Sechstes Kapitel

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Geh nie alleine zu der Bucht. Hast du das verstanden, Sapphire? Wenn überhaupt, dann gehst du nur zusammen mit Conor. «

»Aber, Mum … «

»Versprich mir, dass du niemals – niemals! – alleine gehst. Es ist zu deiner eigenen Sicherheit. «

»Ich kann genauso gut schwimmen wie er. «

»Ich weiß. Aber du bist so verträumt. Und wenn die Flut kommt, während du dich gerade in Gedanken verlierst, dann kann ich dir nicht helfen. Versprich es mir. «

»Conor soll es auch versprechen. «

»Das hat er schon. «

»Okay, Mum, ich verspreche es.«

 

Dieses Gespräch ist schon mehrere Jahre her, doch die Worte hämmern in meinem Kopf, während ich mir langsam meinen Weg durch den Nebel bahne. Unheimliche Gestalten umgeben mich, doch wenn ich ihnen ganz nahe komme, sind es nur Büsche. Der wallende, feuchte Nebel hat sich hinter mir geschlossen. Von den Häusern ist nichts mehr zu sehen.

Ich rutsche aus und stürze, rappele mich auf und reibe mein aufgeschürftes Knie. Kiesel knirschen unter meinen Füßen. Nasser Adlerfarn peitscht meine Beine. Ich höre den klagenden Laut des Nebelhorns und das Echo des Meeres:

Gefahr. Gefahr. Haltet euch fern.

Aber ich muss weitergehen. Dieser Pfad wird mich zu Conor führen. Ich muss ihm nur folgen. Mein Herz schlägt so heftig, als wäre es in meinem Mund. Ganz ruhig, Sapphire. Es gibt keinen Grund, Angst zu haben. Es ist doch nur Nebel.

Vorsichtig betrete ich den grasbewachsenen Felsvorsprung. Ich habe fast die Klippe erreicht, kann aber ihre Kante nicht sehen. Das Gras ist nass, ich habe Angst auszurutschen. Ich knie mich hin und krieche auf allen vieren langsam vorwärts.

Haaaa, sagt das Meer, haaaa. Ich krabbele weiter, indem sich meine Finger an den rauen Grasbüscheln festkrallen. Ich will nicht über die Kante stürzen, was auch immer passiert.

Hier ist sie. Ich lege mich flach auf den Bauch, beuge mich vor und starre in die Tiefe. Unter mir treibt immer dickerer Nebel in die Bucht. Dennoch kann ich die Umrisse der Felsblöcke ausmachen, die wie dunkle Köpfe aus dem Dunst ragen. So in etwa erkenne ich den Weg, den ich über die feucht glänzenden Steine nehmen muss, aber ich darf nicht ausrutschen.

Ich versuche, mich zu erinnern, wie hoch das Wasser um diese Zeit steht. Vermutlich ist Ebbe, kurz vor dem Gezeitenwechsel. Im Moment bin ich in Sicherheit. Ich lasse mich behutsam über die Kante gleiten und suche mit den Füßen nach Halt.

Du bist schon tausendmal hier gewesen. Es kann nichts passieren. Doch mein Herz pocht und meine Achseln sind schweißnass. Klettern im Nebel ist wie Schreiben mit dicken Handschuhen. Schönschrift ist da nicht möglich. Mein linker Fuß spürt einen Widerstand, ich setze ihn ab. Vorsichtig verlagere ich mein Gewicht. Nein! Ich verliere den Halt und beginne zu rutschen. Meine Finger klammern sich an einem Pflanzenbüschel fest. Am liebsten würden sie sich für alle Zeit dort festhalten, aber das ist unmöglich.

Sei nicht blöd, Sapphire! Du wirst nicht fallen. Aber du kannst auch nicht an diesem Felsen hängen bleiben. Niemand wird kommen, um dir zu helfen. Außerdem musst du Conor finden.

