16. Kapitel

 

Ich bekomme nicht reichlich Gelegenheit, mit Tim zu reden. Genau genommen bekomme ich gar keine Gelegenheit dazu, denn er ignoriert mich komplett. Als ich ihn nach dem Auftritt seiner Band an der Bühne abfange und ihn frage, ob wir kurz miteinander reden können, geht er einfach wortlos an mir vorbei (was, wie ich bemerke, von Martin aus einiger Entfernung amüsiert beobachtet wird). Den restlichen Abend unterhält er sich mit all meinen Kollegen, nur mich würdigt er keines Blickes.

Um kurz vor Mitternacht starte ich einen letzten verzweifelten Versuch, doch noch mit ihm zu reden, und gehe direkt auf ihn zu. Darauf, dass er gerade mit Robert und Oliver zusammensteht, kann ich keine Rücksicht nehmen, ich muss die Sache mit ihm einfach klären.

»Würdest du bitte mal einen kurzen Moment mitkommen?«, frage ich ihn. »Ich muss wirklich dringend mit dir sprechen!« Er dreht sich zu mir um und sieht mich noch genauso böse wie vorhin von der Bühne aus an.

»Aber ich nicht mit dir, Stella, also lass mich bitte einfach in Ruhe.«

»Tim, das ist doch nur ein Missverständnis, das können wir doch klären, das ist …«

»Hast du mich nicht verstanden?«, unterbricht er mich so heftig, dass sogar Oliver und Robert vor Schreck zusammenzucken und ihn überrascht mustern. »Ich will nicht mit dir reden, also hau ab!« Einen Moment lang starre ich ihn fassungslos an. Dann gehe ich weg. Es hat ja offenbar keinen Sinn, mit ihm zu reden. Er hasst mich, das ist mehr als eindeutig. Und dieser Hass ist wie ein Stich mitten ins Herz, der sich ganz und gar schrecklich anfühlt.

Traurig schleppe ich mich um die Herberge herum zur Rückseite des Haupthauses, hocke mich auf eine der Bänke, die dort stehen, und gucke ratlos ein paar Löcher in die Luft. Was nun? Ich krame mein Handy hervor, habe aber wie immer keinen Empfang, genau genommen könnte ich das blöde Mistding gleich wegwerfen. Alles doof!

»In Ordnung.«

Ich fahre erschrocken zusammen!

Tim lässt sich direkt neben mir auf die Bank plumpsen. »Du willst reden? Also, dann rede!« Der Ton, in dem er mich zum Gespräch auffordert, klingt allerdings nicht gerade danach, als dürfte ich ein nettes Plauderstündchen erwarten. Aber immerhin: Er ist mir nachgekommen!

»Okay«, fange ich etwas unsicher an. »Zuerst einmal möchte ich mich bei dir entschuldigen.«

»Wofür?«

»Dass ich dich so lange hingehalten habe. Aber du musst mir glauben, dass ich das nicht mit Absicht gemacht habe. Ich konnte nicht anders, die Situation hat mich dazu gezwungen.«

»Dein Kollege konnte schon anders.«

»Weil er sich gegen die Regeln …« Ich unterbreche mich. Was hat David Dressler gerade über die Regeln gesagt? »Ich habe einen Fehler gemacht«, gebe ich deswegen zu, »und ich hätte dir sagen müssen, was los ist.«

»Einen Fehler gemacht? Stella, du hast mich in dem Glauben gelassen, unsere Songs seien noch nicht gut genug, um einen Vertrag abzuschließen und ins Studio zu gehen.«

»Ich finde auch tatsächlich, dass wir noch ein bisschen an den Kompositionen arbeiten müssen«, rechtfertige ich mich.

»So?« Tim zieht die Augenbrauen hoch. »Martin und dein Chef sind total begeistert, sie haben uns sogar einen Bandübernahmevertrag angeboten und wollen sofort loslegen. Sie finden unsere Songs so gut, wie sie sind.«

»Das ist es also!«, rufe ich und spüre schon wieder die Wut in mir aufsteigen. »Martin hat dir Honig um den Bart geschmiert!«

Tim schüttelt den Kopf. »Nein, er ist von uns einfach nur komplett überzeugt.«

»Das bin ich doch auch!«

»Davon habe ich nicht viel gemerkt«, gibt Tim zurück. »Wochenlang, ach was, monatelang hast du mich und die Jungs hingehalten, hast uns ein Stück nach dem nächsten schreiben und einstudieren lassen.«

»Das war doch nur zu eurem Besten! Ich wollte das Optimum erreichen.« Ich sehe ihn eindringlich an. »Und du musst doch zugeben, dass du dadurch noch viel mehr aus dir rausgeholt hast!«

