4. Kapitel

 

Martin Stichler, das ist doch der Typ, den du mir mal vor ein paar Monaten auf einem Konzert gezeigt hast, oder?« Am frühen Abend lade ich meinen Frust telefonisch bei Miriam ab. Liebesurlaub hin, Liebesurlaub her – in Anbetracht der aktuellen Ereignisse musste ich sie einfach anrufen. Auf Mama hatte ich keine Lust, da werde ich mir am Sonntag noch genug finstere Prognosen anhören müssen. Und Möhrchen – na ja, als Gesprächspartner taugt er halt nicht wirklich. »Diese blonde Riese, der sich selbst so toll findet?«

»Genau der«, bestätige ich ihr. »Und ich kann dir sagen: Der hat es voll auf mich abgesehen!«

»Ist doch super!« Sie kichert. »Ich sag dir ja schon ewig, dass du endlich mal wieder einen Kerl im Bettchen brauchst, ein Hase ist auf Dauer nicht das Richtige für deine vernachlässigte Libido.«

»Mach jetzt bitte keine blöden Witze«, fahre ich sie an. »Ich mache mir wirklich Sorgen!«

»Sorry«, kommt es vom anderen Ende der Leitung, »ich dachte, ich könnte dich ein bisschen aufheitern.«

»Aufheitern?« Ich gebe einen tiefen Seufzer von mir. »Das Einzige, was mich im Moment aufheitern könnte, wäre, wenn Martin Stichler tragisch unter einen Laster gerät und für vier bis sechs Monate aus dem Verkehr gezogen wird.«

»Das ist aber sehr böse von dir«, erwidert Miriam in tadelndem Tonfall. »Außerdem klingst du schon wie deine Mutter! Jetzt wart doch erst einmal ab, wie dieses Seminar so wird. Sorgen kannst du dir dann immer noch machen, wenn es einen Grund dafür gibt.«

»Ich finde, es gibt bereits jetzt schon Gründe dafür!«, beharre ich. »Allein dieses Teambuilding-Camp in der Heide, schon beim Gedanken daran schüttelt es mich!«

»Ach was«, meint Miriam. »Vielleicht wird’s ja auch ganz lustig. Sieh es einfach als Spaß an, gib dich locker und entspannt, dann wird das schon.«

»Miriam?«

»Ja?«

»Du weißt schon, mit wem du gerade telefonierst, oder?«

»Wieso?«

»Weil ich nicht locker und entspannt bin!«, fahre ich sie an. »Jedenfalls nicht in so einer Situation, in der es um Leben oder Tod geht!«

»Übertreib mal nicht gleich. Es geht maximal um deinen Job, das ist von Leben oder Tod noch weit entfernt.«

»Für dich vielleicht! Du hast gut reden, dich kann schließlich keiner feuern.« Miriam arbeitet seit fünf Jahren als selbstständige Grafikerin und hat auch für Elb Records schon einige Aufträge erledigt.

»Stimmt«, antwortet sie. »Und wenn ich morgen nichts mehr zu tun habe, kann ich nicht wie du zur Agentur für Arbeit gehen und Arbeitslosengeld beantragen, sondern bin gleich ein Fall fürs Sozialamt. So gesehen stehe ich natürlich viel besser da als du, da hast du absolut recht!«

»Ich finde«, will ich einwenden, werde aber von Miriam sofort unterbrochen.

»Lass mal überlegen, wer war noch mal einer meiner wichtigsten Kunden? Ach, das bist ja du mit Elb Records, richtig!« Mittlerweile hat ihre Stimme einen strengen Tonfall angenommen. »Also lass die Schwarzseherei und hör auf rumzujammern! Die Lage ist nicht zu ändern, also mach das Beste draus. Wie ich sagte: Immer schön locker und entspannt bleiben – zur Not trinkst du halt einen.«

»Okay«, gebe ich maulig zurück, »du hast ja recht.« Einerseits hasse ich es, wenn Miriam mich so auf den Pott setzt – andererseits tut mir das manchmal ganz gut, denn im Gegensatz zu mir legt meine beste Freundin stets eine bewundernswerte Laisser-faire-Grundhaltung an den Tag. Liegt vielleicht an ihrer rheinischen Herkunft. Von ihrer »Et es, wie et es«- und »Wat wellste machen?«-Einstellung könnte ich mir jedenfalls schon ganz gut die ein oder andere Scheibe abschneiden.

