10. Kapitel

 

Hilde schnarcht nicht. Hilde sägt ganze Laubwälder ab. Nachdem sie und ich das große Glück hatten, als Erste für den morgendlichen Küchendienst eingeteilt zu werden, haben wir beschlossen, schon um kurz nach neun ins Bett zu gehen. Morgen müssen wir ja tierisch früh raus, zudem war der Tag doch auch anstrengend, und von gestern bin ich immer noch ein bisschen angeschlagen.

Nachdem wir uns im Gemeinschaftswaschraum die Zähne geputzt haben, sind wir in unser Stockbett geklettert. Und hier liege ich jetzt seit einer guten halben Stunde und kriege trotz Ohropax kein Auge zu. Es ist zum Wahnsinnigwerden! Ich überlege, mir meinen Discman zu holen und etwas Musik zu hören. Vorsichtig und leise klettere ich die Leiter von meinem Bettchen hinunter, damit ich Hilde nicht wecke – wobei die vermutlich so tief schläft, dass man neben ihr tatsächlich einen Baum fällen könnte –, und tapse zu meiner Handtasche. Ich krame in ihr, erwische aber zuerst mein Handy.

Mama, Miriam, Tim, fällt es mir in diesem Moment siedend heiß ein. Die wollte ich doch aus Schneverdingen alle noch anrufen und habe es über den aktionsreichen Tag total vergessen. Ich gucke aufs Display: Immerhin ein kleiner Strich ist zu sehen, ein bisschen Empfang ist also. Außerdem sehe ich, dass Mama es heute noch fünf Mal versucht hat. Und auch Tim Lievers hat noch mal angeklingelt, das ist erst zehn Minuten her. Warum hat das Drecksteil nicht geklingelt? Ach so, ich habe den Rufton ausgeschaltet, dann kann’s ja nicht klappen …

Eilig ziehe ich eine Hose und Jacke über meinen Pyjama, schlüpfe mit nackten Füßen in meine Chucks und schleiche aus dem Zimmer. Auf dem Weg zum Ausgang komme ich am Aufenthaltsraum vorbei, aus dem laute und fröhliche Stimmen erklingen, meine Kollegen machen sich offenbar noch einen bunten Abend.

Draußen im Freien löse ich die Tastensperre. So ein Mist, der Strich ist weg! Kann doch nicht sein, dass ich im Zimmer besseren Empfang habe als hier! Ich gehe ein paar Meter weiter, und siehe da: Ganz schwach meldet sich ein Strich zurück. Schnell drücke ich auf die Rückruftaste, denn zuerst will ich mich bei Tim melden. Der hat es ja eben gerade erst versucht, also wird er noch wach sein. Und bei Mama weiß ich eh, dass sie eine Nachteule ist, die nie vor ein Uhr ins Bett findet. Zumal sie vermutlich in heller Aufregung und kurz davor ist, die Polizei zu verständigen, weil sie mich heute den ganzen Tag lang nicht erreicht hat …

Es klingelt, einen Moment später wird abgehoben. »Hallo, Stella!«, begrüßt Tim mich freundlich. Scheint nicht im Geringsten verstimmt wegen heute früh zu sein, stelle ich erleichtert fest.

»Hi, Tim!«, erwidere ich. »Du hattest angeru–« Weiter komme ich nicht, denn ein lautes Tuut, Tuut, Tuut sagt mir, dass die Leitung zusammengebrochen ist. Mist! Mit dem Handy in der Hand marschiere ich vor der Jugendherberge auf und ab, in der Hoffnung, irgendwo ein Fleckchen mit Empfang zu finden. Aber es tut sich nichts mehr, nichts, nada, niente, sosehr ich auch hin und her laufe.

»Benutzt du dein Handy als Wünschelrute?«

Ich schrecke zusammen, als Martins Stimme erklingt.

»Und? Schon ’ne Wasserader gefunden?« Er steht vorm Eingang und hat sich eine Zigarette angezündet.

»Nee, ich will telefonieren, aber mein Handy hat keinen Empfang«, erkläre ich ihm.

