Siebzehntes Kapitel

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Ich fürchte die ganze Zeit, Roger könnte doch sagen, dass er mich unter Wasser gesehen hat. Ich kann nicht mehr als ein halbes Stück Kuchen essen, obwohl es einer von Mums besten ist und obwohl sie versucht, mich aufzupäppeln. Nachdem Roger zwei riesige Stücke verdrückt hat, fragt ihn Mum, ob er noch eine Kanne Tee möchte.

»Bleib du sitzen und ruh dich aus, Jennie. Ich mach das schon.« Dann wendet er sich Conor und mir zu. »Eure Mutter ist eine erstaunliche Frau«, erklärt er und hört sich dabei an wie der Darsteller einer Fernsehserie. »Die zuvorkommendste Kellnerin der ganzen Stadt und die großartigste Köchin, die ich kenne – das war jedenfalls der beste Walnusskuchen, den ich je gegessen habe, Jennie.«

»Ist das alles, wofür ich gut bin? Kuchen backen und Gäste bedienen?«, fragt Mum mit glucksender Stimme.

»Ich glaube, du weißt, dass das nicht der Fall ist«, entgegnet Roger. Dann lachen alle beide.

Dieser Wortwechsel löst bei mir aus verschiedenen Gründen ein komisches Gefühl aus. Wir wissen selbst, dass Mum eine gute Köchin ist. Wir wissen selbst, wie hart sie arbeitet. Deshalb tun wir ja auch alles, um sie zu entlasten. Wir brauchen keinen Roger, der uns das sagt. Dies ist unser Leben, nicht seins, und es geht ihn auch überhaupt nichts an. Außerdem vermittelt er mir das Gefühl, nicht dazuzugehören, wenn er mit Mum so herumturtelt. Ich versuche, Blickkontakt mit Conor aufzunehmen, doch der ist bereits auf dem Weg aus dem Zimmer.

»Ich muss jetzt die Milch holen, Mum. Bis später.«

»Und ich mache den Tee«, sagt Roger, der offenbar Mühe hat, seinen Blick von Mum abzuwenden.

»Sapphire hilft dir bestimmt, nicht wahr, Sapphy?«, sagt sie, indem sie es sich bequem macht und die Augen schließt. »Jetzt fühle ich mich wie im Paradies. Das Essen ist gekocht und für den Rest des Abends gibt es nichts mehr zu tun. Sapphy, mein Schatz, würdest du Roger helfen, damit er sich in der Küche zurechtfindet?«

Roger und ich latschen in die Küche. Sobald ich mit ihm allein bin, bemerke ich, wie groß er ist. Nicht schwergewichtig, aber kräftig gebaut und hoch aufgeschossen. Er muss den Kopf einziehen, als er die Küche betritt.

Ich bin nicht gerne allein mit ihm, weil ich Angst habe, was er mir für Fragen stellen könnte, also plappere ich einfach drauflos: »Die Teebeutel sind in der Dose da oben und der Wasserkocher ist da drüben. Er stellt sich nicht mehr von selber ab, weil er kaputt ist, aber Mum kauft einen neuen, wenn sie ihr nächstes Gehalt bekommt. Wenn Sie ihn bis zur fünf mit Wasser füllen, reicht es für eine Kanne …«

»Ich hab schon mal einen Wasserkocher gesehen«, entgegnet Roger leichthin. Er beobachtet mich. Er will etwas sagen … mich etwas fragen … ich muss weg.

Doch ich komme nur bis zum Kühlschrank, als mich seine beiläufige Frage trifft: »Wie weit kannst du schwimmen, Sapphire?«

»Äh, ich weiß nicht, ziemlich weit. Das heißt so weit auch wieder nicht. Kommt drauf an, wie ruhig das Wasser ist.«

»Deine Mutter hat mir erzählt, dass ihr nicht außerhalb der Bucht schwimmen dürft.«

»Ja, das stimmt, wegen der Strömung. Nur vom Boot aus dürfen wir auch weiter draußen schwimmen.«

»Hat dich … in letzter Zeit mal jemand mit dem Boot mitgenommen? Ich meine, in den letzten ein oder zwei Tagen.«

»Nein«, antworte ich entschieden und blicke Roger fest in die Augen, weil dies keine Lüge ist. »Ich bin nicht mit dem Boot gefahren, seit … seit …« Ich kann es nicht sagen. Nicht zu Roger.

