1. Kapitel
Du hast viel zu viel Gefühl, doch kannst du’s mir nicht zeigen, / versteckst dich hinter einem Spiel, aus Angst davor zu leiden. / Komm her, ich halte dich, du brauchst nicht wegzulaufen, / verlass dich jeden Tag auf mich …«
Entnervt schalte ich den CD-Player aus und vergrabe mein Gesicht in den Händen.
»… zur Not kannst du dich auch besaufen«, singe ich und äffe dabei die Stimme der Heulsuse nach, deren Geplärre gerade noch aus den Lautsprechern kam. Dann sehe ich wieder auf und betrachte die abwartende Miene von meinem Junior A&R-Manager Tobias, der in gespannter Haltung vor meinem Schreibtisch sitzt.
»Und?«, will er wissen, und ich meine ein leichtes Zittern in seiner Stimme zu vernehmen. »Wie findest du die?«
Ich seufze und verdrehe die Augen.
»Ehrlich gesagt«, fange ich an und mache eine kleine Pause, um nach den passenden Worten zu suchen. Ich will ja nicht seine Gefühle verletzen. »Das ist der größte Mist, den ich seit langer Zeit gehört habe. Und zwar mit Abstand.«
»Äh, echt?« Tobias schluckt nervös und fängt an, hektisch mit einem Fuß zu wippen.
»Ja, echt.«
»Also, meiner Meinung nach hat die irgendwie was von Ich&Ich, da sehe ich ziemlich großes Potenzial«, versucht Tobias, seine Neuentdeckung, die er mir eben vorgestellt hat, zu verteidigen.
Da er auf meine – nennen wir sie mal subtile – Erstkritik nicht anspricht, muss ich wohl deutlicher werden. »Tobias«, gebe ich zurück, »das ist gequirlter Quark! Deutsche Betroffenheitslyrik aus dem alleruntersten Regal.« Ich nehme die CD aus dem Player und befördere sie demonstrativ in meinen Papierkorb. »Und singen kann das Mädchen auch nicht.«
»Aber guck doch mal!«, ruft mein Kollege jetzt aufgeregt, nimmt den großen Umschlag, den er vorhin auf meinen Schreibtisch gelegt hat, und holt das Foto einer Blondine heraus. »Sie sieht wirklich unglaublich gut aus! Eine Mischung aus Annett Louisan und Lady Gaga! Und die ist erst achtzehn, da kann also noch eine Menge kommen!«
Ich werfe einen Blick auf das Bild. »Ja, in der Tat, eine attraktive junge Frau«, gebe ich ihm recht, denn sie ist wirklich hübsch. Dann lehne ich mich ein Stückchen zu Tobias vor und senke die Stimme. »Nur leider sind wir hier keine Modelagentur, sondern eine Plattenfirma. Schick das Mädchen zu Germany’s Next Topmodel, da hat es bestimmt gute Chancen.«
»Aber, aber, aber …« Tobias unterbricht sich und betrachtet angestrengt seine Fingernägel.
»Aber was?«
»Ich habe …« Er läuft ein bisschen rot an und beginnt nun tatsächlich, an seinen Nägeln zu kauen. »Ich, äh, hab ihrem Management schon gesagt, dass wir ihr einen Künstlervertrag geben werden.«
»Tja«, ich zucke mit den Schultern, »dann wirst du wohl das Management anrufen und denen sagen müssen, dass daraus doch nichts wird.« Gleichzeitig frage ich mich: Wie kommt diese quäkende Tröte an ein Management? Sind die da taub? Na ja, ich kenne so etwas schon: In solchen Fällen ist der Manager dann meist der überambitionierte Vater, der unbedingt will, dass sein Töchterchen ganz groß rauskommt. Könnte wetten, die Trine taucht in der nächsten Staffel von DSDS auf. Dann kann Dieter Bohlen ihr sagen, dass sie kein Talent hat, dafür findet er ja immer genau die richtigen zartfühlenden Worte.
»Können wir nicht trotzdem«, unterbricht Tobias meine Gedanken, »ein paar Probeaufnahmen mit ihr machen?«
Mannomann, der ist echt hartnäckig!