Ich atme tief durch. Meine Füße wissen von allein, wohin sie gehen müssen, solange ich nicht in Panik gerate. Sie wissen, welcher Schritt der nächste ist, weil sie jahrelange Erfahrung haben.

Ich hole noch einmal tief Luft. Immer mit der Ruhe. Ich lasse das Pflanzenbüschel los. Mein rechter Fuß findet den nächsten Absatz, so wie ein Schlüssel den Weg ins Schloss findet. Die glitschigen Felsen hinunter, zwischen den Felsblöcken hindurch, über die Steine. Das Tropfen von Wasser hallt unheimlich durch den Nebel. Ich höre das ferne Brechen der Wellen, aber ich kann sie nicht sehen. Ich bewege mich so leise, wie ich kann. Ich will nicht, dass mich jemand kommen hört.

Endlich, endlich spüre ich festen, feinen Sand unter meinen Füßen. Ich bin wohlbehalten an unserem Strand angekommen. Meine Beine zittern, aber ich habe es geschafft! Ich habe es allein geschafft, im Nebel, ohne Conor.

Herzlichen Glückwunsch, Kleine!, verhöhnt mich eine innere Stimme. Aber freu dich nicht zu früh. Oder hast du Conor etwa schon gefunden?

Das wird nicht mehr lange dauern, antworte ich mir entschieden. Und vielleicht bessert sich ja schon die Sicht. Ich kann ungefähr die Linie ausmachen, wo die zahlreichen Steine und der Sand zusammentreffen. Der Felsen, den ich hinabgeklettert bin, ist im wallenden Nebel verschwunden, aber mir kann nichts passieren. Wenn ich nach Hause gehen will, brauche ich mich nur vom Geräusch der Brandung zu entfernen, dann stoße ich automatisch auf die Steine, die sich unter dem Felsvorsprung befinden.

Ich gehe vorsichtig weiter, setze einen Fuß nach dem anderen auf den harten Sand, der zum Wasser hin flach abfällt. Feuchte Nebelschwaden streichen über meine Wangen.

»Conor! Conor! Komm raus, wenn du hier bist, bitte!«

Ich mag dieses Versteckspiel nicht, wenn ich der Suchende bin und jederzeit jemand aus seinem Versteck springen kann. Ich hasse es, wenn mich jemand anspringt. Aber ich bin mir immer noch sicher, dass es richtig war, hier in die Bucht zu kommen. Conor muss ganz in der Nähe sein.

Doch habe ich Angst, erneut zu rufen. Ich blicke zurück zum Strand, aber sogar die Steine sind inzwischen vom undurchdringlichen Nebel verschluckt worden. Das Geräusch des Meeres scheint von allen Seiten zu kommen. Haaa … Haaa … Haaaa …

Meine Hände krampfen sich so hart zusammen, dass sich die Nägel in die Handflächen bohren. Dir kann nichts passieren, Sapphire. Sei nicht so ein idiotisches kleines Baby. Solange der Strand sich nach unten neigt, wird er mich zum Meer führen. Ich kenne die Form der Bucht ebenso gut wie die Form meiner eigenen Hand. Bis zur Mündung der Bucht fällt der Meeresboden sanft ab, dann stürzt er plötzlich jäh in die Tiefe. Wenn man hinausschwimmt, sieht man an dieser Stelle, wie das Wasser plötzlich dunkel wird. Conor hat mehrfach versucht, bis zum Grund zu tauchen, hat es aber nie geschafft.

Ich strecke die Arme nach vorne und taste mich langsam durch den Nebel.

Plötzlich höre ich eine Stimme. Sie kommt aus weiter Ferne und schallt über das Wasser:

Ach, wäre ich doch in Indigo
und teilte die salzige See
in den tiefsten Fluten,
wo weder Liebe noch Leid
mich bedrücken …

Das ist Dad! Ich fühle ein Prickeln am ganzen Körper, als träfe mich ein Blitz.