»Sischer dat«, kommentiert Miriam prompt in ihrem Heimatdialekt, dicht gefolgt von einem: »Liebelein, mach disch doch nit verrückt.«

»Genau!«, gebe ich mich kämpferisch. »Dat wird eene wilde Sause in der Heide, dat sach isch disch!« Okay, ich kann den Dialekt nicht wirklich, dafür schiebe ich in italienischem Akzent mit gespielt heiserer Stimme hinterher: »Unte wenne die Signore Stichler mische machte unglucklich, dann ich rufe la famiglia! Unte die Capo di Capo, unte danne vir verssenken die Signore Stichler inne die Elbe.«

»So machst du’s, genau!«

Mein Handy klingelt. »Moment, ich muss da mal eben rangehen«, rufe ich in den Hörer.

»Süße!«, hält Miriam mich zurück. »Wenn es okay ist und sonst nichts mehr war, würde ich jetzt gern auflegen. Gunnar macht mir eh schon die ganze Zeit Zeichen, dass die Roaming-Gebühren für dieses Telefonat langsam, aber sicher unsere gesamten Urlaubskosten übersteigen. Lass uns lieber morgen ausführlicher quatschen, wenn ich wieder in Hamburg bin, okay?«

»Ja, ich hol euch vom Flughafen ab. Dreizehn Uhr, oder?«

»Ja, um eins. Bis morgen!«

»Und das Geld für unser Gespräch zahl ich dir natürlich zurück«, füge ich noch eilig hinzu.

»Behalt’s lieber«, erwidert sie glucksend. »Wer weiß, ob du die Kohle nicht bald zusätzlich zur Stütze gut gebrauchen kannst.«

»Haha!«, erwidere ich und lege dann auf. Aber immerhin: Ich bin schon wesentlich besser gelaunt als vorhin, und wenn Miriam erst einmal wieder zu Hause ist und wir ausführlich die gesamte Situation durchkakeln, werden sich meine Schreckensphantasien sicher komplett verflüchtigen. Meine beste Freundin hat nämlich eine sehr angenehme Eigenschaft: Egal, wie schlimm die Katastrophe auch sein mag, sie kann selbst im größten Unglück noch etwas Positives entdecken. Ein echter Sonnenschein ist sie, eine fröhliche Blondine, die mit bewundernswerter Gelassenheit durchs Leben geht. Beneidenswert, manchmal wäre ich gerne auch ein bisschen so. Aber ich bin’s halt nicht und stecke eben in meiner eigenen Haut.

Ich greife nach meinem bimmelnden Handy und nehme das Gespräch entgegen. »Stella Wundermann«, melde ich mich.

»Hallo, meine Schöne! Wo steckst du denn?«

Mist! Tim Lievers von den Reeperbahnjungs. Den Termin mit ihm und seiner Band hatte ich in dem Chaos jetzt komplett vergessen!

»Sorry, ich hab’s total vergessen«, gebe ich ehrlich zu.

»Vielen Dank für den Tritt gegen mein Ego!«, erklingt es am anderen Ende der Leitung. »Höre ich immer wieder gern, dass man mich vergessen hat. Vor allem, wenn es von hübschen Mädels kommt!«

Ich muss lachen. Vor allem, weil ihm anzuhören ist, dass er nur beleidigt spielt.