»Nein«, erwidere ich knapp. »Können wir nicht.«
»Es kann aber doch sein, dass sie im Studio …«
»Nein!«, unterbreche ich ihn und merke, dass ich langsam richtig genervt werde. »Das Mädchen kann nicht singen, die Komposition ist Mist, und die Texte sind ganz großer Dreck! Da stimmt nichts, aber auch rein gar nichts!«
Tobias zögert einen Moment, dann schnappt er sich den Umschlag, stopft das Foto wieder rein, steht auf und trollt sich mit hängenden Schultern aus meinem Büro. Er ist schon fast aus der Tür, als ich ein grummeliges »Zicke« vernehme.
»Danke schön!«, flöte ich ihm hinterher und muss dabei fast lachen. Irgendwie ist es ja niedlich, wie Tobias hier eben gekämpft hat. Aber wenn wir jedes hoffnungsvolle Sternchen unter Vertrag nehmen, dem der liebe Gott ein bisschen zu viel Selbstbewusstsein und ein bisschen zu wenig Stimmvolumen mitgegeben hat, können wir auch gleich anfangen, Alben mit peruanischen Panflötengruppen aus der Fußgängerzone aufzunehmen. Also nein, wirklich nicht! »Ach, Tobias?«, rufe ich dann, weil mir noch etwas einfällt.
»Ja?« Er steckt den Kopf noch einmal durch meine Bürotür.
»Was ist eigentlich mit dem Artwork für die Rhythmusjunkies?« In zwei Monaten bringt die Gruppe ein neues Album heraus, und das Booklet mit Texten und Fotos dafür muss langsam fertig werden.
»Ist schon im Druck.«
»Wie bitte?«, frage ich irritiert nach. »Wieso das denn? Du hast es mir doch gar nicht noch mal vorgelegt!«
Tobias mustert mich unsicher. »Ich …«, beginnt er stotternd, »… ich dachte, das sei so okay. Du hast es ja schon dreimal gesehen und hattest nur noch einen kleinen Änderungswunsch. Den habe ich umsetzen lassen und dann …«
»Wie, und dann?« Ich merke, wie unverhohlener Ärger in mir aufsteigt.
»Ja, also … Das Produktmanagement fand auch alles okay, und langsam drängt die Zeit … und außerdem war es ja wirklich keine große Änderung mehr … und …« Er unterbricht sich, ich mustere ihn mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Und?«, frage ich gedehnt und gleichzeitig herausfordernd. Auf einmal geht ein merklicher Ruck durch Tobias, er strafft die Schultern und wirft mir einen nahezu kämpferischen Blick zu.
»Und außerdem«, bellt er, »sind die Rhythmusjunkies mein Act, die betreue ich!«
Huch, jetzt hat er’s mir aber mal gezeigt, so was aber auch!
»Verstehe«, gebe ich zurück und schüttele nachsichtig lächelnd den Kopf. »Tobias«, rede ich dann weiter wie mit einem renitenten Kleinkind, dem man alles erklären muss. »Wie genau nennt sich deine Position, die du bei Elb Records hast?«
»A&R-Manager«, antwortet er leise.
»Wie bitte?«
»Junior A&R-Manager«, verbessert er sich.
»Richtig«, stimme ich ihm zu. »Und ich bin Senior A&R-Manager. Was sagt dir das?« Er blickt verlegen zu Boden und tritt von einem Fuß auf den anderen.
Es tut mir schon leid, dass ich ihn gerade so in die Zange nehmen muss – aber immerhin trage ich hier die Verantwortung, da muss ich zusehen, dass meine Leute keinen Scheiß bauen. Okay, genauer gesagt sind »meine Leute« eher »mein Leut«, denn Tobias ist mein einziger direkter Mitarbeiter im A&R-Department. Aber trotzdem!
»Also, was sagt dir das?«, wiederhole ich daher.
Er schweigt bockig.
Ich seufze innerlich. »Das sagt dir, dass ich dein Boss bin und du mit mir vor jeder Entscheidung Rücksprache halten musst.«
»Aber es war doch nur das Booklet«, nuschelt er leise.