»Seit wann?«, bohrt er nach. Zorn flammt in mir auf. Roger tut so, als wäre er mein Vater. Aber er hat kein Recht, mir solche Fragen zu stellen.

»Seit Dad mich in der Peggy Gordon mitgenommen hat«, antworte ich. Mein Gesicht brennt, aber ich werde nicht weinen. Ich will nicht zulassen, dass Roger mich weinen sieht.

»Ach so …« Roger schweigt eine Weile. Dann sagt er so förmlich, als wäre ich eine Erwachsene: »Tut mir Leid, Sapphire. Ich wollte dir nicht zu nahe treten.«

Seine Miene sieht bekümmert aus. Für einen Augenblick glaube ich, dass es ihm wirklich Leid tut. Doch im Grunde will ich das nicht glauben, sonst müsste ich vielleicht anfangen … Roger zu akzeptieren.

»Ist schon okay«, nuschele ich.

»Nein, ist es nicht«, sagt Roger mit Nachdruck. »Gar nichts ist okay und ich weiß das. Dein Dad ist gestorben und ein Jahr später tauche ich plötzlich auf… das ist für keinen von uns eine einfache Situation. Hast du mal darüber nachgedacht, wie schwierig es für deine Mutter ist?«

»Dad ist nicht tot!«, schreie ich wütend. Roger starrt mich an. »Er ist nicht tot«, wiederhole ich leise, doch mit all der Kraft, die ich aufbringen kann. Wie viel Ärger könnte uns erspart bleiben, wenn Roger mir glauben würde.

»Du bist eine eigenwillige junge Lady«, sagt er langsam, »und ich wünschte, ich könnte in deinen Kopf hineinsehen. «

»Tja, manchmal wünschte ich auch, ich könnte Gedanken lesen. Übrigens kocht das Wasser. Gießen Sie den Tee auf, während ich die Becher abwasche?«

Ich bin mir nicht sicher, ob ich so leicht davonkomme, aber ich scheine Glück zu haben. Schweigend setzen wir unsere Tätigkeiten fort. Doch bevor wir den Tee zu Mum hineintragen wollen, sagt Roger: »Sadie, dieser Hund, mit dem du spazieren warst, der gehört den Nachbarn, oder?«

»Ja.«

»Was ist das für eine Rasse?«

»Ein Golden Labrador.«

»Sehr schöne Tiere.«

»Ja, sie ist …« Plötzlich sehe ich Sadies Gesicht so lebendig vor mir, dass ich fast ihr warmes, goldenes Fell spüre, ihre weiche Zunge, die meine Hand abschleckt, ihre zitternde Aufregung, wenn sie merkt, dass ich mit ihr spazieren gehen will.

»Hattest du schon mal einen eigenen Hund?«

»Nein. Mum sagt, das macht zu viel Arbeit.«

»Tja, es stimmt schon, dass ein Hund einige Arbeit macht. Als Junge hatte ich einen, und erst später verstand ich, was mein Vater meinte, als er mir sagte: ›Wenn du einen Hund haben willst, dann musst du dich um ihn kümmern, solange er lebt.‹ Doch Rufie war das Beste, was mir in meinem ganzen Leben passiert ist, nachdem wir aus Australien zurückkamen und es uns nach Dagenham verschlagen hat. Conor und du könntet euch doch beide um sie kümmern, oder?«

»Nicht wenn wir in der Schule sind.«

»Gibt es denn niemanden in der Nachbarschaft, der in dieser Zeit ein Auge auf sie haben könnte?«

Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Immer wieder habe ich krampfhaft versucht, Mum davon zu überzeugen, dass Conor und ich es irgendwie hinkriegen würden.