»Tut mir echt leid«, sage ich noch einmal, »ich hatte heute einen Höllentag im Büro, da habe ich unser Treffen echt verschwitzt.«

»Was war denn los?«, will er sofort besorgt wissen. Ja, das sind sie, die Momente, die ich an meinem Job manchmal auch so liebe: Wenn mir gutaussehende, charmante Männer das Gefühl vermitteln, ich sei der Nabel der Welt. Auch wenn diese gutaussehenden und charmanten Männer das vermutlich nur tun, weil sie sich einen Plattenvertrag von mir erhoffen. Aber wer will da schon kleinlich sein?

»Ach, nix Besonderes«, wiegele ich ab und habe dabei fast ein schlechtes Gewissen. Denn die neue Situation betrifft ihn ja irgendwie auch, nur kann ich ihm das ja nicht sagen.

»Kommst du denn jetzt?«, fragt er. »Die Jungs und ich warten schon seit einer halben Stunde.« Ich blicke an mir hinunter: Mittlerweile stecke ich in ausgeblichenem T-Shirt und Jogginghose, meine Haare habe ich auf dem Kopf zu einem Dutt drapiert, und weil ich die Verabredung mit den Reeperbahnjungs vor lauter Aufregung tatsächlich vergessen habe, ziert mein Gesicht eine schlammfarbene Entspannungsmaske.

»Äh, also … das würde leider noch eine ganze Weile dauern.« Ich überschlage schnell den Umfang der nötigen Restaurierungsarbeiten: mindestens eine halbe Stunde, dann noch eine halbe Stunde Fahrt zum Probenraum auf einem alten Fabrikgelände in Moorfleet. »Bestimmt noch eine Stunde«, teile ich ihm zerknirscht mit.

»Hmm, doof«, erwidert Tim. »Zwei von uns müssen in einer Dreiviertelstunde spätestens weg.«

»Sollen wir es auf nächste Woche verschieben?«

Er schweigt kurz. »Können wir machen«, sagt er dann; die Enttäuschung in seiner Stimme springt mir förmlich entgegen.

»Tut mir echt leid«, setze ich noch einmal an, aber Tim unterbricht mich.

»Ich hab eine Idee: Was hältst du davon, wenn ich mir die CD mit unseren neuen Songs schnappe und bei dir vorbeikomme? Dann können wir sie uns da anhören.«

»Neee«, antworte ich zögerlich, »lieber nicht.«

»Ist es bei dir so unaufgeräumt?«, foppt er mich.

»Nein, gar nicht, ich weiß nur nicht …«

»Verstehe, brauchst mir nichts zu erklären.« Er lacht. »Willst du zu mir kommen?«

»Also, Tim, ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee ist.«

»Keine Angst, ich beiße dich schon nicht.«

»Das sagen sie alle!«, mache ich den lahmen Versuch eines Witzes. Denn tatsächlich komme ich mir selbst gerade richtig spießig vor. Nur halte ich eben nichts davon, Berufliches und Privates zu vermischen. Wobei der Umstand, dass man sich zu Hause zusammen eine Demo-CD anhört, natürlich noch nicht zwingend was mit Vermischen zu tun hat. Aber immer wenn ich Tim sehe oder mit ihm spreche, flirtet er mich spürbar an, das war schon bei unserem ersten Gespräch nach dem Konzert im Logo so. Natürlich schmeichelt es mir, aber ich blocke es immer ab. Wie soll ich schließlich wissen, ob er wirklich mich meint und nicht eher meine Funktion als A&R-Managerin? Und wenn es mit der Band und Elb – …World Records klappt, kann so eine Verwicklung im Zweifel nur zu Problemen führen. Nein, nein, nein, davon lasse ich lieber die Finger. Auch wenn Tim wirklich ein verdammt attraktiver und netter Kerl ist.

»Okay«, er seufzt, »dann lass uns doch irgendwo in einem Lokal treffen. Ich möchte dir die Sachen einfach gern vorspielen, weil ich schon so neugierig bin, was du davon hältst. Ich platze schon fast!«

»In Ordnung«, willige ich ein. »Direkt bei mir um die Ecke in Ottensen ist ein nettes Café, in dem es auch nicht so laut und voll ist. Lass uns in einer guten halben Stunde da treffen.« Ich sage ihm den genauen Namen und die Adresse, dann lege ich auf.