»Ist mir egal«, weise ich ihn zurecht, »ob es nur das Booklet oder nur die Entscheidung darüber ist, ob der Künstler auf seinem Foto den Scheitel links oder rechts tragen soll, oder von mir aus darüber, ob du aufs Klo gehst!«
»Aber …«
»Ist das klar, Tobias? Haben wir uns da jetzt verstanden?«
Er nickt.
»Dann ist ja gut.«
Er entschwindet, und ich meine ein leises »Kontrollfreak!« zu vernehmen. Soll er halt. Schließlich bin ich diejenige, die am Ende ihren Kopf für alles hinhalten muss. Wenn er irgendwann so weit ist, kann er gern seinen eigenen Mist bauen – aber noch bin ich seine Vorgesetzte.
»Na?« Unsere Sekretärin Hilde steht in meiner Tür und lächelt mich amüsiert an. »Mal wieder Ärger mit dem Junior? Der ist ja ziemlich geknickt hier rausgeschlichen.«
»Ach«, seufze ich, »Ärger würde ich jetzt nicht sagen. Ich muss ihn nur hin und wieder daran erinnern, dass wir hier kein anarchistischer Haufen sind, bei dem jeder machen kann, was er will.«
Hilde lacht glucksend. »Sei nicht so streng mit ihm, Stella! Das ist halt jugendliche Euphorie.«
»Dagegen hab ich ja auch nichts«, gebe ich zu, »aber wenn sie in blinden Aktionismus ausartet, muss ich ja wohl mal was sagen.«
»Du wirst dir Tobias schon zurechtbiegen«, erwidert unsere Sekretärin schmunzelnd. Dann holt sie hinter ihrem Rücken eine große Packung Merci-Schokolade hervor und legt sie mir auf den Tisch. Ich sehe sie fragend an. »Stichwort ›zurechtbiegen‹«, erklärt sie, »danke noch mal, dass du mir letzte Woche bei den Reisekostenabrechnungen geholfen hast. Ich weiß auch nicht, weshalb ich da so durcheinandergekommen bin.«
»Kein Ding«, winke ich ab, »war ja nur ein verrutschtes Komma, das war jetzt wirklich keine große Sache.«
»Doch«, insistiert Hilde, »ohne dich hätte ich den Fehler nicht gefunden und da noch stundenlang drüber gegrübelt.«
»Ich hab da einen Trick«, verrate ich ihr, »Zahlen gehe ich immer von hinten nach vorn durch, und zwar zweimal. Da findet man eigentlich alles.«
»Guter Tipp«, sagt Hilde.
»Also, danke für die Schokolade, auch wenn das echt nicht nötig war.«
»Ich hoffe, du isst so was überhaupt. So schlank, wie du bist, war ich mir nicht sicher.«
»Doch, doch, hin und wieder nasche ich schon.«
»Dann hast du Glück, dass man es dir nicht ansieht«, stellt unsere Sekretärin fest. »Bei mir setzt es ja leider schon an, wenn ich mit dem Bus an einer Konditorei vorbeifahre.« Sie klopft sich mit einer Hand auf ihren wirklich beachtlich runden Bauch. »Aber mit über fünfzig muss man ja auch nicht mehr aussehen wie Twiggy.«
»Hmm«, erwidere ich und weiß jetzt nicht so recht, was ich darauf antworten soll. Recht hast du? Das wäre ein bisschen gemein. Das ist doch Quatsch? Das wäre ganz offensichtlich gelogen. »Mhhmmm«, ziehe ich mich lautmalerisch aus der Affäre.
Hilde macht keinerlei Anstalten zu gehen, sondern lächelt mich weiterhin freundlich an. Scheint irgendwie in Plauderlaune zu sein. »Ja, äh, also«, setze ich an, »das ist wirklich total nett von dir.« Dann nehme ich die Packung in die Hand und reiße sie an der Perforation auf. »Willst du vielleicht ein Stück?«
»Och, wenn du mich so fragst: Danke, sehr gern!« Sie lässt ihre Finger über die offene Packung kreisen und entscheidet sich dann für einen Riegel Krokantschokolade.