Martin kramt in seiner Hosentasche und holt sein Mobiltelefon hervor. »Meins schon«, stellt er grinsend fest. »Bist wohl beim falschen Anbieter.«

»Sieht so aus«, erwidere ich. »Bei mir geht gar nichts.«

»Willst du kurz meins haben?«

Ich schüttele den Kopf. »Danke, das ist nicht nötig.« Obwohl ich schon gern gewusst hätte, was Tim von mir wollte … Und Mama beruhigen wäre auch nicht schlecht, bevor hier die Freiwillige Feuerwehr Schneverdingen anrückt.

Andererseits: Mama weiß ja gar nicht, wo genau ich stecke – der Gedanke, dass ich für sie unauffindbar bin, hat schon seinen Reiz. Nein, Stella, sage ich mir selbst, das ist gemein. Du weißt doch, dass sie sich immer so große Sorgen macht.

»So wie du hier eben rumgerannt bist, macht es aber schon den Eindruck, als würdest du wirklich dringend telefonieren wollen.« Er streckt mir den kleinen Apparat entgegen. »Ist doch kein Problem, wenn du meins nimmst. Ich hab auch ’ne Flatrate.«

»Okay«, meine ich schließlich, gehe auf ihn zu und nehme sein Telefon. »Das ist sehr nett von dir. Dauert auch nicht lange.«

»Lass dir so viel Zeit, wie du willst.«

»Danke.« Ein bisschen unschlüssig stehe ich vor ihm. Dann scheint er zu verstehen, was los ist, wirft seine Zigarette weg und tritt sie aus.

»Und ich lass dich natürlich auch gerne allein. Geht wohl doch um einen geheimen Verehrer, wie Hilde vorhin meinte, was?«

Ich lächele ihn geheimnisvoll an. »Wer weiß?«

»Gerald Strullenkötter, stimmt’s?«

Ich sehe ihn überrascht an. »Du hast ja ein gutes Namensgedächtnis!«

Martin prustet los. »Also echt«, bringt er schnaufend hervor, »für so einen bescheuerten Namen muss man nun wirklich kein sonderlich gutes Gedächtnis haben. Der hat sich hier«, er legt sich einen Zeigefinger an die Schläfe, »sofort eingebrannt.« Im nächsten Augenblick verändert sich sein Gesichtsausdruck, und er betrachtet mich mit regelrecht ernster Miene. »Außerdem muss man die Konkurrenz immer im Auge behalten.«

»Äh, die Konkurrenz?«

Statt mir zu antworten, dreht er sich einfach um. »Ich bin dann im Aufenthaltsraum«, ruft er mir über die Schulter zu und verschwindet wieder in der Jugendherberge. Ich sehe ihm einen Moment lang verwundert nach. Konkurrenz? Offenbar will er tatsächlich mit mir flirten! Gedankenverloren schüttele ich den Kopf und mache mich daran, die Nummer von Gerald beziehungsweise Tim ins Handy zu tippen.

»Lievers?«, meldet sich Tim.

»Hi, ich bin’s noch einmal, Stella.«

»Hast du jetzt plötzlich ein neues Handy?«, fragt er. »Ist ja eine ganz andere Nummer!«

»Ach so, ja. Das ist gar nicht mein Telefon, ich hab so schlechten Empfang und mir das von einem … einer Freundin geliehen«, erkläre ich.

»Wo steckst du denn?«

»Och, irgendwo auf dem Land«, erwidere ich ausweichend. »Brauchte mal ein paar Tage Auszeit.«

»Aha. Eine Auszeit.«

»Jedenfalls habe ich gesehen, dass du mich zweimal angerufen hast«, lenke ich auf ein anderes Thema. »Was gibt es denn?«

»Heute Vormittag wollte ich nur mal nachhorchen, wie es dir geht«, erklärt er. »Und eben wollte ich dir erzählen, dass mir heute, glaube ich, ein richtig guter Text zu meinem neuen Song eingefallen ist.«

»Das höre ich gerne!«

»Soll ich ihn dir mal vorspielen?«, fragt er.