Als ich ins Badezimmer komme und mein Spiegelbild mir eine Art Schlammmonster zeigt, übermannen mich einige Zweifel, dass es mit einer halben Stunde Restaurationsarbeit getan sein wird. Aus dem von Miri verordneten locker und entspannt wird also erst einmal nichts – jetzt ist Hochleistung angesagt!

 

Dreißig Minuten später stürme ich ins Café. Tim sitzt schon an einem Tisch in der Ecke – und sieht wie immer großartig aus. Als wäre er einem Katalog für Trendmode entsprungen, ohne dabei aufgemotzt zu wirken. Sein weißes, enges Shirt bildet einen interessanten Kontrast zu seinem dunklen Hauttyp, unter dem dünnen Stoff zeichnet sich deutlich seine ausgeprägte Armmuskulatur ab (ich kann es nur immer wieder sagen: Jungs, lernt Gitarre spielen! Das finden Frauen nicht nur romantisch, es ist auch gut für die Muckis!). Außerdem trägt er schwarze Jeans und lässige Camelboots. Als ich neben ihm Platz nehme, werfen mir die weiblichen Gäste im Café neidische Blicke zu, und auch der Kellner, der zwei Minuten später an unseren Tisch tritt, hat ausschließlich Augen für Tim; meine Bestellung – eine Apfelsaftschorle – notiert er, ohne mich überhaupt anzusehen. Doch, Tim wird ein Rockstar, ich weiß es! Bei dem Aussehen ist es schon fast vollkommen egal, wie die Musik ist. Zur Not könnte man es wie bei Milli Vanilli machen – jemand anderes singt, und Tim muss sich lediglich darauf beschränken, gut auszusehen. Und, Himmel, das könnte er!

»Dann wollen wir mal«, meint Tim, nachdem der Kellner uns unsere Getränke gebracht hat, und schiebt mir einen Discman rüber. Ich setze die Ohrstöpsel ein, drücke auf Play und lausche gespannt. Schon die ersten Takte machen Laune, das ist deutscher Rockpop vom Feinsten, und als dann irgendwann Tims Stimme erklingt, hat sich der Gedanke mit Milli Vanilli komplett erledigt. Die vergangenen sechs Wochen, die er und die Reeperbahnjungs noch mal fleißig ranmussten, haben sich echt gelohnt. Zuerst wollten sie nicht, aber ich konnte sie zum Glück davon überzeugen: Irgendetwas fehlt euch noch, Jungs, und wenn ihr das nicht findet oder gar nicht erst suchen wollt, dann seid ihr okay, aber nicht so gut, wie ihr sein könnt. Und jetzt sind die Stücke wirklich alle sehr melodisch, totale Ohrwürmer. Mal singt Tim in Wenn das alles war davon, wie verrückt es ist, wenn man sich trennt, obwohl man sich noch liebt.

Wenn das alles war (00:29)

Audio: Wenn das Alles war (00:29)

 

In Gegen die Zeit geht es um ein Pärchen, das sich vor lauter Arbeit und Karriere aus den Augen verloren hat.

Gegen die Zeit (00:27)

Audio: Gegen die Zeit (00:27)

 

Der Song Der wartende Mann handelt von jemandem (Tim?), der vor einer Bar auf seine Traumfrau wartet.

Der wartende Mann (00:27)

Audio: Der wartende Mann (00:27)

 

Bei dem Lied spüre ich fast ein bisschen Eifersucht in mir aufsteigen – und ich bekomme sogar eine Gänsehaut.

»Und?«, will Tim wissen, als ich die Kopfhörer rausnehme. Er sieht mich an, als würde er jeden Augenblick erfahren, ob er den Sechser im Lotto mit Superzahl nun gewonnen hat oder nicht.