»Hm, ich weiß nicht …«

»Denk mal drüber nach«, sagt Roger. »Dann wäre sicher auch eure Mutter aufgeschlossener.«

»Was war Rufie für ein Hund?«

»Ein Black Labrador. Eine tolle Rasse. Leider kriegen sie im Alter Probleme mit den Hüften.«

Ich nicke. Ich kenne mich aus mit Labradoren und weiß auch, dass sie nicht so alt werden wie einige andere Hunderassen.

»Sie haben einen großartigen Charakter und sind sehr anhänglich«, fügt Roger nachdenklich hinzu, ehe er mir die Tür öffnet, damit ich den Tee hinaustragen kann.

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Es ist spät geworden. Ich liege noch wach, während alle anderen schlafen. Roger ist nach St Pirans zurückgefahren, und Mum hat sich früh hingelegt, weil sie morgen die Frühschicht hat. Von Conors Dachboden dringt kein Geräusch zu mir nach unten. Ich habe schon vor langer Zeit gehört, dass er das Licht ausgeknipst hat.

Ich habe das Gefühl, der letzte Mensch auf der Welt zu sein, der noch wach ist. Hätte ich ein eigenes Haus, würde mein Hund bei mir im Zimmer schlafen. Hunde wachen sofort auf, wenn man sich bewegt. Wäre Sadie hier, würde sie merken, dass ich wach bin, und ich könnte mit ihr reden.

Über Roger will ich nicht mehr nachdenken. Stundenlang haben sich dieselben Gedanken in meinem Kopf gedreht. Mum, Roger, Dad. Manchmal möchte ich kein Kind mehr sein. Als Erwachsene könnte ich meine eigenen Entscheidungen treffen und meine Familie müsste sich damit abfinden.

Stattdessen denke ich an Indigo. An die Sprache der Delfine und das sonnendurchflutete Wasser. An Riesenhaie und Graurobben, Seeanemonen, Garnelen und Kaurischnecken, an Quallenschwärme, Schiffswracks, Felsenriffe und die großen Strömungen, die dich um die halbe Welt tragen. Indigo. Indigo. Hat man die Haut erst mal durchdrungen, spürt man keinen Schmerz mehr. Unter Wasser empfängt dich eine neue Welt. Blauwale, Glattwale und Zwergwale. Herden von Tümmlern, die in einer perfekten Formation aus dem Wasser springen, als wüsste jeder genau, was die anderen gerade vorhaben. Vielleicht ist es wirklich so.

Riementang, Blasentang und Zuckertang — all die Namen, die Dad mir beigebracht hat, und all die Tiere, die wir gesehen haben: Segelquallen, Strandkrabben, Einsiedlerkrebse, Barsche, Lippfische, Katzenhaie und Bärenkrebse … Strömungen und Gezeiten. Ach wäre ich doch in Indigo. Ach wäre ich doch in Indigo …

Während ich diese Worte wiederhole, schlafe ich ein.

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Aus tiefen Träumen schrecke ich plötzlich hoch. Etwas hat mich geweckt. Ich schlage die Decke beiseite und setze mich auf. Stille. Doch ich bin sicher, etwas gehört zu haben. Beklommen steige ich aus dem Bett, gehe ans Fenster und ziehe den Vorhang zur Seite. Der Mond steht voll und hoch am Himmel.

»Ssssssapphire.«

Ich öffne das Fenster, um besser hören zu können. Die Stimme ist so sanft wie ein Hauch, der aus weiter Entfernung an mein Ohr dringt. Sobald ich sie wieder höre, weiß ich, dass sie es war, die mich geweckt hat. Es ist weder Conors noch Mums Stimme. Sie ist unheimlich und rätselhaft. Meine Haut prickelt, ich zittere am ganzen Körper. Das ist keine menschliche Stimme. So würde das Meer klingen, könnte es sprechen.

Wie sehr wünschte ich mir, fließend Mer sprechen zu können. Doch hat das Meer wirklich eine eigene Stimme? Kann es seine Geheimnisse verraten? Ich bin sicher, dass es mir etwas sagen will.

Vom Dachboden und aus Mums Schlafzimmer dringen keinerlei Geräusche. Niemand scheint aufgewacht zu sein.

