14. Kapitel
Ach Möhrchen! Ich habe mich heute absolut zum Affen gemacht.« Es ist schon drei Uhr nachts, aber ich kann nach diesem blamablen Abend nicht einschlafen und wälze mich seit einer Stunde hin und her. Natürlich denke ich nicht, dass mein Aussetzer beim Karaoke etwas über meine künftige Tätigkeit bei World Records aussagt – aber hundertprozentig sicher bin ich auch wieder nicht.
»Weißt du, Möhrchen«, erzähle ich meinem Hasen, »die anderen haben echt alle richtig viel Spaß gehabt und waren total locker. Und eigentlich gibt’s gar keinen Grund dafür, dass ich mich nicht auch einfach amüsieren kann. Aber, ach«, ich seufze und drücke ihn ganz fest an meine Brust, »ich weiß es ja auch nicht! Bin ich wirklich so verkorkst? Manchmal glaube ich das fast.«
Tock, tock, tock.
Ich horche auf, irgendwo klopft es leise.
Tock, tock, tock.
Noch einmal ein Klopfen, diesmal lauter. Und es kommt ganz eindeutig von meiner Tür. Ist das wieder Tobias, der nicht weiß, wo er hinmuss?
Noch einmal tock, tock, tock, dicht gefolgt von einem halblauten: »Stella? Bist du noch wach?«
Martin! Ich erkenne seine Stimme sofort, stopfe Möhrchen unter die Decke, stehe auf und streiche meinen Pyjama glatt.
»Was gibt es denn?«, zische ich, nachdem ich die Tür einen kleinen Spalt weit geöffnet habe.
»Darf ich kurz reinkommen?«
Ich zögere einen Moment, dann öffne ich die Tür ganz. »Okay.«
»Danke.« Im Gegensatz zu mir ist Martin noch komplett angezogen, als er in mein Zimmer spaziert. Der Duftfahne, die er hinter sich herzieht, nach zu urteilen, hat er sogar eben erst geduscht oder frisches Aftershave aufgelegt. Ich registriere es und bin darüber ziemlich verwundert. Was will er mitten in der Nacht und parfümiert wie ein orientalischer Harem bei mir? Mir ist, als würde ich Miriam laut und spöttisch lachen hören: Stella, was soll er schon wollen?
Mein Kollege hält in der einen Hand unsere Flasche Dom Pérignon, in der anderen zwei Gläser und steuert zielgerichtet den kleinen Tisch mit zwei Stühlen in der Ecke neben dem Kleiderschrank an.
»Ich dachte, nach dem Abend kannst du einen Schlummertrunk gebrauchen. Da fiel mir ein, dass ich ja noch unsere Flasche Champagner habe.« Er setzt sich auf einen der Stühle und fängt dann an, am Korken zu nesteln. Mit verschränkten Armen beobachte ich ihn dabei und weiß gerade nicht so recht, was ich davon halten soll. »Ich hatte sie draußen auf dem Fensterbrett stehen. Ist zwar nicht wirklich kalt, aber es wird schon gehen«, meint mein Kollege und löst dann mit einem leisen Plopp den Verschluss. Er fängt an, die Gläser zu füllen, stellt die Flasche wieder ab und sieht mich an. Dann wandert sein Blick zur Seite und bleibt an etwas hängen.
»Tse, tse«, gibt er von sich, »ganz so ordentlich ist Miss Hundertprozent also doch nicht?« Ich folge irritiert seinem Blick, er sieht zu dem Sessel neben meinem Kleiderschrank – ups! Natürlich habe ich wie jeden Abend meine Klamotten für morgen rausgelegt, und obenauf präsentiert sich Martin nun was? Genau, meine Unterwäsche. Mit einem schnellen Schritt bin ich da und schiebe den Slip unter das Top. Geht Martin schließlich gar nichts an! Wobei es mich gar nicht mal stört, dass er mich für unordentlich hält und denkt, ich würde meine alten Klamotten einfach so auf den Sessel feuern. Die Wahrheit wäre vermutlich peinlicher für mich.
»Wie bist du denn darauf gekommen, dass ich überhaupt noch wach bin?«, lenke ich von meiner Unterwäsche ab. Zumal es eine Frage ist, die mich wirklich interessiert.