»Dad!«, rufe ich. »Wo bist du? Ich bin’s, Sapphire. Bitte komm zurück, Dad!«

Der Gesang bricht ab. Stille. Das Lied hallt durch meinen Kopf. Ich kenne es so gut und auch die Stimme, die es singt …

Aber tue ich das wirklich? Sehr leise setzt der Gesang wieder ein. Und jetzt bin ich nicht mehr so sicher. Der Gesang ist wunderschön. Die Stimme ist so klar und sanft, dass ich nicht einmal sagen könnte, ob sie einem Mann, einer Frau oder einem Kind gehört. Sie ist so rein, dass ich wünschte, der Nebel würde mich zu ihr tragen.

Sag mir den Grund,
warum du mich verschmähst …

Ich habe Dad mal gefragt, was das Wort »verschmähen« bedeutet. Er sagte mir, es bedeute, jemanden beiseite zu schieben, keine Notiz von ihm zu nehmen. In dem Lied will der Sänger wissen, warum er von der Person, die er liebt, ignoriert wird.

Verschmäht. Ich brauche nicht mehr zu fragen, was das Wort bedeutet.

Warum hast du uns verlassen, Dad? Wolltest du uns nicht mehr? Waren wir dir nicht mehr gut genug? Wo bist du, Dad? Antworte, wenn du mich hörst, bitte!

Aber ich sage diese Worte nicht laut. Ich stehe unbeweglich da, wie ein Stein im Nebel, und versuche, dem Echo des Gesangs zu lauschen. Es ist Dads Lied, doch je länger ich ihm zuhöre, desto weniger glaube ich, dass es seine Stimme ist.

Dann passiert noch etwas anderes: Der Nebel beginnt, sich zu lichten. Es wird zunehmend heller und plötzlich reißt er auseinander und lässt einen weißen Sonnenstreifen hervorblitzen. Als ich mich umdrehe, sehe ich die Umrisse der Felsen. Dort sind die Höhlen, da drüben die Felsblöcke. Ich wende mich dem Meer zu. Dort unten am Wasser, am Rande der Bucht, thront ein Junge auf einem der hohen Felsen. Er sitzt mit dem Rücken zu mir und blickt auf das Meer. Ich sehe nur seinen Kopf und seine Schultern. Aber diese dunklen, nassen Haare kommen mir irgendwie … natürlich, das ist doch …

»Conor!«

Der Junge dreht sich um. Jetzt sehe ich, dass es nicht Conor ist, sondern ein Fremder. Ich werde von Angst gepackt. Er hebt seine Hand und winkt, als würde er mich kennen. Aber ich kenne ihn nicht. Ich habe ihn noch nie zuvor gesehen. Erneut hebt er die Hand und diesmal winkt er mich zu sich heran. Er will, dass ich zu ihm komme.

Ich muss zu ihm. Meine Füße hämmern über den harten, feuchten Sand, dem Felsen entgegen, dessen Fuß im Wasser steht. Der Junge lehnt sich über die Kante des Felsens und schaut nach unten.

»Kannst du zu mir raufklettern?«, fragt er.

»Natürlich.«

Aber das ist gar nicht so leicht. Der Felsen hat einen Überhang und ist von glitschigem Tang sowie scharfkantigen Muscheln und Napfschnecken besetzt. Als ein Babykrebs über meine Finger krabbelt, verliere ich fast den Halt.

Der Junge klettert auch nicht zu mir nach unten, um mir zu helfen, so wie Conor das tun würde. Vielleicht liegt das daran, dass er einen Taucheranzug trägt. Aus meinem Blickwinkel ist das zwar nicht genau zu erkennen, aber es sieht so aus, als habe er einen Taucheranzug bis zur Taille hinuntergezogen.

Ich greife um einen Felsvorsprung nahe der Spitze und ziehe mich nach oben. Dann sehe ich ihn zum ersten Mal ganz.

Ich weiche erschrocken zurück und wäre fast hinuntergefallen, wenn der Junge nicht schnell meine Hand gepackt und mich festgehalten hätte.

»Vorsichtig«, sagt er.