»Nun«, fange ich gedehnt an, »lass es mich so formulieren …« Ich mache eine kleine Pause und genieße mit leicht fieser Freude, dass Tim sein Glas so fest umklammert, dass die Knöchel seiner Finger weiß hervortreten.

»Sag schon!«, quengelt er ungeduldig.

»Das ist super«, sage ich so lapidar, als könnte es gar keine andere Antwort geben.

Tim sieht mich regelrecht geschockt an. »Echt?«, will er wissen.

Ich nicke breit grinsend. »Ja, ist es.«

»Dann nimmst du uns jetzt unter Vertrag?«

Autsch, blöde Frage! Denn unter normalen Umständen müsste ich eigentlich ja sagen. Beziehungsweise, dass ich die Demos nun Lutz vorspielen werde und mir sicher bin, dass es daraufhin einen Künstlervertrag für ihn und seine Jungs gibt. Aber so, wie die Dinge im Moment liegen, kann ich das ja gar nicht, da sind mir die Hände gebunden. Und ich darf es ihm nicht einmal erzählen, weil ich zur Geheimhaltung verdonnert worden bin! Eine echt blöde Situation.

»Hm, tja«, sage ich, »die Sachen sind schon echt klasse, keine Frage …« Was sage ich ihm bloß, was sage ich ihm bloß … »Aber irgendwas fehlt noch.« Okay, zugegeben, das kommt nun nicht ganz überzeugend, aber es hat einmal funktioniert, wieso nicht noch ein zweites Mal? Davon abgesehen: Was dem Album noch fehlt, ist der eine, richtige Knaller. Dieser eine ganz bestimmte Hit, der die Band auf einen Schlag bekannt machen wird. Aber ich gehe da jetzt lieber nicht zu sehr ins Detail – so leid es mir tut, ich muss Tim und die Jungs noch ein bisschen schmorenlassen.

»Was soll denn da noch fehlen?« Tim schaut mich verständnislos und ein bisschen verärgert an. »Das sind Tracks, die alle funktionieren und von denen wir restlos überzeugt sind!«

»Ja, sicher«, winde ich mich und spüre, wie meine Hände feucht werden. Ich möchte Tim wirklich nicht anlügen, weiß aber auch nicht, wie ich ihm sonst erklären soll, dass ich ihm immer noch keinen Vertrag gebe.

»Vielleicht sollten wir«, meint er und sieht mich fast ein bisschen feindselig an, »es langsam mal bei einem anderen Label versuchen.«

»Was?«, rufe ich entsetzt.

Tim zuckt mit den Schultern. »Warum nicht? Wir eiern da jetzt schon so lange rum, dass ich manchmal glaube, du willst unsere Band gar nicht haben.« Noch immer guckt er böse, keine Spur mehr von dem flirtigen Lächeln, das er sonst immer für mich übrighat, und mich beschleicht der leise Verdacht, dass er mich ohne Vertrag doch nicht mehr so toll findet, wie er immer tut. »Ich könnte ja mal zu World Music gehen oder so«, teilt er mir mit.

»Nein!« Das schreie ich beinahe, gleichzeitig greife ich wie im Reflex nach seinen Händen und drücke sie fest. »Du musst mir da vertrauen, bitte, ich brauche nur noch ein paar Wochen Zeit, das ist alles!« In diesem Moment wird mir bewusst, dass ich gerade Tims Finger umklammere, ich räuspere mich verlegen und lasse ihn los.

»Okay«, jetzt wirkt er nicht mehr verärgert, sondern amüsiert, er schmunzelt mich an, und ein Grübchen tritt auf seine linke Wange. »Ich wollte nur wissen, ob es dir wirklich noch ernst ist, aber deine Reaktion hat mich überzeugt.«

»Das freut mich«, stelle ich erleichtert fest.

»Aber ich habe eine Bedingung«, erklärt er mir dann.