»Ich habe übersinnliche Fähigkeiten.«
»Aha.«
»Nein, Quatsch. Ich kann von meinem Zimmer aus dein Fenster sehen und habe bemerkt, dass bei dir noch Licht brennt«, erklärt er. »Und nachdem ich auch nicht schlafen kann, dachte ich, geh einfach mal rüber. Wie gesagt, der Schampus wartet ja noch darauf, von uns getrunken zu werden.« Er wirft mir einen auffordernden Blick zu und deutet mit seinem Kinn auf den zweiten Stuhl. »Willst du dich nicht zu mir setzen?« Noch immer bleibe ich mit einem gewissen Sicherheitsabstand von ihm stehen. »Na, komm schon, ich beiße dich nicht. Und wenn doch«, er grinst, »darfst du mir gerne wieder eine scheuern. Ich habe ja noch eine zweite Wange, die ist bisher komplett unversehrt.«
Gegen meinen Willen muss ich schmunzeln, gehe zu ihm rüber und nehme auf dem anderen Stuhl Platz. Er hat ja recht, der Schampus muss getrunken werden!
»War wohl heute nicht so deins, die Sache mit dem Karaoke«, stellt Martin fest, als wir uns mit unseren Gläsern zuprosten.
»Kann man so sagen … Aber wie hast du das nur gemerkt?«, schiebe ich dann scherzhaft hinterher.
»Absolute Intuition«, erklärt er lachend. »Aber im Ernst, ich habe mich schon ein bisschen gewundert, dass du so dermaßen in Panik geraten bist.«
»Ich weiß es auch nicht«, erkläre ich und zucke mit den Schultern, »auf einmal war mir das alles total unangenehm, mir ist richtig übel geworden. Und wenn ich daran denke, geht’s direkt wieder los …«
»Ach komm, so schlimm war’s auch nicht – jetzt trinken wir einfach einen darauf.« Wir prosten uns wieder zu.
Ich merke deutlich, wie mich der Champagner entspannt, das ist ein wirklich guter Tropfen! Gleichzeitig steigt in mir eine Art prickelnde Nervosität auf, denn wie Martin mir hier so gegenübersitzt, morgens um drei in meinem Zimmer, während alle anderen schon friedlich schlafen, fallen mir natürlich Miriams Worte sofort wieder ein: Was spricht denn dagegen, wenn du einfach mal ein wenig Spaß hast?
Ja, was spricht eigentlich dagegen? Martin sieht wirklich super aus, gerade in diesem Moment leuchten seine blauen Augen wieder wie zwei Halogenscheinwerfer, und als er sein Glas ein weiteres Mal an seine Lippen führt, bleibt mein Blick an seinen sehnigen und muskulösen Unterarmen hängen.
Was also spricht gegen ein bisschen Spaß? Mein letzter Sex ist schon so lange her, dass er rechtlich bereits verjährt ist, das kann doch bei einer Frau in meinem Alter nun wirklich nicht richtig sein! Ich bin Single, Martin ist – soweit ich weiß – Single, das ist also weder unmoralisch noch widernatürlich noch sonst was. Und so gerne ich auch über die leidenschaftlichen Nächte von Sébastian und Angelique lese – mit leidenschaftlichen Nächten, die man selbst erlebt, lässt sich das nun wirklich nicht vergleichen …
Andererseits: Was, wenn ich mich in ihn verknalle und alles im emotionalen Chaos endet? Wobei ich das eigentlich für mich fast ausschließen kann, denn zum einen war ich noch nie der Typ, der sich schnell verliebt, und zum anderen ist Martin zwar echt schnuckelig, aber er berührt mich nicht so sehr wie … wie … na ja, wenn ich ehrlich bin, wie Tim Lievers. Da wäre die Gefahr schon größer, dass ich mein Herz an ihn hänge – wenn ich das nicht schon irgendwie getan habe. Und wie dankt er es mir? Indem er sich nicht mehr meldet, nur weil ich auf sein Lied nicht richtig reagiert habe? Nein, es ist nicht gut, sich in jemanden zu vergucken, mit dem man arbeitet, das geht gar nicht! Das wiederum spräche jetzt auch nicht gerade dafür, mit Martin ein bisschen Spaß zu haben, denn wir sind ja momentan Kollegen. Aber … außerdem … überhaupt …