»Für mich hat es sich eher angefühlt, als sei ich der blöde Esel, dem du ständig eine Karotte vor die Nase hältst, an die er sowieso nie rankommt.«

»Quatsch, ich …«

»Und dann tauchst du auch noch komplett ab«, unterbricht Tim mich, »sagst nicht mal, wohin, und ich kann dich überhaupt nicht mehr erreichen. Stehe da wie blöde, weiß überhaupt nicht, was los ist und wie es weitergeht, Stella ist einfach verschwunden.«

»Mein Handy hat hier in der Pampa keinen Empfang.«

»Tja«, kommt es sarkastisch, »das war dann wohl Glück für deinen Kollegen, dass er den besseren Netzbetreiber hat.« Mittlerweile haben sich Tims Augen zu schmalen Schlitzen verengt. »Nachdem ich dich nie erreichen konnte, habe ich irgendwann die Nummer gewählt, von der aus du mich mal angerufen hattest. Weil ich gehofft hatte, dich da zu erwischen. Und ich muss sagen, es war sehr, sehr interessant, was ich alles von Martin erfahren habe!«

»Was denn?«, will ich kleinlaut wissen.

»Zum einen das mit dem verkauften Label. Und dann noch, dass er auch A&R-Manager ist, bei der früheren World Music. Das hattest du mir im Atlantic ja vorsichtshalber verschwiegen, und deshalb sollte er auch nicht wissen, dass ich Musiker bin.«

»Na ja, es ist so, dass …«, will ich mich verteidigen, aber Tim würgt mich ab.

»Und dann hat er mir noch erzählt, dass du mit ihm schläfst.«

Ich schnappe nach Luft. Das hatte ich zwar schon irgendwie befürchtet, aber dass Martin es tatsächlich fertiggebracht hat, Tim von unserer gemeinsamen Nacht zu erzählen, haut mich kurz um. Hat der eigentlich noch irgendwelche Skrupel? Scheinbar nicht, das muss ein komplettes Fremdwort für ihn sein.

»Wann hat er dir das erzählt?«, hake ich nach.

»Gleich bei unserem ersten Telefonat.«

»Wann war das?« Tim überlegt einen Moment.

»Am Samstagmittag.« Samstag! Das muss der Anruf gewesen sein, den Martin erhalten hat, als wir im TV-Studio zusammen Nudeln gegessen haben. So ein Schwein, ich war sogar dabei, als sein Handy geklingelt hat, da hätte er mir Tim doch einfach geben können!

»Aber was er dir da erzählt hat, stimmt nicht!« Also, zumindest bis gestern Nacht hat es nicht gestimmt, füge ich im Geiste hinzu. Hat dieses Arschloch das alles geplant? Hatte er schon am Samstag vor, mich in die Kiste zu zerren und das dann bei Tim gegen mich zu verwenden?

»Nein? Es stimmt nicht, was Martin sagt?« Tim sieht mich durchdringend an. In seinem Blick liegt etwas nahezu Bittendes, als würden seine braunen Augen mich anflehen, jetzt einfach zu sagen, dass es nicht wahr ist und Martin sich das alles wirklich nur aus den Fingern gesogen hat. Und es wäre so einfach, war ja schließlich niemand dabei, und mein lieber Herr Kollege könnte das Gegenteil nicht beweisen. Sein Wort gegen meins, und im Zweifel für die Angeklagte!

Aber wie Tim jetzt so neben mir sitzt, mit dieser Hoffnung in den Augen, bringe ich es einfach nicht übers Herz, ihn ein weiteres Mal anzulügen. Ich habe ihn sowieso schon auf ganzer Linie enttäuscht, wenn ich jetzt noch einmal schwindele, hätte ich mit Recht sein komplettes Vertrauen verloren.

»Doch«, gebe ich zu. »Es stimmt.«

Tim zieht scharf die Luft ein.

»Allerdings nur einmal«, schiebe ich eilig hinterher, »gestern Nacht. Und es hat mir nichts bedeutet. Tim, du musst mir wirklich glauben: Martin hat mich reingelegt.« Schweigend blickt er mich an. Das Flehen ist aus seinem Blick verschwunden, aber er wirkt auch nicht wütend, sondern einfach nur traurig. Wie im Reflex greife ich nach seiner Hand, aber er entzieht sie mir.

»Weißt du, Stella«, sagt er und steht auf, »ich habe mich schon oft gefragt, was dir überhaupt etwas bedeutet.« Er geht davon.

»Tim«, rufe ich ihm hinterher, »ihr bedeutet mir etwas! Die Reeperbahnjungs und … und du! Wirklich!« Er dreht sich noch einmal um und kommt zurück zu mir.