»Was für eine Bedingung? Wofür?«

»Damit ich nicht zu einem anderen Label gehe.«

»Und die wäre?«, frage ich und nehme einen Schluck von meiner Schorle.

»Dass du noch einmal meine Hände nimmst wie gerade eben.« Vor Schreck verschlucke ich mich und spucke ein bisschen von meiner Schorle auf sein Shirt. Tim bricht in lautes Gelächter aus und wischt mit einer Hand die Spritzer weg, die sich aber natürlich nicht vom Stoff entfernen lassen. »Na, das war ja mal wieder eine ganz charmante Reaktion, Fräulein Wundermann!«

»Sorry«, bringe ich keuchend hervor.

»Schon gut«, er macht eine wegwerfende Handbewegung. »Aber dann gehst du jetzt wenigstens mit mir aus. Als Strafe dafür, dass ich noch länger warten muss – und dafür, dass du mich und die Jungs vorhin versetzt hast.«

»Na gut«, willige ich ein, »Strafe muss sein.« Wir grinsen uns an – und während ich leicht versonnen das Grübchen betrachte, das sich dabei wieder auf seiner Wange bildet, muss ich zugeben, dass es eine schlimmere Strafe geben kann, als mit Tim Lievers auszugehen.

 

»Weißt du«, erzählt Tim, als wir eine halbe Stunde später im Hamburger Schulterblatt vor einem der vielen Straßencafés sitzen, jeder ein Glas Wein vor sich – beziehungsweise: ich eine Weinschorle, denn auch wenn wir jetzt miteinander »ausgehen«, bin ich schließlich immer noch im Job, »ich habe schon während der Schulzeit in verschiedenen Bands gesungen und gespielt. Dabei habe ich immer davon geträumt, irgendwann mal ein eigenes Album aufzunehmen.« Er dreht das Glas zwischen seinen Händen und sieht dabei regelrecht versonnen aus. »Und dass es jetzt vielleicht bald schon so weit ist, kann ich kaum fassen.«

»Momentan arbeitest du noch als Redakteur bei einer Zeitschrift, oder?«, frage ich und versuche damit, das Thema zu wechseln, denn eigentlich möchte ich vorerst nicht mehr über den Plattenvertrag reden.

»Das hab ich gemacht«, sagt er, »letzten Monat hab ich allerdings gekündigt.«

»Gekündigt?«, wiederhole ich erstaunt.

»Ja«, er nickt. »Ich will mich einfach voll und ganz auf die Band konzentrieren, und mit einem Job als Journalist, bei dem ich immer bis spät in die Nacht arbeite, geht das nicht.«

»Verstehe.« Ich hoffe, ich bin jetzt nicht so weiß um die Nase, wie es sich gerade anfühlt. Denn diese Information ist ein kleiner Schock für mich. Tim hat seine Stelle hingeschmissen? Einfach so? Ist der denn wahnsinnig? Ich spüre ein unangenehmes Kribbeln in den Händen, denn durch diese Neuigkeit wird in mir natürlich wieder schlagartig das schlechte Gewissen geweckt. Was, wenn es mit dem Album doch nicht klappt? O Gott, o Gott, es muss klappen!

»He«, unterbricht Tim meine Gedanken, »du siehst ja auf einmal so ernst aus. Hab ich was Falsches gesagt?«

»Äh, nein«, stottere ich. »Mir ist nur gerade ein bisschen kalt.«

»Willst du meine Jacke haben?«, fragt er und ist schon dabei, sie auszuziehen. Ich nicke. Tim steht auf und legt sie mir um. Dabei berührt seine Hand kurz meine Schulter, was mich leicht zusammenzucken lässt, als hätte ich einen Stromschlag bekommen. »Du frierst ja wirklich richtig, sollen wir vielleicht lieber reingehen?«

»Nein, ist schon gut.« Gekündigt, gekündigt, gekündigt, hämmert es ununterbrochen durch meinen Kopf. Tim setzt sich wieder hin. »Und, äh«, will ich wissen, »wovon lebst du dann jetzt?«