»Hm, lecker«, teilt sie mir mampfend mit. Ich überlege, ob ich jetzt aus Höflichkeit auch ein Stück essen sollte. Allerdings hatte ich beim Mittagessen schon einen Vanillepudding, damit ist mein Süßigkeitenbedarf für heute eigentlich abgedeckt. Bevor ich weiter darüber nachdenken kann, klingelt mein Telefon. Die Rettung vor zu viel Bürointimität! Ich nehme mit einem entschuldigenden Schulterzucken in Hildes Richtung ab.
»Elb Records, Stella Wundermann«, melde ich mich.
»Hallo, mein Schatz!« Meine Mutter. Okay, nicht der wichtige Geschäftsanruf, den ich jetzt gerade brauchen könnte, aber in der Not kann man nicht wählerisch sein.
»Einen Moment, bitte«, sage ich so professionell, als würde Lady Gagas Manager persönlich anrufen, lege die Hand über die Muschel und wende mich wieder an Hilde: »Also, wie gesagt, danke schön. Wenn du mal wieder Hilfe brauchst, sag einfach Bescheid.«
»Mach ich.« Mit einem kecken Grinsen stibitzt sie sich noch einen Riegel aus der Packung und marschiert dann aus meinem Büro. Ich sehe ihr nach und denke kurz, dass ihre Figur vermutlich nicht nur deshalb so üppig ist, weil sie hin und wieder an einer Konditorei vorbeifährt: Bei ihrem stattlichen Umfang muss der Bus schon so etwas wie eine Großraumbäckerei auf Rädern sein.
»Stella?«, kommt es aus dem Hörer.
»Tut mir leid, Mama«, entschuldige ich mich. »Ich hab hier gerade noch mit einem Kollegen gesprochen.«
»Kein Problem«, antwortet sie. »Ich wollte auch nur mal fragen, wie es dir geht.«
»Nicht viel anders als gestern«, erwidere ich.
»Entschuldige bitte mal«, kommt es prompt etwas beleidigt aus dem Hörer, »du wolltest mich gestern zurückrufen und hast es nicht getan, da werde ich ja wohl mal nachhorchen dürfen, ob irgendwas los ist.«
Ich unterdrücke ein genervtes Seufzen. »Gar nichts ist los«, antworte ich gedehnt. »Außer dass ich hier unheimlich viel zu tun habe und mir im Büro schlicht und ergreifend die Zeit für einen gemütlichen Plausch fehlt.«
»Zeit hast du ja nie.« Zack, der nächste Vorwurf.
»Also echt, Mama! Ich bin hier bei der Arbeit, das ist doch nicht mein Hobby!«
»Ja, und wenn du nicht im Büro sitzt, bist du ständig auf irgendwelchen Konzerten oder Reisen unterwegs!«
»Das ist auch Arbeit«, erkläre ich ihr. »Du weißt doch, es gehört zu meinem Job, auf Gigs zu gehen und mir Bands anzuhören.«
Jetzt ist es an ihr, zu seufzen. »Das weiß ich ja, mein Schatz. Und ich bin unheimlich stolz auf dich, wie gut du das alles machst. Aber ich vermisse dich eben auch und würde mich freuen, öfter von dir zu hören.« Sie legt eine kurze Kunstpause ein, und ich könnte fast mitsprechen, als der nächste Vorwurf kommt: »Davon, dich mal wieder zu sehen, rede ich ja schon gar nicht.«
»Ich war doch vorletztes Wochenende da!«, wende ich ein.
»Für zwei Stunden! Du hattest ja kaum Zeit, deine Jacke auszuziehen! Und außerdem warst du doch nur in Bremen, um dir eine Band anzuhören, jetzt tu also nicht so, als hättest du mich besuchen wollen!«
»Okay«, ich blättere in meinem Kalender. »Was hältst du davon, wenn ich Sonntag vorbeikomme? Da hab ich noch gar nichts anderes vor.«
»Du sollst dich aber auch nicht gezwungen fühlen«, erklärt sie mit trauriger Stimme, »das will ich natürlich nicht …«
Das ist typisch für meine Mutter: Erst beschwert sie sich, und wenn man dann einen Vorschlag macht, will sie sich auch noch bitten lassen. Ich muss unwillkürlich den Kopf schütteln. Wenn es eine Meisterschaft in emotionaler Erpressung gäbe – Mutti wäre die unangefochtene Titelverteidigerin.