»Du hast mal gesagt, dass man Berufliches und Privates am besten voneinander trennen sollte. Und weißt du was? Ich glaube, damit hast du verdammt recht. Deshalb ist es wirklich die beste Entscheidung, ab sofort mit Martin zusammenzuarbeiten.«

»Tim!«, rufe ich noch einmal. Aber er geht wortlos weg. Ich bleibe auf meiner Bank hocken. Ich fühle mich schrecklich, als hätte mich das kurze Gespräch mit Tim komplett ausgehöhlt. Ich bin nur noch eine leere Hülle.

Nein, nicht ganz. Denn während ich da so sitze und vor mich hin starre, erwacht in mir ein Gedanke, der mich mit neuer Energie durchströmt: Martin Stichler, ab sofort herrscht zwischen uns Krieg!

 

Später rufe ich von meinem Zimmer Mama an, nachdem Hilde mir netterweise ihr Handy gegeben hat, deren Provider ganz offensichtlich auch mehr taugt als meiner. Als meine Kollegin wissen will, wie mein Gespräch mit David war, habe ich nur müde abgewunken und ihr erklärt, ich würde es ihr morgen erzählen. Jetzt liegt erst einmal eine dringende Strategiebesprechung an, damit ich die nächsten Tage in der Heide wenigstens halbwegs überlebe. Und dafür brauche ich einfach Mamas Rat.

»O mein Gott!« Wie zu erwarten, ist meine Mutter komplett entsetzt, nachdem ich sie in knappen Worten über die aktuelle Lage in Kenntnis gesetzt habe. »Was hast du denn da bloß angestellt? Das ist ja eine Katastrophe!«

»Hm, ja, schon«, gebe ich ihr recht, auch wenn ihr schneidender und so unendlich enttäuschter Tonfall mich wie eine Ohrfeige trifft. »Das war schon ziemlich dumm von mir. Aber Martin war plötzlich einfach so nett.« Ihr gegenüber habe ich aus der gemeinsamen Nacht nur eine heftige Knutscherei gemacht; Mutti muss schließlich nicht alles wissen. Ein Seufzen erklingt am anderen Ende der Leitung.

»Aha: so nett, ja? Dabei habe ich es dir doch oft genug gesagt! Warum hörst du denn nicht auf mich?«

»Ich habe gedacht …«

»Gedacht? Papperlapapp, wenn ich das schon höre!«

»Aber, ich …«

»Hör mir zu, mein Schatz!«, weist sie mich streng zurecht. »Nun ist keine Zeit für Entschuldigungen, jetzt ist Schadensbegrenzung angesagt.«

»Und wie soll ich das anstellen?«

»Du meintest doch, euer Chef hätte sich Notizen über euch gemacht, oder?«

»Das hat er jedenfalls gesagt, und er schreibt manchmal auch was in dieses komische Buch, aus dem die Übungen stammen.«

»Dann musst du dir das dringend besorgen und einen Blick reinwerfen. Vielleicht hat er ja aufgeschrieben, was ihm Positives an dir und Negatives an diesem Stichler aufgefallen ist, und damit kannst du dir einen Vorteil verschaffen.«

»Das habe ich auch schon längst überlegt, aber David lässt das Buch nie irgendwo rumliegen.«

»Was ist denn mit seinem Zimmer?«

»Ich kann ja wohl schlecht in sein Zimmer einbrechen!«, sage ich entsetzt.

»Wieso nicht?«, will Mama herausfordernd wissen. »Dieser Stichler hat das bei dir ja auch gemacht, und dein Chef scheint das völlig in Ordnung zu finden. Manchmal muss man es den Männern mit gleicher Münze heimzahlen.«

»Hmm …« Ich überlege einen Moment. Irgendwie hat Mama recht. Und David hat selbst gesagt, dass man hin und wieder handeln muss. Und dass es Leute gibt, die sich nur an die Regeln halten, die sie für sich selbst aufstellen. Aber möchte ich wirklich einer von denen sein?

Andererseits: Wenn es mir gelänge, mal in das Buch zu gucken, könnte ich vielleicht wirklich wieder einiges geradebiegen. Und ich wüsste endlich, ob mein Job schon gefährdet ist.

»Okay«, sage ich mit leicht wackliger Stimme, »ich werde es versuchen.«

»Halt mich unbedingt auf dem Laufenden«, ordnet Mama wie ein erprobter Feldwebel an, aber immerhin schickt sie noch ein »ja, mein Schatz?« hinterher.

 

»Und?«, will Hilde am nächsten Morgen wissen, als ich in den Speisesaal komme und mich neben sie setze. »Wie ist es denn gestern gelaufen? Ich bin doch schon so neugierig, also spann mich nicht länger auf die Folter.«

»Nicht so toll«, erkläre ich ihr. »David meinte, ich solle das mit Tim Lievers klären, und der wiederum hat mir klipp und klar gesagt, dass er mit Martin arbeiten will und nicht mit mir.« Mein Blick wandert hinüber zur anderen Seite des Raumes, wo die soeben Erwähnten in trauter Runde sitzen, miteinander frühstücken und sich lachend unterhalten.