»Ich hab was gespart«, antwortet er mit einem Schulterzucken. »Damit komme ich noch eine Weile hin. Und wenn alle Stricke reißen, kann ich ja immer noch freiberuflich arbeiten.« Ich unterdrücke ein erleichtertes Seufzen, Tim soll schließlich nicht merken, dass mir hier gerade mal kurz der Pöppes auf Grundeis ging. Er lächelt mich an. »Aber ich gehe natürlich fest davon aus, dass wir schon sehr bald einen Vertrag machen können.«

»Ja, sicher«, ich nicke schnell, um keine Zweifel aufkommen zu lassen. Nicht dass er mir sonst gleich wieder sagt, er wolle sich bei einem anderen Label bewerben.

»Natürlich weiß ich«, fährt er fort, »dass das kein leichter Weg wird, der vor mir liegt. Ein eigenes Album ist ja nur der Anfang. Aber ich habe so lange davon geträumt, Musiker zu sein, dass ich dafür auch die Gefahr in Kauf nehme, irgendwann mal unter einer Brücke zu landen.«

Ich muss lachen.

»Was ist so lustig?«

»Na ja«, antworte ich und nehme einen Schluck von meiner Weinschorle, »mein größter Traum ist der, auf gar keinen Fall irgendwann unter einer Brücke zu landen.«

»Das Risiko besteht ja wohl nicht.«

Wenn der wüsste, denke ich kurz finster, schüttele aber nur lächelnd den Kopf.

»Jedenfalls«, erzählt Tim weiter, »war ich während der Schule ein ziemlicher Außenseiter. Der Spinner mit der Gitarre, der jede freie Minute im Keller seiner Eltern verbracht hat, um da Musik zu machen.«

»Du hattest eben ein klares Ziel«, stelle ich bewundernd fest und habe gleichzeitig ein Bild vor Augen: der kleine Tim, wie er Akkorde übt und dabei vor lauter Eifer die Zungenspitze rausstreckt. Süß!

»Schon. Aber es hatte auch etwas damit zu tun, dass ich nicht sonderlich beliebt war und kaum Freunde hatte. Von den Jungs, mit denen ich zusammen gespielt habe, jetzt mal abgesehen.«

»Nicht sonderlich beliebt?«, frage ich erstaunt nach. »Du?«

Er verzieht das Gesicht zu einem schiefen Grinsen. »Wie das so ist, wenn man pummelig und pickelig ist und noch dazu eine Brille mit Glasbausteinen trägt. Da ist man nicht gerade der Liebling von allen, sondern eher ein beliebtes Opfer für Hänseleien.«

»Pummelig?« Der verarscht mich doch gerade, oder? »Pickel und dicke Brille? Das kann ich mir nicht vorstellen!«

Tim lacht. »Davon würde ich dir auch abraten, ich habe alle Fotos von damals vernichtet. Ich sah echt schrecklich aus!«

»Schade«, gebe ich kichernd zurück, »davon hätte ich gern mal eins gesehen.« Er schüttelt den Kopf und setzt eine betont ernste Miene auf.

»Selbst, wenn ich noch ein Bild hätte – würde ich es dir zeigen, müsste ich dich anschließend mit einem Betonklotz an den Füßen in der Elbe versenken.«

»Oh!« Ich gebe mich gespielt entsetzt. »Das wollen wir natürlich auf gar keinen Fall!«

»Nein, das wollen wir nicht. Und für eine Wasserleiche wärst du viel zu schade.« Einen Moment lang sehen wir uns schweigend an, und schon wieder spüre ich ein Kribbeln. Diesmal allerdings kein unangenehmes. Tims große braune Augen glänzen im schummrigen Licht der Straßenlaternen. Erst jetzt fallen mir die irre langen Wimpern auf, die sie umrahmen. Ich räuspere mich verlegen.