»Was denkst du?«, unterbricht Martin meine wirren Gedanken. »Du siehst so aus, als wärst du ganz weit weg!«
»Ich habe gerade überlegt«, platzt es aus mir heraus, ehe ich es verhindern kann, »dass wir beide eigentlich mal ein bisschen Spaß miteinander haben könnten.«
Mit einem lauten Klirren stellt Martin sein Glas auf dem Tisch ab, sieht mich durchdringend an und seufzt laut: »Und ich dachte schon, du würdest von dir aus nie auf diese Idee kommen!«
Wie genau es dann passiert, kann ich selbst nicht sagen, aber eine Sekunde später stehen Martin und ich engumschlungen in meinem Zimmer, wild und heftig knutschend. Seine Arme liegen so fest um meinen Oberkörper, dass ich mich kaum bewegen kann, und das ist fast ein bisschen unangenehm. Aber ich bin jetzt locker und entspannt, jawohl, also ist das eigentlich gerade genau so, wie es sein sollte. Spontan könnte ich gar nicht sagen, wo sein Körper aufhört und meiner anfängt, so dicht pressen wir uns aneinander. Durch den dünnen Stoff seines T-Shirts kann ich seine harten Muskeln spüren, da ist wirklich kein einziges Gramm Fett zu ertasten. Gleichzeitig umnebelt mich der Duft von Martins Aftershave – ist das Blu von Bulgari? – dermaßen, dass mir schon ganz schwindelig ist. Mit Tim zu knutschen war echt schön … aber, verdammt, der hat nun gerade wirklich nichts in meinen Gedanken zu suchen. Kusch! Zieh Leine! Und seine Zärtlichkeit wird nun gerade tatsächlich durch die Leidenschaft weggeschubst, mit der mich Martin in die Zange nimmt …
»Martin«, bringe ich trotzdem atemlos zwischen zwei Küssen hervor und schnappe nach Luft. »Ich weiß jetzt wirklich nicht …« Er presst seine Lippen auf meine und bringt mich so zum Schweigen. Dann schiebt er mich ein Stückchen von sich weg, mustert mich eindringlich und flüstert dann mit dunkler Stimme: »Aber ich weiß es.«
Mit diesen Worten dirigiert er mich zu meinem Bett und wirft mich mit einem Schubs auf die Matratze. Er will sich schon auf mich legen, als mir noch etwas einfällt.
»Halt, stopp!«, fordere ich und setze mich auf. Verständnislos sieht er mich an.
»Willst du jetzt etwa doch noch einen Rückzieher machen?« Ich schüttele den Kopf, stehe auf und schnappe mir meine Handtasche. »Die brauchst du nicht«, kommentiert mein Kollege und fummelt in seiner Hosentasche herum. »Ich hab alles dabei, was brave Jungs brauchen.« Kurz zucke ich zusammen, weil ich daran gar nicht gedacht hatte – Martin spricht von einem Verhüterli!
»Nein, danach suche ich nicht«, gebe ich zurück und wühle weiter in meiner Handtasche herum. »Ich will es nur richtig machen.«
»Richtig?« Statt ihm zu antworten, krame ich mein Smartphone hervor und öffne meinen Musicplayer. Mit einem Klick finde ich die Playlist, die ich suche: Kuschelmucke. Ich klicke sie an und schalte den Lautsprecher ein, eine Sekunde später erfüllt romantische Musik den Raum. Home von Michael Bublé.
»Aaah, verstehe!« Martin lächelt mich spitzbübisch an. »Madame legt Wert auf Atmosphäre!«
»Genau«, erkläre ich – lasse mich wieder aufs Bett plumpsen und grinse ihn herausfordernd an. Einen Moment später ist Martin über mir, beugt sein Gesicht über mich, küsst mich wieder und wieder, während er mich mit geschickten Händen im Handumdrehen von meinen Klamotten befreit. Als ich nackt vor ihm liege, lässt er seinen Blick ganz, ganz langsam über meinen Körper gleiten und lächelt dabei.
»Du bist schön, Stella«, murmelt er, »wunderschön.« Dann kniet er sich hin und zieht sich sein T-Shirt über den Kopf. Als ich seinen Brustkorb zum ersten Mal in voller Pracht zu Gesicht bekomme, muss ich schwer schlucken. Sébastian kann einpacken!