Aber ich will nicht ungerecht sein, sie hat es auch oft nicht leicht gehabt. Wir beide haben es nicht leicht gehabt, um genau zu sein. Nachdem sich mein Vater – ein italienischer Pianist, dem ich auch den für meinen Geschmack etwas zu verspielten Vornamen Stella zu verdanken habe – Knall auf Fall aus dem Staub gemacht hat, als ich gerade mal sechs Jahre alt war. Keine Ahnung, wohin, wir haben nie wieder etwas von ihm gehört. Ich nehme an, er hockt irgendwo in Rom, Neapel oder auf Sizilien herum, es ist mir aber auch egal. Wer sich so verhält, kann von mir aus bleiben, wo der Pfeffer wächst. Das sah meine Mutter genauso, schließlich hatten wir ja noch uns.
»Ich komme dich wirklich gern besuchen«, bekräftige ich noch einmal.
»Da freue ich mich! Soll ich dir Rouladen machen?«, fragt sie wie nebenbei. Ich muss lachen, denn natürlich weiß Mutti, dass ich so ziemlich allem im Leben widerstehen kann, aber ganz sicher nicht ihren Rouladen!
»Dann komme ich umso lieber!«
»Gut, mein Schatz. Wann bist du denn da?«
»Ich denke, so gegen elf.«
»Okay. Aber denk bitte daran, dass wir hier in der Straße jetzt Anwohnerparken haben. Am besten fährst du in die Stichstraße am Ende …«
Ich halte den Hörer ein Stückchen von meinem Ohr weg. Das ist der zweite typische Wesenszug meiner Mutter: Sie denkt noch immer, ich sei ein Kleinkind, dem man alles erklären muss. Wenn ich überlege, wie oft sie mir schon beschrieben hat, wie genau ich wo in Bremen hinfahren und parken soll, werde ich allein bei dem Gedanken daran wahnsinnig. Aber ich habe es aufgegeben, ihr zu sagen, dass ich mit meinen zweiunddreißig Jahren durchaus erwachsen und in der Lage bin, selbstständig zu ihrer Wohnung zu finden und mein Auto irgendwo abzustellen. Zumal ich ja dort aufgewachsen bin.
»… da kannst du dann ohne Probleme bis abends stehen bleiben«, kommt sie mit ihren Ausführungen zum Ende.
»Ja, gut, mach ich. Also dann bis Sonntag!«
»Bis dann!« Ich lege auf, dann stelle ich meinen Apparat nach vorn zu Hilde um. Wie ich Mama kenne, wird sie jetzt noch dreimal anrufen, um zu fragen, ob Rouladen wirklich gut sind oder sie lieber einen Hackbraten machen soll und ob es nicht eigentlich besser wäre, wenn ich mit dem Zug komme, weil auf der A1 doch momentan so viele Baustellen sind und überhaupt … Soll Hilde sich mit ihr darüber unterhalten, die war ja eben in echter Plauderlaune, und ich brauche jetzt mal einen Moment Ruhe.
Ich starre nachdenklich an die Decke. Das war’s dann wohl mit meinem gemütlichen Sonntag, an dem ich einfach nur in der Wanne liegen und einen schönen Schmöker lesen wollte. Und das, nachdem gerade diese Woche besonders anstrengend wird. Neben diversen Meetings habe ich jeden Abend Termine: zwei Konzerte (von denen eins vermutlich klasse wird und das andere mir schon jetzt latente Zahnschmerzen beschert, aber auch das gehört zu meinem Job), eine Album-Release-Party, bei der auch jede Menge Presse dabei sein wird, ein Abendessen mit dem Management eines unserer Künstler, und am Freitag bin ich mit der Newcomerband Reeperbahnjungs verabredet, die ich unter Vertrag nehmen möchte und die mir ihre neuen Sachen vorspielen wollen. Samstag treffe ich mich dann mit meiner besten Freundin Miriam, die an dem Tag aus ihrem Urlaub zurückkommt. Ich schließe die Augen. Uff! Was für ein Programm!