»Na ja, Kindchen«, sagt meine Kollegin und zwinkert mir zu. »Das ist nicht das Ende der Welt. Denk immer schön an Epikur.«

»Wenn ich ehrlich bin, tröstet mich das gerade nicht so richtig«, sage ich etwas unwirsch. »Die Reeperbahnjungs sollten mein großer Deal werden!«

»Nun warte doch erst einmal ab«, rät Hilde. »Wir haben zwei gemeinsame Tage vor uns, vielleicht bietet sich noch einmal die Gelegenheit zu einer Aussprache.«

»Glaube ich kaum«, gebe ich zurück. »Tim war gestern Abend mehr als deutlich.«

»Ach, Männer!« Das ist genau das, was Mama auch sagen würde, aber Hilde lacht dabei und nimmt sich aus dem Brotkorb vor uns ein glänzendes Buttercroissant. »Du hast ihn wahrscheinlich nur in seiner Eitelkeit getroffen, und jetzt schmollt er. Glaub mir, in ein paar Tagen ist sein Ärger verraucht, der kriegt sich schon wieder ein.«

»Meinst du?« Sie nickt.

»Ich kann doch sehen, dass er dich mag.« Noch einmal drehe ich den Kopf Richtung David, Martin und Tim – und erwische Tim tatsächlich dabei, wie er gerade zu mir rüberblickt. Sofort verdüstert sich seine Miene, und er wendet sich wieder seinen beiden Gesprächspartnern zu. Zuneigung sieht irgendwie anders aus, finde ich.

»Wir werden sehen«, seufze ich. »Und im Wesentlichen geht es ja auch wirklich darum, die Band erfolgreich zu machen. Wenn Martin das schafft, soll es mir recht sein.«

»Oh, wie edel und selbstlos von dir, Stella!«, gibt meine Kollegin schmunzelnd zurück und stupst mich mit einem Ellbogen in die Seite.

»So, sind alle mit dem Frühstück fertig?«, erklingt in diesem Moment die laute Stimme unseres Chefs. Er hat sich von seinem Platz erhoben und steht, das schwarze Buch unter den Arm geklemmt, in der Mitte des Raumes. Ein zustimmendes Murmeln erklingt. »Dann können wir ja mit der heutigen Übung beginnen. Und die lautet: Wunschkonzert!«

»Wunschkonzert?«, fragt Natascha nach. »Hat das wieder was mit Musik zu tun?« David schüttelt den Kopf.

»Nein, hat es nicht. Es geht um das Leben.«

 

Eine halbe Stunde später haben wir uns alle auf der Lichtung vor der Herberge versammelt und in einen großen Kreis gehockt. »Beim Wunschkonzert geht es darum, positive Energien auszusenden und dadurch welche zurückzubekommen«, erklärt David gerade. Mir gegenüber sitzen Tim und die Reeperbahnjungs, natürlich mit Martin dazwischen. Welch ein schöner Anblick!

»Positive Energien«, flüstert Tobi, der neben mir sitzt, in mein Ohr. »Da muss ich glatt an Daniel Küblböck und den Gurkenlaster denken.« Er stößt ein prustendes Lachen aus. »Was macht der jetzt eigentlich?«

»Wer macht was? Küblböck oder der Gurkenlaster?«, flüstere ich zurück und kann ein Grinsen nicht unterdrücken. Sosehr mir Tobias manchmal auf den Geist geht, seine unbeschwerte Art hat schon einiges für sich.

»Stella, Tobias? Hört ihr mir zu?« David Dressler wirft uns einen Blick zu, als wären wir zwei unerzogene Grundschüler, die in der letzten Reihe sitzen und tuscheln. Na ja, tun wir ja irgendwie auch. »Oder erzählt ihr uns allen, was gerade so lustig ist?«

»Daniel Küblböck«, sagt Tobias prompt. »An den musste ich gerade denken, weil der doch auch immer was von ›positiven Energien‹ gelab– … äh … erzählt hat«, verbessert er sich schnell. Unser Chef betrachtet ihn etwas despektierlich, offenbar findet er es nicht so amüsant, dass seine neue Übung mit einem Ex-DSDS-Kandidaten in Zusammenhang gebracht wird.