Unsere warmen Körper kuscheln sich aneinander, ich spüre Martins Atem auf meiner Haut, in meinem Nacken, alles in mir kribbelt so sehr, dass ich fürchte, vor lauter Lust jeden Moment zu zerspringen. Darauf habe ich in den vergangenen Jahren freiwillig verzichtet? Bin ich denn bescheuert? Warum nur? Weil ich der Meinung war, ich hätte Wichtigeres und Besseres zu tun? Was in aller Welt kann es Besseres geben als das hier?
Martin schiebt sich langsam auf mich, sein Gewicht drückt mich noch tiefer runter aufs Bett. Mit beiden Armen stützt er sich links und rechts von mir ab, seine blauen Augen halten meinen Blick gefangen.
»Martin«, flüstere ich, bevor er meine Lippen berührt. Er hält in der Bewegung inne. »Aber das bleibt unter uns, okay?«, will ich wissen. Er nickt.
»Keine Sorge, Stella«, flüstert er, »das bleibt es. Unser kleines und sehr süßes Geheimnis.«
Und dann kriege ich nicht mehr viel mit, außer dass ich schon lange nicht mehr so viel mitgekriegt habe. Feels like heaven singt Peter Cetera. Seufz!
Ich schlage die Augen auf und bin im ersten Moment ein bisschen verwirrt und benommen. Mein Kopf liegt am Fußende meines Bettes, das zerwühlte Laken hat sich um meine Knöchel gewickelt, und ich bin vollkommen nackt. Aus den Augenwinkeln sehe ich Möhrchen, der auf dem Fußboden liegt und mich nahezu vorwurfsvoll mustert. Der muss im Eifer des Gefechts wohl aus dem Bett geflogen sein. Ich räkele mich wohlig und setze mich auf, hangele dann nach meinem Stoffhasen und packe ihn neben mein Kopfkissen.
Von Martin ist keine Spur zu sehen, aber ich meine, im Halbschlaf mitbekommen zu haben, wie er sich mit einem Kuss von mir verabschiedet und dann auf leisen Sohlen mein Zimmer verlassen hat.
Was war das bloß für eine Nacht! Mit Martin Stichler! In mir macht sich ein seltsames Gefühl breit, eine Mischung aus verwegener Freude und schlechtem Gewissen. Freude, wenn ich an die ein oder andere Situation in den vergangenen Stunden zurückdenke – schlechtes Gewissen, weil sich das, was Martin und ich miteinander gemacht haben, genau genommen nicht gehört. Sex mit einem Kollegen, Sex ohne Liebe, Sex …
»Papperlapapp!«, rufe ich mich laut selbst zur Ordnung. »Wir sind ja nicht mehr in den Fünfzigern!« Mein Blick fällt auf meinen Nachttischwecker. Es ist schon kurz nach neun und somit höchste Zeit, aufzustehen und mit den anderen zu frühstücken.
Eine halbe Stunde später betrete ich den Speisesaal. Natürlich habe ich mich besonders sorgfältig hergerichtet. Zum einen, weil heute ja unser kleines Sommerfest ist, zum anderen … Na, so sind wir Frauen halt. Ich trage einen schmalen Schotten-Minirock mit schwarzem Tanktop und dazu passende Ballerinas, die Haare habe ich zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden. Ein bisschen Make-up habe ich auch aufgelegt, wobei meine Wangen, als ich vorhin in den Badezimmerspiegel geblickt habe, ohnehin schon ziemlich rosig waren. Meine Durchblutung ist offenbar ganz gut in Schwung …
Mit einem Anflug von Enttäuschung registriere ich, dass Martin nicht beim Frühstück ist, er war also entweder schon da oder kommt noch. Trotzdem nehme ich bester Stimmung neben Hilde und Jenny Platz.
»Guten Morgen!«, begrüße ich die beiden fröhlich.
»Guten Morgen!«, geben sie zurück, Hilde fügt ein »Du bist ja heute so gut gelaunt!« hinzu.
»Ja!« Und dann schnappe ich mir zwei Schrippen aus dem Brotkorb, befördere ein paar Scheiben Kasseler und Käse auf meinen Teller und stibitze mir aus der Schüssel neben der Teekanne noch zwei gekochte Eier.