»Meinst du, das geht über Handy? Glaube nicht, dass ich da besonders viel verstehen kann.«

»Wir können es wenigstens mal probieren. Wenn ich das Telefon ganz dicht an den Lautsprecher halte, funktioniert’s vielleicht.« Ich höre ihm an, dass er mir den Song unbedingt vorspielen will. Und neugierig bin ich natürlich auch.

»Gut, dann mach mal«, sage ich deshalb. Wenige Sekunden später ertönt Musik, dieselbe Melodie, die er mir gestern schon vorgespielt hat. Allerdings erklingt nun nach wenigen Takten Tims Stimme – und ich habe auf der Stelle Gänsehaut. Während ich dem Song lausche, wiege ich mich gedankenverloren im Takt.

Die Suche - Für den Menschen...(00:36)

Audio: Die Suche - Für den Menschen...(00:36)

 

Für den Menschen, der mich über alles liebt

Der mich begleitet, mit mir streitet und vergibt

Für den, der mit mir zieht

Der in meinen Armen liegt

Für dich ist dieses Lied

 

Für den, der mich besser kennt als ich

Für den, der alles hält, was er verspricht

Bei dieser Zeile zucke ich kurz zusammen. Aber nur kurz. Denn ich habe ja vor, zu halten, was ich Tim und seinen Jungs versprochen habe. Und außerdem: Es ist nur ein Song, mich wird Tim damit wohl kaum meinen. Wir haben mal geknutscht, sicher. Aber damit bin ich noch lange nicht der Mensch, der ihn über alles liebt. Stella!, rufe ich mich selbst zur Ordnung, das ist nur ein Musikstück. Nur ein Lied, so wie ein Film oder einer deiner Kitschromane, also sei ein Profi und hör lieber weiter ganz sachlich zu! Ich tue, wie mein inneres Ich mir befiehlt.

Die Suche - Für den der sich...(00:05)

Audio: Die Suche - Die Suche - Für den der sich...(00:05)

 

Für den, der sich nicht verbiegt

Okay, das kann man von mir nun wirklich nicht behaupten!

Die Suche - Der mit meinen Augen...(00:09)

Audio: Die Suche - Der mit meinen Augen...(00:09)

 

Der mit meinen Augen sieht

Für dich ist dieses Lied

Der Song ist wirklich großartig, und der Refrain hat absolutes Ohrwurmpotenzial:

Die Suche - Und ich such Dich...(00:20)

Audio: Die Suche - Und ich such Dich...(00:20)

 

Und ich such dich, bis ich dich gefunden hab

In Rom, in Amsterdam oder in Prag

In Berlin oder Reykjavík, Paris oder Mosambik

Super! Okay, die Qualität übers Handy lässt zu wünschen übrig, aber es reicht immer noch, um mich total umzuhauen. Tim singt die zweite Strophe, dann noch einmal den Refrain, dann hört die Musik auf.

»Und?«, will Tim wissen. »Wie findest du den?«

»Der, äh«, stottere ich etwas konfus, »der ist ganz gut.«

»Ganz gut? Na danke.«

»Nein, sorry, der Song ist echt gut«, korrigiere ich mich schnell. »Das habe ich dir doch gestern schon gesagt, eine tolle Melodie!«

»Und wie findest du den Text?« Er klingt angespannt, beinahe lauernd.

»Der gefällt mir auch«, antworte ich und merke dabei selbst, wie unglaublich verstockt ich klinge. Aber was soll ich dazu auch sonst sagen? Vielleicht so was wie »Hast du den etwa für mich geschrieben?« Das würde meinen Ansichten zum Thema »Professionelle Zusammenarbeit« ja komplett zuwiderlaufen.

»Aha«, erwidert Tim einsilbig.

»Beim Refrain«, plappere ich nervös los, »hätte ich noch einen Vorschlag.«

»Welchen denn?«

»Also«, ich kichere blöd, »wenn du singst ›in Berlin oder ReykjavÍk, Paris oder Mosambik‹, da könntest du doch auch aus Mosambik Osnabrück machen!« Ich lache prustend und hoffe, dass er mir meine Unsicherheit nicht anhört. Verstehe selbst nicht, warum ich gerade so unsicher bin – aber ich bin es eben.