»Vielleicht ist das gar kein so schlechtes Beispiel«, stellt er dann aber überraschenderweise fest. »Soweit ich weiß, ist Daniel Küblböck heute Millionär, weil er in Solarenergie investiert hat.«

»Verstehe«, gibt mein Junior A&R frech zurück. »Wir sollen also heute zusammen eine Solaranlage bauen?« Statt zu antworten, schüttelt David nur lächelnd den Kopf und murmelt ein »Tobias, Tobias«. Das interpretiert mein junger Kollege leider komplett falsch, er setzt gleich noch einen nach und plärrt: »Und ich verstehe jetzt auch, was du mit den positiven Energien meinst: Wenigstens singt er nicht mehr und verstrahlt mit seinem Gejaule den Orkus!« Er schlägt sich auf die Schenkel. Natascha, die zu seiner Linken sitzt, nimmt seine Hand und flüstert mit mehr Nachdruck, als ich ihr aufgrund ihrer Girlie-Tour der letzten Tage zugetraut hätte: »Hör auf damit, Schatz!«

»Können wir denn jetzt weitermachen?«, will David wissen.

»Klaro«, erwidert Tobias unsicher.

»Gut. Was wir heute machen, ist Folgendes: Wir wünschen uns etwas, indem wir es einem anderen wünschen.« Er macht eine Pause und lässt seinen Blick von einem ratlos aussehenden Kollegen zum nächsten wandern. »Zu diesem Zweck bekommt jeder von euch eine Postkarte.« Er beugt sich runter zu der Papiertüte, die zu seinen Füßen steht, nimmt einen dünnen Stapel weißer Karten und ein paar Plastikkugelschreiber heraus, die er Hilde in die Hand drückt. »Verteilt die bitte unter euch.« Die Kärtchen und Stifte machen die Runde, während David fortfährt: »Jeder von euch hat als Kind sicher schon mal an einem Ballonwettbewerb teilgenommen. Dabei ging es darum, wessen Ballon am weitesten fliegt.« Ich erinnere mich an dieses Spiel und daran, dass ich so etwas mit sieben oder acht in der Grundschule gemacht habe. Damals hatte ich mir vorgestellt, mein Ballon würde bis nach Italien fliegen, und deshalb ein Lieber Papa, liebe Grüße aus Bremen, Deine Stella auf meine Karte geschrieben. Zwei Wochen später bekam ich sie zurückgeschickt – von jemandem aus Delmenhorst, einem Ort direkt neben Bremen. Er hat es vermutlich nur gut gemeint, aber Mama hat geweint, als sie die Postkarte im Briefkasten fand, und ich hatte ein total schlechtes Gewissen. Trotzdem war ich in der Schule stolz wie Oskar, denn meine Karte war die einzige, die überhaupt zurückgeschickt worden war.

Allerdings hielt das gute Gefühl nur zwei Wochen lang, denn dann kam die blöde Laura und präsentierte uns allen ihre Karte, die aus Köln gekommen war. Und das war, wie sie betonte, ganz, ganz weit weg von Bremen. Erst Jahre später, als wir schon in der Oberstufe waren und uns mittlerweile ganz gut miteinander verstanden, verriet sie mir, dass ihr Vater damals eine neue Postkarte mit auf Geschäftsreise genommen und sie ihr dann von Köln aus geschickt hatte. Als ich Mama davon berichtete, hat sie mir einen Vortrag über Ehrlichkeit gehalten und warum es unter keinen Umständen gerechtfertigt ist, eine solche Betrügerei zu starten. »Für mich wäre das damals schon wichtig gewesen«, warf ich etwas trotzig ein. Daraufhin sah sie mich mit strengem Blick an: »Aha. Nun, ich habe dich sicher nicht dazu erzogen, eine Lügnerin zu sein. Das hätte dein Vater vermutlich ganz gut hinbekommen. Willst du das, Stella? Willst du wirklich so sein?«

Natürlich wollte ich das nicht. Aber das kleine Mädchen in mir hätte schon einen Vater gewollt, der so etwas für seine Tochter macht. Und meine Post wäre dann aus Italien gekommen, was natürlich viel, viel weiter weg von Bremen gewesen wäre als Köln.

»Schreibt auf eure Karten etwas drauf, das ihr einem anderen Menschen wünscht«, werde ich von David aus meinen Gedanken gerissen. »Das sollte so richtig von Herzen kommen, denn das, was wir aussenden, bekommen wir auch zurück.«

»Klingt irgendwie nach abgedrehtem Esokram«, wirft Oliver ein.

»Das kann jeder sehen, wie er möchte«, erwidert David lächelnd. »Und es wird auch keiner von euch gezwungen, hier mitzumachen. Ich persönlich habe allerdings schon oft die Erfahrung gemacht, wie schön es ist, etwas zu geben, und dafür etwas zu bekommen. Deshalb sollt ihr neben dem Wunsch auch eure Adresse auf die Karte schreiben mit der Bitte an den Finder, euch im Gegenzug einen Wunsch zurückzuschicken.«

»Wenn sie denn einer findet«, wende ich im Hinblick auf meine Erfahrungen in der Grundschule ein. Ein Rücklauf von zwei Karten von gut dreißig – genau genommen nur einer, denn Laura und ihr Vater hatten ja getrickst – ist keine wirklich überzeugende Quote.