»Da hat aber jemand Hunger«, kommentiert Hilde verwundert.
»Kann man sagen«, stimme ich ihr zu und grinse. »Einen echten Bärenhunger!«
»Na, dann müssen wir nachher bei den Büfett-Vorbereitungen wohl aufpassen, dass du uns nicht die Hälfte wegfutterst, bevor unser Fest überhaupt angefangen hat.«
»Stimmt, das behältst du besser im Auge«, rate ich ihr kichernd, »momentan fühlt es sich so an, als könnte ich ein halbes Schwein verdrücken.« Körperliche Ertüchtigung macht hungrig, füge ich im Geiste hinzu. Ich greife nach dem Körbchen mit den Marmeladenpackungen und nehme mir noch drei Portionen Nutella heraus. Wennschon, dennschon!
Nach dem Frühstück fangen alle an, ihre Aufgaben für die Feier zu erledigen. Hilde, Jenny und ich verziehen uns in die Küche und beginnen als Erstes damit, Hackfleisch für kleine Frikadellchen zu kneten.
»Mach da ruhig ordentlich Senf dran«, werde ich von Hilde instruiert, während ich bis zu den Ellbogen in einer Schüssel mit Hack, Eiern und eingeweichtem Toastbrot stecke. »Und alles so lange miteinander verkneten, bis es eine schöne glatte Masse gibt.« So kneten, rühren und schnippeln wir, was das Zeug hält, neben den Frikadellen soll es noch jede Menge anderer Leckereien geben: Blätterteigstangen mit Käse, diverse Salate, Rohkoststäbchen mit Dips, Pflaumen im Speckmantel, eine Käse- und eine Obstplatte, Maiscremesuppe, Hähnchengeschnetzeltes und, und, und … Während ich mich von Hilde hierhin und dorthin scheuchen lasse, wandern meine Gedanken immer wieder zu Martin. Wo er wohl gerade steckt? Vermutlich draußen auf der Lichtung vor der Herberge, da soll unser Fest stattfinden, also muss dort alles aufgebaut werden. Beim Gedanken an ihn macht mein Herz einen Hüpfer. Wobei, wenn ich ehrlich bin, ist es nicht unbedingt das Herz, sondern ein Organ, das etwas tiefer im Körper angesiedelt ist …
»Ich mach mal eine kleine Pause«, teile ich Hilde und Jenny mit, als die erste Lage Frikadellen im Ofen vor sich hin brutzelt. Nachdem ich mir gründlich die Hände gewaschen habe, gehe ich raus, um nachzusehen, wie weit die Vorbereitungen der Location vorangeschritten sind.
Wie erwartet haben Tobias und Natascha mehr oder weniger lieblos ein paar Girlanden zwischen die Bäume gespannt, hier und da hängt ein Lampion, und immerhin baumelt über einer Art kleinen Bühne auf der linken Seite, die aus irgendwelchen Holzbrettern zusammengenagelt wurde, so etwas wie eine Lichterkette. Es ist bereits ein DJ-Pult aufgebaut, daneben wird irgendetwas unter einem Bettlaken verborgen, das ziemlich groß und unförmig zu sein scheint. Was ist das? Martins Überraschung? Verstecken sich die Chippendales darunter und springen nachher bei unserer Feier auf die Bühne, um einen Strip hinzulegen? Bei meinen albernen Gedanken muss ich kichern, ich bin offensichtlich immer noch ziemlich … ähm … aufgeheizt.
Auf zwei langen Tischen auf der rechten Seite der Lichtung stehen bereits zwei kleine Fässer Bier sowie diverse Gläser und Pappbecher. Oliver schiebt gerade eine Sackkarre, auf der sich mehrere Getränkekisten stapeln, auf einen provisorisch erbauten Tresen zu. Und dann entdecke ich Martin, der an einem Lautsprecherständer herumfummelt und sich damit abkämpft, eine Box daraufzustellen. Ich gehe zu ihm.
»Hi!«, begrüße ich ihn, wobei meine Stimme fast einen kleinen Kiekser macht. Er lässt die Box einrasten, dreht sich zu mir um und lächelt.
»Hi!«, erwidert er. Dann beugt er sich blitzschnell zu mir und gibt mir einen flüchtigen Kuss direkt auf den Mund. Ich weiche, ein bisschen erschrocken kichernd, zurück.