Er trägt ein Kostüm. Es muss ein Kostüm sein. Er kann doch nicht… oder doch?

»Du kannst doch nicht…«, sage ich unwillkürlich. »Das ist doch nicht möglich.« Ich starre seine Hand an, die mich immer noch festhält. Menschliche Finger, so wie meine. Auch Arme, Kopf, Nacken und Kinn wie die eines Menschen. Aber dann …

»Schlafe ich etwa? Du musst ein Traum sein.«

Er drückt meine Finger zusammen.

»Fühlt sich das wirklich genug an? Ich kann dich auch kneifen, wenn du willst.«

»Nein, nein, schon gut. Aber du kannst doch nicht ein …«

Ich bringe das Wort nicht heraus. Ein Wort, das es eigentlich nur im Märchen gibt, nicht in der realen Welt. Ich betrachtete die dunkle Rundung, von der ich dachte, sie gehöre zu einem Taucheranzug, und die glatte Stelle, an der die Haut – ganz normale Haut, so wie meine – in etwas anderes übergeht. Aber in was? Es erinnert mich an etwas. Nicht an einen schuppigen Fischschwanz, wie man ihn in Kinderbüchern sieht. Es sieht eher aus wie der Unterleib eines anderen Tieres. Kraftvoll, glänzend und geschmeidig — geschaffen für ein Leben im Wasser, nicht an Land.

»Ein Seehund«, flüstere ich. Die beiden Teile, die ich erblicke, passen nicht zusammen. Ich sehe einen Jungen wie Conor, mit dunklen, nassen Haaren, braunen Augen und sonnengebräunter Haut. Und ich sehe den geschwungenen Unterleib einer Robbe.

Er schaut mich so an, als könne er Gedanken lesen. »Robben können nicht reden«, bemerkt er. Seine Zähne sind strahlend weiß und ebenmäßig. Seine Mutter nörgelt bestimmt nicht, er solle mal wieder zum Zahnarzt gehen.

Warum denke ich eigentlich an den Zahnarzt, wenn ich eine…

»Du hast gedacht, ich bin Conor, nicht wahr? Mach dir keine Sorgen. Conor ist hier in der Nähe, zusammen mit meiner Schwester.«

»Deiner Schwester?« Gedanken und Bilder wirbeln durch meinen Kopf. Das Mädchen mit den langen, nassen Haaren. Das Mädchen im Taucheranzug. Seine Schwester.

»Ich kenne deinen Namen«, fährt er fort. Seine Augen funkeln zufrieden. »Ich weiß alles über dich, Sapphire. Conor hat mir von dir erzählt.«

»Was?«

»Willst du nicht meinen erfahren?«

»Deinen … ?«

»Meinen Namen«, sagt er.

»Äh, ja … natürlich.«

»Mein Name ist Faro«, sagt er mit Würde, als müsste ich schon von ihm gehört haben. Aber ich kann nicht klar denken.

»Wie kommt es, dass du Englisch sprichst?«, platzt es aus mir heraus. »Ich meine, du bist doch kein …«

»Kein Engländer?«

»Nein, äh, kein… Mensch.«

»Mensch? Wie kommst du denn auf die Idee?«, fragt Faro, als hätte ich ihn beleidigt. »Und woher willst du überhaupt wissen, dass wir Englisch reden? Vielleicht sprechen wir Mer.«

»Englisch ist die einzige Sprache, die ich kann«, sage ich. »Das weiß ich ganz genau.«

»Das glaubst du«, entgegnet Faro. »Aber wenn deine Mutter hier wäre, dann würde sie kein Wort von dem verstehen, was wir sagen.«

»Sie würde uns gar nicht zuhören. Sie wäre viel zu sehr damit beschäftigt, mich auszuschimpfen, weil ich alleine hierher gegangen bin.«

»Das stimmt«, sagt Faro, als würde er Mum gut kennen.