»Ja, Stella ist unsere Optimistin!«, flüstert Tobias Natascha so laut zu, damit ich es auch sicher mitbekomme.

»Wie dem auch sei«, sagt David, »ihr sollt eure Wünsche aufschreiben, danach binden wir die Karten an Ballons und lassen sie aufsteigen. Renate Becker füllt gerade welche mit Helium und bringt sie uns dann.« Wie aufs Stichwort taucht in diesem Moment unsere Gastgeberin aus der Herberge hinter ihm auf. In der einen Hand hält sie ein Bündel Strippen, an dessen Ende eine große rote Traube aus vielen Ballons in der Luft schwebt, mit der anderen winkt sie uns zu.

»Guten Morgen!«, ruft sie. »Ich binde die hier mal fest.« Sie geht rüber zu dem kleinen Zaun, der das Grundstück vom angrenzenden Wald trennt. Dann winkt sie noch einmal und verschwindet wieder im Haus.

»Ich bin sehr gespannt, was euch einfällt!«, fordert unser Chef uns auf. »Bevor ihr die Wünsche steigen lasst, werdet ihr sie der Gruppe vorlesen. Ich bin sicher, dass die Energie uns alle bereichern wird.«

»Ich hätte noch eine Frage«, sagt Natascha.

»Nämlich?«

»Wir wissen ja nicht, wer die Karte findet. Da ist es doch ein bisschen schwierig, etwas zu wünschen, was wirklich passt. Ich meine, es kann ja ein Mann, eine Frau oder ein Kind sein.«

»Oder ein Wildschwein«, kommentiert Tobias und drückt ihr einen Schmatzer auf die Wange.

»Lasst einfach eurer Kreativität freien Lauf«, erklärt David. »Das funktioniert am besten, wenn ihr etwas aufschreibt, was ihr euch selbst wünschen würdet. Wie gesagt, es sollte aus dem Herzen kommen, und solche Wünsche kennen kein Alter oder Geschlecht.«

Mein Blick wandert rüber zu Tim. Und ich denke automatisch: Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen und mich dann anders verhalten.

In dem Moment fällt mir auf, dass Martin mich blöd angrinst.

Und ich wünschte, ich könnte diesem Idioten vor versammelter Mannschaft eins auf die Fresse hauen.

Aber, nein, das aufzuschreiben ist wohl keine so gute Idee. Als ich mich gerade über meine Karte beugen will, um anzufangen, sieht mich plötzlich auch Tim an. Diesmal schaut er nicht sofort wieder weg, bestimmt drei oder vier Sekunden lang blicken wir uns unverwandt an. Mein Herz beginnt sofort, schneller zu schlagen, ich kann meinen Blick einfach nicht von ihm abwenden. Und dann, kaum merklich, passiert etwas, was ich mir gar nicht zu wünschen gewagt hätte: Tim lächelt.

Verwirrt senke ich den Kopf und fixiere meine Karte. Allerdings herrscht in meinem Hirn schlagartig so etwas wie ein Vakuum, in diesem Moment fällt mir nicht mal mehr meine Adresse ein. Vorsichtig schaue ich noch einmal auf, um mich zu vergewissern, dass Tim wirklich lächelt. Aber wenn er es getan hat, kann ich es jetzt nicht mehr überprüfen, denn er ist nun in eine Diskussion mit seinen Bandmitgliedern und Martin vertieft. Seufzend wende ich mich wieder meiner Karte zu. Dann will ich mal einen Wunsch für Herrn oder Frau Unbekannt verfassen. Dürfte ja nicht so schwer sein.

Hmm.

Ich runzle die Stirn und denke angestrengt nach. Ja, natürlich gibt es da einiges, was ich mir wirklich von Herzen wünschen würde … aber das werde ich ganz sicher niemandem hier auf die Nase binden und mir dadurch noch einmal eine Blöße geben.

 

Zwanzig Minuten später fordert David uns auf, einer nach dem anderen vorzulesen, was wir aufgeschrieben haben, unsere Karte dann an einen Ballon zu knoten und sie in den Himmel aufsteigen zu lassen. Hilde steht auf und macht den Anfang.

»Lieber Unbekannter«, liest sie vor, »ich wünsche dir, dass du ab sofort die glücklichste Zeit deines Lebens hast. Das hast du verdient – und zwar nicht, weil du etwas geleistet hast, sondern einfach, weil es dich gibt.«

»Oh, wie schön!«, ruft Jenny, und auch wir anderen klatschen anerkennend.