»Osnabrück?«, kommt es entgeistert zurück. Okay, Tim hat nicht verstanden, dass das nur ein Spaß sein sollte.

»Ich hab doch nur einen Witz gemacht«, will ich ihn beruhigen. »Wobei – Osnabrück, das würde den Song schon auch irgendwie künstlerisch brechen, das wäre mal echt was Ausgefallenes.« Hilfe, kann mich bitte jemand stoppen? »Ich meine, wer kommt schon auf die Idee, die Liebe seines Lebens ausgerechnet in Osnabrück zu suchen?«

»Ich sehe schon«, antwortet Tim kühl und klingt dabei immer noch nicht so, als fände er mich gerade besonders lustig, »dir gefällt’s nicht so gut.«

»Doch, wirklich«, sage ich schnell, »das Stück gefällt mir!«

»Den Eindruck habe ich aber gerade nicht.«

»Du, ich höre mir das Lied einfach noch mal in Ruhe an, wenn ich wieder in Hamburg bin. Übers Telefon kann ich das echt nicht beurteilen«, behaupte ich, um mich aus dieser etwas unangenehmen Situation zu befreien. »Ich hab ja nur die Hälfte verstanden.«

»Na gut«, kommt es immer noch eindeutig verärgert zurück. »Dann bis demnächst. Vielleicht in Osnabrück?«

Klick.

Ich komme noch nicht einmal dazu, mich von Tim zu verabschieden, er hat schon aufgelegt. Einen Moment lang starre ich noch nachdenklich auf das Telefon. Habe ich ihn mit meinem Witzchen jetzt so getroffen? Aber ich wusste halt nicht, wie ich darauf reagieren soll! Wenn ich an unseren gemeinsamen Abend und die Nacht denke, löst das bei mir immer noch angenehme und unangenehme Gefühle gleichzeitig aus. Einerseits war es mit ihm total schön, andererseits … andererseits halt!

Seufzend lösche ich Tims Nummer aus Martins Anrufliste. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Muss ja nicht sein, dass der weiß, mit wem ich telefoniert habe. Als Nächstes versuche ich es bei Miriam, die aber nicht abhebt, dann wähle ich Mamas Nummer. Während ich mit ihr spreche, versuche ich, den Gedanken an Tim vorerst beiseitezuschieben. Bringt ja nichts, jetzt weiter über ihn zu grübeln, das kläre ich wirklich am besten, wenn ich wieder zu Hause bin. Musikalisch als auch privat.

 

Als mein Wecker am nächsten Morgen um sechs Uhr klingelt, fühle ich mich, als hätte ich maximal eine halbe Stunde geschlafen, ich bin komplett gerädert. Und viel mehr war es auch tatsächlich nicht. Erst habe ich gestern noch eine Stunde mit Mama telefoniert, der ich haarklein alles erzählen musste. Davon, dass ich aus dem Bus gekotzt habe, war sie natürlich nicht begeistert, aber meine erfolgreiche Tauschaktion hat sie wieder mit allem versöhnt. Trotzdem hat sie mir noch einmal ans Herz gelegt, mich vor Martin Stichler in Acht zu nehmen und mich bloß nicht um den Finger wickeln zu lassen. »Und wenn er auch noch so nett erscheint«, hat sie mich ermahnt, »wenn es hart auf hart kommt, kämpft ihr beide um dieselbe Stelle!«

Nach dem Gespräch und immer noch verwirrt von Tims Song, konnte ich – in Kombination mit Hildes Schnarchen – natürlich auch nicht einschlafen und fiel erst gegen drei Uhr morgens in eine Art Koma. Bei der Vorstellung, jetzt aufstehen zu müssen, wird mir regelrecht übel. Stöhnend quäle ich mich unter meiner Decke hervor und klettere die Leiter nach unten.