»Ssssssapphire!« Die Stimme ist jetzt eindringlich. Sie möchte mir näher kommen, aber das ist unmöglich. An Land kann das Meer dich nicht erreichen. Es steigt höchstens bis zur Gezeitenlinie. Granny Carne sagt zwar, Indigo werde immer stärker, doch bin ich mir sicher, dass es dem Meer nicht möglich ist, über die Felsen zu branden, die Felder und unseren Garten zu überfluten und direkt in mein Fenster zu schwappen.

»Ssssssapphire … Ssssssapphire …«

Es klingt wie das Brechen der Wellen. Auf einmal bin ich mir vollkommen sicher, dass es die Stimme des Meeres ist. Ich höre das Salz in ihr, das Schäumen der Wogen und das Rollen der Dünung. Es ist die Magie des Meeres, die zu mir spricht.

Cranny Carne hat mich von Indigo fern gehalten, aber das war tagsüber. Meermagie scheint stärker als Erdmagie zu sein, wenn die Zeit reif für sie ist. Ich bleibe stehen, spüre die Dielen unter meinen Füßen. Wie spät ist es in Indigo? Meine Armbanduhr leuchtet an meinem Handgelenk. Die Zeiger sind um fünf nach sieben stehen geblieben, zu der Zeit, als ich ins Wasser hineinging.

Auf der anderen Seite des Zimmers sehe ich meinen schimmernden Frisierspiegel. Das Mondlicht verstärkt den Eindruck, das zersprungene Glas habe die Form eines Seesterns. Obwohl es zersplittert ist, erkenne ich mein Spiegelbild. Bin das wirklich ich? Meine verfilzten Haare hängen wie Seetang an mir herab und mein Gesicht leuchtet wässrig.

»Ssssssapphire!«

Ich kann nicht schweigen. Ich muss antworten. Doch in dem Moment, als ich zum Fenster zurückgehe und meinen Mund öffnen will, geschehen zwei Dinge:

Eine Eule jagt im Sturzflug an meinem Fenster vorbei, die Flügel weit ausgebreitet. Plötzlich hält sie inne und schaut direkt in mein Zimmer hinein. Ihr durchdringender bernsteinfarbener Blick brennt mir in der Seele. Dann ist sie verschwunden. Im selben Moment schallt ein ohrenbetäubendes Bellen durch die Nacht. Es ist Sadie! Ich weiß, dass sie es ist. Ihre Stimme erkenne ich überall. Sie bellt so verzweifelt, als habe sie einen Einbrecher gehört und wolle das ganze Haus wecken. Oh, Sadie, ich wünschte, du wärst nicht so weit weg! Ich wünschte, ich wäre bei dir. Dann wüsste ich, was mit dir los ist.

Ihr Bellen verstärkt sich, als würde sie mir antworten. Ich habe das seltsame Gefühl, dass Sadie meinetwegen bellt. Ich soll sie hören. Sie will mich warnen … mich beschützen …

»Ist schon gut, Sadie, braves Mädchen!«, sage ich, obwohl meine Stimme sie unmöglich erreichen kann. »Es ist alles in Ordnung, niemand tut mir weh.«

Doch Sadie kläfft immer weiter, als wolle sie die Nacht selbst auffordern, auf der Hut zu sein. Ich wette, Jacks Vater ist schon im Schlafanzug die Treppe hinuntergestapft, um nach einem Einbrecher oder dem Fuchs Ausschau zu halten, der es auf die Hühner abgesehen hat. Während Sadie nicht zu stoppen ist, muss ich lächeln. Mir ist, als wäre sie in meinem Zimmer. Sie klopft mit ihrem Schwanz auf den Boden und sagt mir, sie werde nicht zulassen, dass mir jemand wehtut.

Mit einem Mal bin ich sehr müde. Warum steht mein Fenster offen? Ich schließe es, befestige den Haken und taumele ins Bett.

»Schlaf gut, Sadie«, sage ich. »Es ist alles in Ordnung. Ich liege sicher in meinem Bett. Du kannst jetzt aufhören zu bellen. Ich danke dir …« In diesem Moment verstummt das Hundegebell, als hätte sie mich gehört. Ich kuschele mich in meine Decke und falle in einen traumlosen Schlaf.