»Und jetzt, äh, trägst du also Kontaktlinsen?«, frage ich. Tim wirkt kurz irritiert, dann schüttelt er den Kopf.

»Ich hab mir die Augen vor ein paar Jahren lasern lassen«, erklärt er.

»Ach, echt, das hast du machen lassen?«, hake ich nach und komme mir in diesem Moment relativ dämlich vor, weil ich selbst merke, wie furchtbar verkrampft ich wirke. Und als wäre das nicht schon blöd genug, schiebe ich noch ein: »Das hätte ich mich ja nicht getraut, da hätte ich zu großen Schiss gehabt, dass was schiefgeht.«

»Tja«, Tim scheint einen Moment lang seinen Gedanken nachzuhängen, »wer nichts wagt, der nichts gewinnt.«

»Kommt drauf an, was man zu verlieren hat«, plappere ich weiter, »und sein Augenlicht …«

»Stella«, werde ich von ihm lächelnd unterbrochen, »willst du jetzt allen Ernstes mit mir über Augenlasertherapien reden?«

Ich senke den Kopf und fixiere mein Glas. Dann blicke ich ihn wieder an. »Nein, du hast recht. Eigentlich nicht.«

»Gut. Dann erzähl mir lieber ein bisschen von dir.«

»Was willst du denn wissen?«

Er zuckt mit den Schultern. »Zum Beispiel, wie die kleine Stella so war.«

»Ach«, ich mache eine wegwerfende Handbewegung. »Ganz normal eigentlich, so wie alle anderen Mädchen.«

»Bist du in Hamburg aufgewachsen?«

»Nein, in Bremen. Ich bin erst nach dem Abitur hierhergezogen und habe eine Ausbildung angefangen.«

»Leben deine Eltern noch dort?«

»Ja«, erwidere ich. »Das heißt, meine Mutter. Meinen Vater habe ich zum letzten Mal gesehen, als ich sechs war.«

»Das tut mir leid.«

»Ist schon lange her«, wiegele ich ab. Wieder entsteht ein Schweigen, das diesmal von Tim unterbrochen wird.

»Und du wolltest immer in die Musikbranche?«, will er wissen.

»Ja«, gebe ich zu. Und nachdem er mir sein Pummelig-Pickelig-Geständnis gemacht hat, füge ich noch mit einem Augenzwinkern hinzu: »Als Mädchen wollte ich sogar auch eine Zeitlang mal Sängerin werden.«

»Ehrlich?«

»Ja«, gestehe ich und nicke. »Ich hab mit einer Kleiderbürste in der Hand in meinem Zimmer gestanden und Songs von Nena geschmettert.« Ich lache. »Was man als Kind halt so macht.«

»Lass doch mal was hören!«, fordert er mich auf.

Ich starre ihn entsetzt an. »Auf gar keinen Fall!«

»Warum denn nicht?«

»Weil mein Geträller höchstens für die Dusche taugt, darum nicht.«

»Würdest du das bitte den Profi beurteilen lassen?«, meint er in neckendem Tonfall.

»Ich bin auch Profi«, stelle ich fest. »Und außerdem sitzen wir hier in einem Café und sind von Menschenmassen umzingelt.«

»Na und?« Er guckt mich nahezu verständnislos an. »Manche Leute singen hier sogar und gehen anschließend mit dem Hut rum!«

Ich schüttele den Kopf. »Glaub mir, ich würde es höchstens schaffen, dass hier ratzfatz alle Plätze frei werden.«

»Auch schön«, Tim grinst. »Dann wären wir ganz allein.«

»Kommt trotzdem nicht in Frage«, sage ich und ignoriere seinen flirtenden Tonfall.

»Na gut«, er lehnt sich auf seinem Stuhl zurück, verschränkt die Arme vor der Brust und bedenkt mich mit einem breiten Grinsen. »Aber irgendwann werde ich dich schon noch mal zum Singen bringen«, erklärt er.

Und ich denke: Träum weiter, Schnucki!