»Guten Morgen!« Im Gegensatz zu mir sieht Hilde, die auf ihrem Bett sitzt, blendend aus. Kein Wunder, die hat ja auch seit gestern um neun geratzt wie ein Baby. Benommen stolpere ich zu meinem Schrank, um mir meinen Kulturbeutel zu schnappen. Als ich mich wieder umdrehe, mustert Hilde mich besorgt. »Du siehst ja schlimm aus.«

»Ich bin total fertig«, gebe ich zu. »Drei Stunden Schlaf sind echt zu wenig.«

Ein schuldbewusster Ausdruck tritt auf ihr Gesicht. »Hab ich so laut geschnarcht? Das tut mir leid!«

»Ist schon gut«, beruhige ich sie, »das war nicht wirklich der Grund dafür, dass ich kein Auge zugetan habe.«

»Weißt du was?« Sie lächelt mich an. »Du krabbelst jetzt zurück in dein Bett und schläfst noch eine Stunde. Das mit dem Küchendienst kriege ich schon allein hin. Schließlich habe ich vier Kinder großgezogen.«

»Vier Kinder? Das wusste ich ja gar nicht.«

»Tja«, kommt es fast ein bisschen schnippisch, »du bist ja nicht gerade jemand, der gerne über Privates plaudert.« Dann schlägt sie wieder einen freundlicheren Ton an. »Das war nicht so gemeint, wie es jetzt geklungen hat, aber tatsächlich haben wir in den vier Jahren, die wir schon zusammenarbeiten, kaum ein paar private Worte miteinander gewechselt.«

»Tut mir leid«, antworte ich und schäme mich dabei ein bisschen. »Aber vier Kinder finde ich ja echt beachtlich. Wie alt sind die denn?«

»Meine Älteste in etwa so wie du, der Jüngste wird jetzt neunzehn. Ich bin sogar schon zweifache Oma!« Hilde lächelt stolz.

»Das ist ja toll!«

»Hast du denn noch Geschwister?«

Ich schüttele den Kopf.

»Nein, bin Einzelkind.«

Hilde grinst. »Das habe ich mir irgendwie schon gedacht.«

Bevor ich fragen kann, wie sie das meint, kommt meine Kollegin wieder aufs Ausgangsthema zurück. »Jedenfalls, Kindchen, kannst du ruhig noch eine Stunde schlafen, ich mach das mit dem Frühstück schon allein, das ist überhaupt kein Problem.«

»Kommt nicht in Frage«, gebe ich energisch zurück, »wir sind zusammen eingeteilt, also machen wir das auch zusammen.«

»Aber das ist doch Unsinn«, widerspricht sie, »Hauptsache, das Frühstück wird fertig, ist doch egal, wer das macht. Und mich stört es wirklich nicht, es allein vorzubereiten.«

»Nein, das fände ich nicht gerecht«, meine ich, »ich helfe dir, und damit basta.« Hilde zuckt mit den Schultern und seufzt.

»Wie du meinst, Kindchen.«

 

Nach einem ausgiebigen Frühstück, das gar nicht mal so übel war, wie ich angenommen hatte – während Hilde und ich die Tische im Speiseraum eingedeckt haben, hat Renate Becker in der großen Küche Rührei und Bacon gebrutzelt, neben Aufschnitt und Käse gab es noch frischen Obstsalat, Joghurt, Müsli, frischen Saft und sogar Waffeln –, versammelt sich unsere Truppe wieder im Aufenthaltsraum, um die Aufgabe für den heutigen Tag zu erfahren.

»Guten Morgen!«, werden wir von David begrüßt. »Ich hoffe, ihr habt alle gut geschlafen?« Ein nicht wirklich zufriedenes Brummeln geht durch die Reihen, hier und da blicke ich in extrem verpennte Gesichter. »Bevor ich dazu komme, was wir heute miteinander erleben werden, möchte ich mit euch über gestern sprechen. Dabei ist etwas passiert, was mir ein bisschen Sorgen bereitet.«

Sofort habe ich ein flaues Gefühl im Magen. Was haben wir denn gemacht? Auch meine Kollegen sehen ihn verunsichert und fragend an, als würden sie ebenfalls krampfhaft überlegen, was David nur meinen kann. »Als wir hier angekommen sind«, fährt er fort, »wart ihr alle im ersten Moment wohl ziemlich überrascht.«