»Martin«, flüstere ich tadelnd. »Die anderen!« Er zuckt mit den Schultern.
»Hat doch keiner mitgekriegt«, meint er. Er bedenkt mich mit einem zärtlichen Blick. »Hast du denn noch gut geschlafen?«
»Ja«, ich nicke. »Wie ein Murmeltier.«
»Schön«, antwortet er, »dann können wir ja gleich ordentlich feiern.«
»Jau, können wir.«
»Das wird eine geile Party«, stellt er fest, und ein anzüglicher Ausdruck macht sich auf seinem Gesicht breit. Dann wirft er einen Blick auf seine Uhr. »Nur noch eine gute Stunde, dann geht’s los. Langsam müsste unser DJ auch mal auftauchen.«
»Und was für eine Überraschung hast du für uns noch geplant?«, will ich von ihm wissen und deute Richtung Bühne. »Versteckst du sie unter dem Bettlaken?« Martin gibt mir einen neckischen Nasenstüber.
»Wird nicht verraten, Fräulein Wundermann. Da werden Sie sich wie die anderen gedulden müssen – oder glauben Sie etwa, Sie haben wegen vergangener Nacht einen Heimvorteil?«
»Nein, äh, glaube ich nicht«, erwidere ich, und schon wieder schießt mir die Röte ins Gesicht. »Ich geh mal zurück in die Küche, wir sind noch nicht ganz fertig.« Ich wende mich zum Gehen.
»Mach das«, ruft Martin mir hinterher, »ich hab schon wieder riesigen Appetit auf was Leckeres! Wenn’s geht, was schön Heißes!«
Ohne ihm zu antworten, marschiere ich weiter Richtung Herberge. Aber ich spüre, dass meine Wangen glühen. Na bitte, mit was Heißem kann ich schon mal dienen!
Unser kleines Bergfest ist nicht einmal eine Stunde im Gang, als die Stimmung bereits auf dem Höhepunkt ist. Mag daran liegen, dass die meisten von uns es nicht gewohnt sind, mittags um zwei schon Bier zu trinken (wobei ich mich wieder brav an einer Apfelsaftschorle festhalte, aber trotzdem steckt mich die Ausgelassenheit der anderen an), oder auch daran, dass der von Martin organisierte DJ wirklich großartig ist. Gerade spielt er I gotta feeling von den Black Eyed Peas, und fast alle von uns hüpfen tanzend und grölend über die Lichtung.
»I gotta feeling«, singe sogar ich lauthals mit, denn in der johlenden Menge macht es mir nichts aus, »that tonight’s gonna be a good night, that tonight’s gonna be a good, good niiiiight!« Martin zappelt direkt neben mir und rempelt mich hin und wieder unauffällig an, wobei ich jedes Mal kichern muss, und auch David gibt absolut alles. Sein T-Shirt ist bereits komplett nassgeschwitzt, tanzend prostet er uns mit einem Pappbecher voller Bier zu und fordert hin und wieder: »Lauter, lauter!« Der DJ kommt seinem Wunsch nach, hier am Arsch der Heide stört es eh keinen, wenn wir mal so richtig und ordentlich Lärm machen.
Die letzten Takte von I Gotta Feeling verklingen, unser DJ fadet zu einer langsameren Nummer. Sehr gut, denn wenn wir hier alle nonstop durchrocken, kippen die Ersten sicher bald aus den Latschen … Ich muss gar nicht erst lange hinhören, um den Song zu erkennen – und bin mehr als überrascht. Denn was da aus den Lautsprechern rieselt, ist ein sehr unbekanntes Lied. Und gleichzeitig einer meiner Lieblingssongs. Flesh and Blood von Wilson Phillips, das davon handelt, wie eine Tochter ihren abwesenden Vater darum bittet, dass sie sich wieder versöhnen. Ich erstarre in meinen Tanzbewegungen. Das kann kein Zufall sein! Genau dieses Lied habe ich mit Sicherheit schon zehntausendmal gehört und tue es bis heute noch oft, obwohl es wirklich nie im Radio kommt … Kuschelmucke, fällt es mir in diesem Moment ein. Natürlich, der Song ist auch auf der Playlist in meinem Smartphone!