»Sehr gut«, meint David. »Darüber wird sich der- oder diejenige, die den Ballon findet, sicher freuen.«

Hilde marschiert zu dem Zaun mit den Luftballons, löst eine der Strippen, bindet ihre Karte daran und lässt sie dann los. Wir beobachten, wie der Ballon höher und höher steigt und über die Wipfel des Waldes geweht wird. In mir regt sich ein nahezu feierliches Gefühl. Wirklich eine hübsche Idee, das muss ich zugeben. Vielleicht sind die »Übungen«, die wir hier zusammen machen, gar nicht so schlecht?

»Wer will als Nächstes?«, fragt David.

»Ich!« Tobias springt auf, guckt auf seine Karte und fängt an, vorzulesen. Das heißt, er singt. Oder jault, wie auch immer. »Ich wünsch dir Liebe ohne Leiden«, trällert er den Text des Udo-Jürgens-Klassikers, »und eine Hand, die deine hält. Ich wünsch dir Liebe ohne Leiden, und dass dir nie die Hoffnung fehlt. Und dass dir deine Träume bleiben und wenn du suchst nach Zärtlichkeit, wünsch ich dir Liebe ohne Leiden und Glück für alle Zeit.« Obwohl Tobias das natürlich mal wieder nur als Quatsch meint, merke ich, dass ich trotzdem gerührt bin und einen Kloß im Hals habe, als ich dabei zusehe, wie sein Ballon davonfliegt.

Nach und nach lässt einer nach dem anderen seine Wünsche in den Himmel steigen, und als Tim dran ist, seine Karte vorzulesen, spitze ich natürlich besonders aufmerksam die Ohren.

»Lieber Finder«, trägt er vor, »mit dieser Karte wünsche ich dir, dass du nie aufhörst, an deine Träume zu glauben. Egal, was passiert, egal, welche Hindernisse es gibt, du kannst sie überwinden.« Wieder sieht er zu mir, aber diesmal nicht lächelnd, sondern sehr ernst. Ich muss schwer schlucken. Meint er mich mit Hindernis? Doch ehe ich weiter darüber nachdenken kann, springt Martin auf und posaunt den Text seiner Karte in die Runde.

»Wer auch immer das hier findet«, ruft er laut, »dem wünsche ich Erfolg, jede Menge Kohle und den besten Sex seines Lebens! Und das hätte ich gerne auch zurückgewünscht, meine Adresse steht auf der anderen Seite dieser Karte. Wenn du weiblich, bis Mitte dreißig und blond bist und die Maße 90–60–90 hast, kannst du auch gleich persönlich vorbeikommen, statt mir zu schreiben!« Er schüttelt sich aus vor Lachen, dem sich aber diesmal nicht einmal Tobias anschließt. Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass David leicht resigniert aussieht und die Stirn runzelt.

»Danke, Martin«, sagt er. »Eins muss man dir lassen: Dieser Wunsch kommt vermutlich wirklich direkt aus deinem Herzen. Dann lass dein Kärtchen mal fliegen.« Martin schnappt sich einen Ballon, eine Minute später flattert er zusammen mit der Karte Richtung Himmel. Allerdings kommt er nicht weit, ein Windstoß treibt ihn direkt in den Wald, er bleibt in einer Baumkrone hängen und zerplatzt dort geräuschvoll.

»Tja, Herr Kollege«, kann ich mir nicht verkneifen, etwas schadenfroh zu kommentieren, »sieht so aus, als hätte das Schicksal soeben ein argloses Blondie vor dir gerettet.« Die anderen lachen, selbst Tim kichert, was mich irgendwie freut.

»Wir haben genug Ballons, Martin, schreib einfach eine neue Karte und schick sie noch mal los«, wirft David ein, was mich ärgert, denn irgendwie empfinde ich das als Partei ergreifend. Außerdem stehe ich mit meiner Bemerkung dadurch mal wieder blöd da, ein weiteres Fettnäpfchen, in das ich mit Anlauf gesprungen bin. Martin scheint das ähnlich zu sehen, jedenfalls lächelt er mich süffisant an, beschreibt eine neue Karte und lässt sie fliegen. Diesmal steigt der Ballon hoch in die Lüfte auf und wird vom Wind über den Wald hinweggetragen.

»Dann warte ich mal auf meine Blondine, kann ja nicht mehr lange dauern«, erklärt Martin. Und fügt dann – eine echte Unverschämtheit! – noch hinterhältig grinsend hinzu: »Wobei Schwarzhaarige auch nicht schlecht sein sollen.«

Bah! Der Typ ist echt eklig. Gleichzeitig bemerke ich den verstohlenen Blick, den Tim meinem lieben Kollegen kurz zuwirft. Oha! So böse hat er gestern mich angesehen, Martins Anspielung scheint ihm ganz und gar nicht zu gefallen.