»Das kann man sagen«, wirft Robert von World Music ein. Dann schiebt er etwas schief grinsend nach: »Ich meine, du hast ja immer eigenartige Ideen, aber das hier …«

»Genau das meine ich.« David nickt. »Als Renate Becker euch die Hausregeln erklärt hat, ist so gut wie jeder von euch merklich zusammengezuckt, das konnte ich deutlich sehen. Und die Sache mit den Mehrbettzimmern und den Gemeinschaftswaschräumen kam auch nicht so gut an, der eine oder andere von euch ist richtig blass um die Nase geworden.« Mir entfährt ein nervöses Kichern. Denn den Umstand, dass ich mit der Situation ganz und gar nicht einverstanden war, habe ich wohl mehr als deutlich zum Ausdruck gebracht – wirklich mehr als deutlich. Bekomme ich dafür nun doch noch die Quittung serviert? Hat er mir das doch übelgenommen, und ich darf jetzt gehen?

»Trotzdem hat niemand von euch etwas dazu gesagt, dass ich euch das zumute.« Sein Blick wandert zu mir. »Niemand außer Stella.«

»Na ja«, kommt es von Natascha. »Wir dachten uns, du wirst schon deine Gründe dafür haben.«

»Die hatte ich auch«, klärt David sie lächelnd auf. Da bin ich ja mal gespannt. »Ich wollte euch damit zeigen, was passieren kann, wenn man als Gruppe nicht zusammenhält.«

»Wie meinst du das?«, fragt Oliver nach und kratzt sich am Kopf.

»Jeder von euch hat gestern das Gleiche gedacht, nämlich, dass so eine Situation wie diese hier für erwachsene Menschen eigentlich unzumutbar ist.« Zustimmendes Nicken. »Und warum habt ihr dann nicht zusammengehalten und es mir gesagt? Oder Stella bei ihrem Einwand unterstützt? Keiner von euch ist ihr zu Hilfe gekommen, ihr habt alle nur einfach zugesehen.«

Betretenes Schweigen.

»Nun, David, weil du unser Boss bist«, merkt Jenny schließlich etwas kleinlaut an.

»Ach?« David sieht sie erstaunt an. »Und als euer Chef kann ich mit euch alles machen?«

»Hätten wir lieber eine Palastrevolte anzetteln sollen?«, will Tobias wissen. »Zumal wir von Elb Records ja noch gar nicht einschätzen können, wie Widerworte bei dir ankommen.«

»Das stimmt«, räumt David ein. »Aber was hätte ich schon machen können, wenn ihr als Gruppe geschlossen gesagt hättet, dass euch das so nicht passt?«

»Äh, uns alle feuern?«, kommt es von Hilde. Sie hat ebenso viele Fragezeichen im Gesicht wie vermutlich gerade jeder von uns.

»Das wäre wohl kaum möglich, oder?«, erwidert unser Chef.

Ich räuspere mich. »Du willst uns also dazu auffordern, zu meutern und zu rebellieren, wenn uns etwas nicht passt?«, hake ich nach.

David schüttelt den Kopf. »Nein, natürlich nicht. Es geht mir darum, euch darauf hinzuweisen, dass es im Leben Situationen gibt, in denen es wichtig ist, als Team zusammenzuhalten. Und gestern war so eine Situation. Ich veranstalte mit euch etwas, was euch unsinnig erscheint – und außer dir, Stella, halten alle die Klappe? Was passiert, wenn ich euch dazu auffordere, aus dem Fenster zu springen? Macht ihr das dann auch?« Ein leises, nervöses Kichern breitet sich aus. Und ich selbst spüre, dass ich vor lauter Stolz gerade ein bisschen rot anlaufe. Dann war mein Auftritt vielleicht gar nicht so schlimm? David Dressler fand das sogar – gut?

Gleichzeitig steigt in mir noch ein weiteres Gefühl auf: eine unglaublich große Sympathie für meinen neuen Chef. Anders gesagt: Während ich bisher nicht so recht wusste, was ich von ihm halten soll, finde ich ihn schlagartig toll!