»Aber ich dachte … ich meine, haben Meerjungfrauen nicht Fischschwänze? Mit Schuppen? Das habe ich schon öfter auf Bildern gesehen.«

Faro hebt die Augenbrauen. »Meerjungfrauen? Das ist doch wieder so ein typischer Menschenausdruck. Jungfrauen sind die Mädchen, die auf deine Schule gehen, stimmt’s?«

»Schon, aber wir nennen sie nicht mehr Jungfrauen. Das war früher einmal, im viktorianischen Zeitalter oder bei den Tudors.«

»Und warum glaubst du, wir Meerwesen seien so altmodisch ?«, fragt Faro mit spöttischer Betonung des letzten Worts.

Natürlich seid ihr altmodisch, möchte ich sagen. Ihr sitzt mit euren goldenen Kämmen und Spiegeln auf den Felsen und singt tagaus, tagein und kämmt eure Haare und wartet auf vorbeifahrende Seeleute, die ihr ins Meer locken wollt. So verhält man sich doch nicht im 21. Jahrhundert, oder?

»Du irrst dich in zweifacher Hinsicht«, sagt Faro mit zufriedenem Schnurren. »Zum einen bin ich männlich, nicht weiblich. Wie könnte ich also eine Meerjungfrau sein? Das ist rein anatomisch unmöglich. Zum anderen ist dieses Meerjungfrauengeschwätz mit Spiegeln und Kämmen und dem ganzen Zeug eine Erfindung der Menschen. Das hat mit unserem wahren Leben nichts zu tun.«

»Wie nennt ihr euch selbst?«, frage ich neugierig.

Faros Augen werden dunkel. Sein Lächeln ist verflogen. »Das kann ich dir nicht sagen«, antwortet er. »Über so etwas reden wir nicht mit Luftwesen. Aber du kannst uns Mer nennen. Dieses Wort benutzen wir, wenn wir an Land reden. Mer, Moar, Mor, Mare … all diese Wörter sind in Ordnung«, fügt er hinzu und zuckt die Schultern, als würde ihn das Thema langweilen.

Die Sonne kommt immer stärker zum Vorschein und vertreibt den Nebel. Alles ist wieder klar. Und auch Faro ist so klar und deutlich zu erkennen wie die Form des Felsens. Ich werfe einen verstohlenen Blick auf seinen Unterleib. Ich will ihn nicht so direkt anstarren. Je mehr der Nebel weicht, desto trockener wird sein Schwanz. Vielleicht sollte er ihn mal kurz ins Wasser tauchen. Sandflecken kleben an seiner Haut.

Faro bemerkt meinen Blick und hebt erneut die Brauen. Ich spüre, wie ich erröte.

»Meinst du etwa, dass wir Mer sprechen?«, frage ich rasch. Ich lausche dem Klang der Wörter, die aus meinem Mund kommen, und höre keinen Unterschied. Ihr Klang scheint mir so zu sein wie immer.

»Nicht so ganz«, antwortet er, »aber ein bisschen Mer hast du schon in dir. Das muss so sein, sonst wärst du gar nicht hier. Wenn wir reines Mer sprechen würden, dann könntest du auch verstehen, was sie sagt.« Faro deutet nach oben zu einer Möwe, die schreiend über uns hinwegfliegt.

»Was sagt sie?«

»Denk einfach an alle Flüche, die du kennst, aber in doppelter Stärke.«

Ich starre zur Möwe hinauf. Sie neigt elegant ihre Flügel und starrt mit ihren kalten gelben Augen zurück. Dann öffnet sie ihren Schnabel und stößt weitere Schreie aus.

»Die mögen nicht, wenn sie von Leuten beobachtet werden«, sagt Faro.

»Kannst du mit ihr reden?«

»Bei ihrer Laune wäre das Zeitverschwendung. Es gefällt ihr nicht, dass ich mit dir spreche.«

»Warum nicht?«

»Möwen sind eben so. Sie fühlen sich sicherer, wenn sie unter sich sind. Das Auftauchen von Menschen betrachten sie als schlechtes Zeichen.«

»Oh.«

Faro beobachtet, wie eine kleine Spinnenkrabbe ein Tangbüschel erklimmt.