Die nächsten Kollegen lesen ihre Texte vor. Wir müssen noch ein paar Mal lachen und ein paar Mal seufzen. Schließlich bin ich an der Reihe und stehe auf.

»Okay«, sage ich und räuspere mich. »Liebe Unbekannte oder lieber Unbekannter, ich wünsche dir Glück, Gesundheit und ein langes Leben.« Ich lasse die Karte sinken. Erst in dem Moment, in dem ich meinen Text vorgelesen habe, fällt mir selbst auf, wie banal und blöd das klingt. Auch meine Kollegen sehen mich etwas ratlos an, und wie bei Martins Ausrutscher bleibt der Applaus der Gruppe aus.

»Schön, Stella!«, meldet sich David zu Wort. Aber mir ist klar, dass ihn mein Wunsch jetzt nicht wirklich umgehauen haben wird, so ein belangloser Mist steht auf jeder drittklassigen Glückwunschkarte aus dem Supermarkt. Ich sehe, dass Tim mir einen enttäuschten Blick zuwirft, und es versetzt mir einen kleinen Stich. Glück, Gesundheit und ein langes Leben sind doch nicht zu verachten, ganz und gar nicht, tröste ich mich selbst, während ich mir einen der Ballons hole und mein Kärtchen auf Reisen schicke. Während ich ihm nachblicke, ärgere ich mich ein bisschen, dass mir nichts Besseres eingefallen ist. So etwas Schönes wie Hilde zum Beispiel, aber ich war innerlich schon wieder so verkrampft und nervös, dass es zu mehr schlicht nicht gereicht hat.

»Dann sind wir mal auf die Rückläufe gespannt«, sagt David, nachdem auch der Letzte von uns seinen Ballon hat fliegen lassen. »Ich drücke euch die Daumen, dass möglichst viele von euch eine Antwort mit schönen Wünschen erhalten. Jetzt hat jeder eine Stunde für sich, dann gibt’s Mittagessen, und heute Nachmittag will ich mit euch zur Auflockerung eine Runde Völkerball spielen.« Die Gruppe löst sich auf. Ich marschiere Richtung Wald, weil ich mir bis zum Essen ein bisschen die Beine vertreten und nachdenken will. Zum Beispiel darüber, wie es mir gelingen kann, einen Blick in Davids Buch zu werfen, in das er sich auch bei der Luftballonübung wieder Notizen gemacht hat.

Zwanzig Minuten schlendere ich ziellos durch die Gegend und lasse meinen Gedanken freien Lauf. Dabei grübele ich auch über Tim. Er hat mich angelächelt, und die Tatsache, dass er Martin bei seinem blöden Spruch so böse angeguckt hat, spricht irgendwie auch dafür, dass er nicht mehr ganz so sauer auf mich ist. Ob Hilde recht hat? Wird sein Ärger mit der Zeit verrauchen? Vielleicht macht es Sinn, dass ich später doch noch einmal mit ihm rede.

Seufzend kehre ich um und spaziere langsam Richtung Haus zurück, nicht, dass ich mich hier noch verlaufe. Nach einer Weile kann ich durch die Bäume die Umrisse der Herberge erkennen, ich bin scheinbar einen Bogen gelaufen, denn ich komme wieder an der Rückseite raus. Unter meinen Füßen knacken die Äste, der leicht moderige Geruch von feuchtem Boden und Pilzen steigt mir in die Nase. Aber das ist nicht unangenehm, irgendwie beruhigt es mich sogar. Als ich noch klein war, ist Papa mit mir oft raus in den Wald und »in die Pilze« gegangen, wie er es nannte. Dann haben wir zusammen gesammelt und sie abends mit Mama gekocht und gegessen. Seufzend betrachte ich den Boden. Tatsächlich entdecke ich neben einem großen Stück Moos eine Ansammlung von Steinpilzen. Ich bücke mich, um sie zu pflücken – und fahre einen Moment später erschrocken hoch, denn ich habe etwas gehört. Jemand hat »Stella« gesagt. Ich kneife die Augen zusammen und sehe rüber zum Haus. Und dann erkenne ich sie: Auf der Bank an der Rückseite des Gebäudes, auf der ich gestern Abend noch mit Tim gesessen habe, hocken Martin – und Tim. Ganz offensichtlich reden sie über mich. Interessant! So leise wie möglich, darauf achtend, dass die Zweige unter mir nicht so laut knacken, pirsche ich mich an die zwei heran. Das möchte ich doch mal genauer wissen!