»Natürlich war die Art und Weise, wie du deine Kritik vorgebracht hast, nicht optimal«, sagt er zu mir. »Mit einem herrischen Ausraster hat man noch nie etwas erreicht.« Herrischer Ausraster? Okay, ganz so toll finde ich ihn vielleicht doch nicht …

»Also, ich …«, will ich mich rechtfertigen.

»Das soll kein Angriff sein«, beruhigt er mich. »Nur der Hinweis darauf, dass weder der falsche Ton noch ein Kamikaze-Alleingang etwas bringen. Du bist auf deine Kollegen angewiesen und solltest mit ihnen an einem Strang ziehen.«

Jemand bricht in lautes Prusten aus. Mein Kopf schnellt herum, um den Übeltäter auszumachen. Tobias, das war ja klar.

Martin, der direkt neben ihm sitzt, lächelt zwar nett, aber so ein kleines bisschen Schadenfreude meine ich in seiner Miene ausmachen zu können. »Alles in allem will ich euch damit nur sagen: Steht für eure eigenen Interessen ein. Schließt euch zusammen, wenn es Hindernisse gibt, gemeinsam könnt ihr sie leichter aus dem Weg räumen. Und übernehmt Verantwortung für euch selbst – und für eure Kollegen.«

Einen Moment lang herrscht angespanntes Schweigen, weil niemand so genau weiß, wie er nun reagieren soll.

»Amen!« Das war Martin, der nach seinem Kommentar in haltloses Gelächter ausbricht.

»Genau«, sagt David Dressler. »Amen!« Jetzt muss auch ich, wie alle anderen im Raum, lachen. Irgendwie scheint sich dieses Seminar doch wesentlich interessanter zu entwickeln, als ich gedacht hätte. Nein, als ich befürchtet hatte. »Dann würde ich vorschlagen, jeder von euch holt sich jetzt von Renate Becker seinen Schlüssel ab. Ihr zieht nämlich alle um.«

»In Einzelzimmer?«, frage ich und kann mein Glück kaum fassen.

»Exakt«, bestätigt mein Chef. »Im zweiten Stock, in dem ich schon seit gestern wohne, gibt es schöne Räume für«, er schmunzelt, »Erwachsene.« Dann zwinkert er mir zu. »Jeweils mit eigenem Bad. Hättet ihr übrigens gestern schon haben können, wenn ihr den Mund aufgemacht hättet.« Das löst natürlich allgemeines Gestöhne, aber auch noch mehr Lachen aus.

»Hurra!«, ruft Hilde aus. »Dann muss ich mich wegen meiner Schnarcherei endlich nicht mehr so schlecht fühlen!«

»Und was ist mit mir?«, frage ich ein bisschen empört. »Ich habe doch meine Meinung gesagt. Habe ich mir damit nicht schon gestern das Einzelzimmer verdient?«

»Ach, Stella, weißt du«, David sieht mich amüsiert an, »jede Erfahrung ist für irgendwas gut.« Dann wendet er sich wieder an alle. »Außerdem gibt es Frühstück ab sofort bis zehn Uhr, der Küchendienst ist ebenfalls abgeschafft.«

»Toll«, werfe ich erneut ein, muss dabei aber schon beinahe lachen, »da haben Hilde und ich ja gleich zweimal die Arschkarte gezogen.«

»Mir hat das nichts ausgemacht«, erklärt meine Kollegin, »wer vier Kinder großgezogen hat, empfindet das hier selbst mit Frühdienst als Wellnessurlaub.«

»Das ist die richtige Einstellung!«, meint unser Chef und lächelt. »Dann räumt mal eure Sachen in die neuen Zimmer um, wir treffen uns dann in einer Stunde draußen vorm Eingang.«

»Was liegt denn heute an?«, fragt Tobias.

»Heute und morgen«, erwidert unser Chef, »drehen wir einen Film.«

»Voll Porno!«, ruft Tobias.

»Äh«, jetzt wirkt sogar David mal für einen kurzen Moment irritiert. »Das nun nicht gerade.«