»Verstehst du, was sie sagt?«, fragt er.

»Nein.«

»Du könntest es verstehen, wenn du nicht an Land wärst.«

»Aber wir können nur an Land leben.«

»Das ist reines Luftdenken«, entgegnet Faro. »Hör der Möwe zu. Hör ihr aufmerksam zu.«

Ich strenge mich an, doch ich kann beim besten Willen nichts anderes hören als den vertrauten Schrei einer Silbermöwe, die in diesem Moment zum Sturzflug ansetzt, den Wasserspiegel streift und danach wieder aufsteigt.

»Du hast Conor gesucht«, sagt Faro nach einer Weile.

»Ja … ja, das stimmt«, entgegne ich langsam und bemerke erst jetzt, dass ich Conor völlig vergessen hatte, nachdem ich Faro begegnet war. Wie ist das möglich?

»Wie gesagt, er ist mit meiner Schwester unterwegs. Es geht ihm gut.«

»Aber wo sind sie?«

Faro verlagert sein Gewicht. Außerhalb des Wassers sieht sein Unterleib immer noch stark und geschmeidig, aber auch etwas plump aus. Er stützt sich auf seine Arme und zieht sich ein Stück nach vorne, um über die Kante des Felsens blicken zu können.

»Sie sind im Wasser«, sagt er, »irgendwo hier unten.«

Ich schaue ebenfalls nach unten und kann den Sand nicht mehr erkennen. Die Flut ist schon zu sehr gestiegen und umspült unseren Felsen. Wie konnte das Wasser nur so schnell steigen, ohne dass ich es bemerkt habe?

»Wie ist das Wasser so schnell gestiegen?«, wiederhole ich laut.

»Ist doch nur die Flut«, erwidert Faro gleichmütig. »Die kommt immer so schnell.«

»Aber vor ein paar Minuten war doch noch Ebbe.«

»Wirklich?«

»Ich muss sofort zu den Steinen zurückschwimmen, ehe das Wasser zu tief ist.«

Ich muss vorsichtig sein, damit mich die Flut nicht gegen die Steine drückt und ich mir blaue Flecken oder Schlimmeres zuziehe.

»Wo willst du hin?«, fragt Faro, während ich von der Kante des Felsens ins Wasser blicke, um zu prüfen, ob ich gefahrlos hineinspringen kann. Springen geht schließlich am schnellsten und das Wasser steigt mit großer Geschwindigkeit.

»Ich muss zurück, sonst schaffe ich es nicht mehr.«

»Aber dein Bruder ist immer noch hier«, sagt Faro beiläufig.

Ich zucke zusammen und drehe mich langsam zu ihm um. Wie habe ich Conor nur erneut vergessen können? Wie konnte ich nur daran denken, mich selbst in Sicherheit zu bringen, ohne auch an ihn zu denken?

»Wo ist er?«

»Ich bringe dich zu ihm«, sagt Faro. »Nimm meine Hand, Sapphire, dann bringe ich dich zu ihm.«

Faro balanciert jetzt auf der äußersten Kante des Felsens. Sein kräftiger Robbenunterleib hängt über dem Wasser, während er sich mit den Armen abstützt, als wolle er sich im nächsten Moment abstoßen und ins Wasser springen. Er schaut zur Mündung der Bucht hinüber, wo das frische Wasser der Flut einströmt. Ich spüre mit jeder Faser meines Körpers, dass mich Faro nicht mit an den Strand nehmen will, wo sich der feste Sand befindet und ich den Weg nach Hause finde. Er will mich ins tiefe Wasser mitnehmen, das sich jenseits der Mündung befindet. Aber dort darf ich nicht hin – es ist zu gefährlich.