How can we be like enemies
when we’re only flesh and blood?
What does it take to make your heart bleed,
Daddy aren’t we enough?
You can get through
there’s nothing stopping you from getting to us
No one can take away the fact that we’re only
flesh and blood
Als ich den Song das erste Mal hörte, war ich gerade mal zwölf – und auf Anhieb komplett elektrisiert. Denn da sang jemand genau das, was ich selbst so oft über meinen Vater gedacht habe. Fleisch und Blut – mehr als einmal lag ich nachts wach und fragte mich, warum er meine Mutter und mich denn nicht genug vermisst, um zu uns zurückzukommen. Wieder und wieder habe ich das Lied gehört, heimlich nur, damit Mama es nicht mitbekommt, denn darüber wäre sie mit Sicherheit traurig gewesen. Manchmal habe ich mir vorgestellt, Papa zu suchen, zu ihm zu fahren, um ihn zu fragen, weshalb er uns verlassen hat. Getan habe ich es nie, natürlich nicht, denn es hätte ja rein gar nichts gebracht. Und es hätte Mama verletzt.
Ich hänge noch meinen Gedanken nach, als Martin plötzlich vor mir steht. »Willst du tanzen?«, fragt er. Ich nicke. Er legt beide Arme um mich, und wir fangen an, uns miteinander im Rhythmus hin- und herzuwiegen. Ich muss mich schwer zusammenreißen, damit mir nicht die Tränen kommen, dieser Song löst bei mir von jetzt auf gleich eine Form der Rührung aus, wie ich sie sonst nicht kenne.
Oh, part of me wants to call you up,
just talk to you like a friend
There’s a part of me that wants to shut you out
And never see your face again.
Es fühlt sich an, als wäre ich in einer Parallelwelt gelandet, als ich in Martins Armen über die Lichtung tanze. Die anderen Kollegen haben einen Kreis um uns gebildet und sehen uns zu, was mir in diesem Augenblick aber nicht einmal peinlich, sondern mehr oder weniger egal ist. Es ist ein eigenartiges Gefühl, dieser Song, der mir so wichtig ist, Martin, die gesamte Situation … Langsam steigen mir nun doch die Tränen in die Augen, aber selbst das macht mir nichts. Es ist, als würden alle Emotionen, die ich doch sonst immer so gut im Griff habe, wie eine riesige Welle über mir zusammenschwappen. Und es ist schön. Verdammt schön!
»Woher wusstest du das?«, flüstere ich Martin ins Ohr, während wir immer noch tanzen. »Also, dass dieses Lied so wichtig für mich ist?«
»Du hast es heute Nacht im Halbschlaf mitgesummt«, erklärt er. »Das klang unheimlich schön und voller Gefühl, und da dachte ich, ich würde dir eine Freude machen, wenn der DJ den Song spielt.«
»Danke«, murmele ich, »das war sehr lieb von dir.« Der Song hört auf, wir bleiben stehen, Martin löst sich von mir und blickt mich nachdenklich an.
»Bedank dich nicht«, meint er. »Sei nur einfach jetzt gleich nicht zu angepisst und nimm das Lied als eine vorweggenommene Entschuldigung.«
»Angepisst?«, echoe ich und begreife gerade gar nichts mehr. »Wieso sollte ich denn das sein?« Statt mir zu antworten, dreht Martin sich um, geht rüber zum DJ und lässt sich von ihm ein Mikrofon geben.
»So, Leute«, ruft er mir und meinen Kollegen zu, »nachdem es jetzt gerade ein bisschen kuscheliger war, kommen wir nun also zu meiner Überraschung.« Ein Schauder läuft mir über den Rücken. Hat das etwas damit zu tun, was Martin gerade gesagt hat? »Und zwar ist es mir gelungen, kurzfristig und exklusiv einen neuen Act, den ich gerade gesignt habe, dazu zu bringen, hier für euch zu performen.«
Neuer Act, schießt es mir durch den Kopf, gesignt? Also unter Vertrag genommen? Wen? Wieso? Wie das?
Doch bevor ich noch weiter rumrätseln kann, posaunt Martin schon euphorisch ins Mikro: »Begrüßt also zusammen mit mir und mit einem frenetischen Applaus: Tim Lievers und die Reeperbahnjungs!«