trotz ihres Alters.«

»Wie alt ist sie denn?«

Dad zuckte die Schultern. »Sie war schon immer so alt, wie sie jetzt ist. Wenn du sie fragst, wird sie antworten: so alt wie meine Zunge und ein bisschen älter als meine Zähne. Vielleicht ist sie schon immer alt gewesen.«

»Hast du Angst vor ihr, Dad?«

»Nein, ich habe keine Angst vor ihr. Es gibt zwei Arten von Magie, Sapphy, und ich würde sagen, dass ihre Art von Magie eher segensreich ist.«

»Was bedeutet das?«

»Dass sie eher Gutes als Schlechtes bewirkt. Meistens jedenfalls.«

»Nicht immer?«

»Magie ist unzähmbar. Du kannst sie nicht bändigen oder dazu bringen, deinem Willen zu gehorchen. Sogar die beste Magie kann gefährlich sein.«

Ich erinnere mich, wie überrascht ich war, dass Dad über Magie sprach, als wäre es das Natürlichste auf der Welt. Ich wusste, dass die meisten Erwachsenen an so etwas nicht glauben.

»Erweise Granny Carne stets Respekt, Sapphy«, sagte Dad. »Wenn du das tust und sie nicht verärgerst, wirst du immer auf sie zählen können. Sie ist mir stets eine gute Freundin gewesen. Flüstere nie hinter ihrem Rücken, wie manche Leute das tun. Die glauben, sie weiß es nicht, aber sie weiß es.«

»Segensreich«. Was für ein merkwürdiges Wort. Später habe ich im Wörterbuch nachgeschlagen und herausgefunden, dass es ungefähr dasselbe wie »nutzbringend« bedeutet. Ich dachte über gute Magie nach und fragte mich, wie es um Granny Carnes Magie wirklich bestellt war.

 

Jetzt ist sie also zu Dads Gedenkgottesdienst erschienen, und zwar nicht in Schwarz, so wie alle anderen, sondern in Erdfarben und flammendem Rot. Ihr Gesicht ist tiefbraun von Sonne und Wind und ihre Augen haben das bernsteinfarbene Gelb einer Eule.

Gibt es so etwas wie Eulenmagie? Vielleicht ist Granny Carne wirklich eine Eule, die sich in einen Menschen verwandelt hat. Die anfangs hoch über der Kirche kreiste, um dann zu uns hinabzustoßen.

Eulen sind stark, machtvoll und weise, doch können sie dich mit ihren Krallen verletzen. Eher segensreich, hat Dad gesagt. Ihre leuchtenden Eulenaugen durchdringen mich, als sähen sie alles, was ich verbergen möchte.

Die schwarz gekleideten Menschen sind aus der ganzen Umgebung gekommen. Mum, Conor und ich sitzen in der ersten Reihe. Nur der Pfarrer sieht unsere Gesichter.

Der Chor singt, doch niemand hat so eine schöne Stimme wie Dad. Ich weiß noch, wie er sagte, er sänge lieber an der frischen Luft als im Kirchenchor. Dad würde es hier nicht aushalten. Er würde Granny Carne zuzwinkern und aus der Tür laufen. Fast muss ich lachen bei dem Gedanken, wie Dad von seinem eigenen Gedenkgottesdienst flüchtet, aber ich reiße mich zusammen.

Jetzt singen sie ein Lied für all die verschollenen Fischer und Seeleute, weil sie glauben, dass Dad ertrunken ist.

Mum singt nicht mit. Sie starrt unbeweglich vor sich hin, als der Gesang anschwillt. Ihre Lippen sind so hart aufeinander gepresst, dass alle Farbe aus ihnen gewichen ist. Wüsste man nicht, dass Mum traurig ist, könnte man denken, sie sei außer sich vor Wut. So sieht sie oft aus, seit Dad verschwunden ist. Es ist eine langsame, düstere, monotone Weise. Dad würde sie hassen. Er mag Musik, in denen das Leben zu spüren ist.

Ich schließe meine Augen und achte nicht auf das Kirchenlied. Dafür konzentriere ich mich auf eine andere Musik. Ja, jetzt glaube ich fast, Dads Stimme zu hören:

Ach wäre ich doch in Indigo
und teilte die salzige See
in den tiefsten Fluten …

Vielleicht ist es dort, wo Dad sich jetzt aufhält: in den tiefsten Fluten. Er ist in Indigo, wo immer Indigo auch sein mag. Dort werden wir ihn finden. Wenn es mir gelingt, einen Ton seiner Stimme festzuhalten, dann kann ich ihm folgen. Er wird der Faden sein, der mich zu ihm führt.

Das Lied ist verklungen. Die Leute hüsteln und zwängen sich raschelnd wieder in die engen Reihen. Die fette Bridget Jelbert quillt über das Ende ihrer Bank hinweg auf den Gang hinaus. Ich wende mich Conor zu und flüstere: »Wir werden ihn finden, nicht wahr?«

»Klar«, flüstert er zurück. »Mach dir keine Sorgen, Saph. Sollen sie weitermachen mit ihrem Gedenkgottesdienst, wenn es ihnen Spaß macht. Es bedeutet nicht, dass Dad tot ist. Ich weiß, dass wir ihn finden werden.«

In Indigo werden wir ihn finden, sage ich mir. In Indigo, wie lange auch immer das dauern wird. Wir werden ihn finden, wie hart das auch sein mag.

Nein, ich werde nicht weinen. Ich lehne den Kopf zurück, damit die Tränen in meinen Augen bleiben. Ich spüre sie in der Kehle, während sie in meinen Mund laufen. Sie schmecken salzig. Ich schlucke sie hinunter. Dad lebt. Er würde nicht wollen, dass ich weine.