»Das geht nicht«, sage ich. »Ich muss zurück.«

»Ohne Conor?«, fragt Faro spitz. »Wenn ich wüsste, dass meine Schwester an Land ist, dann würde ich sie niemals zurücklassen. Ich würde nie ohne sie nach Hause gehen.«

»Meinst du, dass Conor in Gefahr ist?«

Faro sieht mich schweigend an. Er testet mich, ich weiß es genau. Wäre Conor tatsächlich in Gefahr, wie könnte er dann in aller Ruhe auf diesem Felsen sitzen und mit mir reden, ohne etwas zu unternehmen? So was tut doch kein Mensch.

Menschen tun so etwas nicht. Ich schaue auf Faros geschwungenen, kraftvollen Robbenschwanz. Die Stelle, wo der menschliche Leib endet und der Merleib anfängt, ist kaum auszumachen. Die Teile scheinen ineinander zu fließen. Faro bemerkt meinen Blick.

»Ist sicher ein komisches Gefühl, so geteilt zu sein wie du«, sagt er mit einem Anflug von Mitleid in seiner Stimme.

»Geteilt?«

»Das weißt du doch«, sagt Faro beharrlich und sieht dabei so verlegen aus wie jemand, der gerade entdeckt, dass sein Gegenüber einen Ketschupklecks am Kinn hat. »Ich meine, so, wie ihr nun mal seid – gespalten.« Er zeigt auf meine Beine. »Ist das nicht ein merkwürdiges Gefühl, solche Dinger zu haben?«

»Aber du bist doch geteilt, nicht ich! Du bist halb Mensch, halb …«

»Halb was?«, fragt Faro gereizt. »Da ist es schon wieder, dein Luftdenken. Ich bin überhaupt nicht halb. Ich bin ein vollständiger Mer.« Er sagt dies mit Stolz, als wäre er adeliger Abstammung, und wirft einen zufriedenen Blick auf seinen Unterleib.

»Conor ist mit meiner Schwester unterwegs«, fügt Faro hinzu. »Kommst du jetzt oder nicht?«

Ich habe keine Wahl. Wie tief der Abgrund auch sein mag, der an der Mündung in die Tiefe führt; gleichgültig wie schnell die Flut in die Bucht strömt – Faro ist der Einzige, der mich zu Conor bringen kann. Und ohne Conor kann ich doch nicht nach Hause zurückkehren.

»Ich komme mit«, sage ich.

»Gut«, sagt Faro. »Aber du musst dein Luftdenken hier auf diesem Felsen zurücklassen. Wir schwimmen nicht so wie ihr, halb an der Luft.« Er imitiert eine Art Hundepaddeln, bei dem das Gesicht aus dem Wasser schaut.

»Unter Wasser kann ich nicht atmen.«

»Ans Atmen brauchst du gar nicht zu denken. Atmen tust du an Land. Wir Mer machen das anders. Halte dich an meinem Handgelenk fest, genau hier. Schließ deine Finger ganz fest zusammen. Noch fester! Wenn ich tauche, dann tauchst du auch. Versuch nicht, die Luft anzuhalten. Verschwende keinen Gedanken ans Atmen. Lass sämtlichen Atem entweichen. Solange du bei mir bist, wirst du nicht ertrinken. «

Faros Handgelenk fühlt sich warm und stark an. Ich betrachte seinen kraftvollen, geschmeidigen Unterleib. Er zuckt, als könne er es nicht erwarten, ins Wasser zu kommen.

»Wenn ich tauche«, sagt Faro erneut, »dann tauchst du auch.«

Ich packe sein Handgelenk und schaue hinunter ins Wasser, das so schnell angestiegen ist, dass es weniger als einen Meter unter uns an den Felsen schlägt. Ich blicke zu Faro und sehe, dass er die Augen geschlossen hat. Auch seine Nasenlöcher sind verschlossen, so wie die einer Robbe, bevor sie taucht.

Mein Griff um sein Handgelenk verstärkt sich, ich schließe meine Augen, beuge mich vor, hole tief Luft und stoße mich vom Felsen ab. Wir tauchen.