Aber ich will mich nicht beschweren, ich habe bei Elb Records wirklich meinen absoluten Traumjob gefunden. Ich wollte schon immer etwas mit Musik machen. Als Teenager habe ich sogar davon geträumt, selbst Sängerin zu werden, so spinnerte Kleinmädchenflausen halt. Das kam vermutlich daher, weil ich früher als Kind viel mit meinem Vater gesungen habe und er meinte, ich hätte eine so besondere Stimme, mit der ich später mal viel anfangen könnte. Nun, was man von den Aussagen meines Erzeugers halten kann, ist ja bekannt … Also war ich nach dem Abi dann doch so vernünftig, nicht Musik zu studieren, sondern lieber eine Ausbildung zur Kauffrau für audiovisuelle Medien zu machen. Und dann habe ich Stück für Stück auf mein eigentliches Ziel hingearbeitet, irgendwann A&R-Manager zu werden. Das hatte ich mit Mitte zwanzig geschafft, damals noch bei einem großen Label. Vor vier Jahren habe ich dann das Angebot bekommen, Senior A&R-Manager bei der neugegründeten Firma Elb Records zu werden. Da habe ich natürlich sofort zugeschlagen und es bisher nicht ein einziges Mal bereut.
Wir sind ein kleines Label mit nur acht Mitarbeitern – aber nicht ohne Stolz kann ich sagen, dass wir recht erfolgreich sind. Wir haben uns auf deutsche Pop- und Rockmusik spezialisiert, auf Musiker und Bands, die in die Richtung von Revolverheld, Juli, Jupiter Jones oder Pohlmann gehen. Inzwischen sind uns schon einige Charthits gelungen. Okay, es waren auch Rohrkrepierer dabei, gerade im vergangenen Jahr sind mir zwei Acts nacheinander gefloppt. Aber Lutz, mein Chef und Inhaber von Elb Records, weiß, wie schwierig es ist, einen Erfolg zu kalkulieren. Außerdem: Wenn ich ihm erst einmal ein Demo der Reeperbahnjungs präsentiere, wird er begeistert sein. Ich bin mir zu hundert Prozent sicher, dass die Jungs erfolgreich werden. Nicht nur, dass alle vier phantastisch aussehen – vor allem der Leadsänger Tim Lievers, ein echter Frauentyp! –, sie machen auch wirklich großartige Musik. Seit einem halben Jahr komponieren und texten sie, was das Zeug hält, und ich bin zuversichtlich, dass wir bald den richtigen Song haben, den ich Lutz und den anderen dann als Single vorstellen werde. Bei dem Gedanken grinse ich vor mich hin. Was für ein Glück, dass ich damals zu ihrem Auftritt ins Logo gegangen bin, einem Live-Musik-Schuppen hier in der Stadt. Eigentlich wollte ich gar nicht, weil ich ein Date hatte. Aber dann hat mich dieser Idiot zehn Minuten vorher versetzt, und ich bin ziemlich angefressen zum Konzert der Reeperbahnjungs gefahren – und muss sagen, dass das wohl eine Art Fügung des Schicksals war. Schon nach dem ersten Stück wusste ich, dass diese Band absolutes Hitpotenzial hat. Und ich brauche keinen Kerl, ich brauche Hits! Davon werde ich mit Tim Lievers und den Reeperbahnjungs schon bald wieder einen auf den Markt werfen, das steht für mich außer Zweifel. Doch, mein Leben ist prima!
»Na?« Unbemerkt ist Lutz in mein Büro gekommen und lehnt nun lässig im Türrahmen. Ich sollte dort so einen Kasten anbringen lassen, aus denen man auf Ämtern seine Nummer zieht, so schnell, wie sich hier heute die Kollegen die Klinke in die Hand geben. Wobei: Lutz ist ja kein Kollege, er ist mein Chef, und für den habe ich natürlich immer Zeit.
»Was grinst du denn so zufrieden vor dich hin?«, will er wissen. Obwohl er schon Mitte fünfzig ist, duzen wir uns; überhaupt spricht sich in der Musikbranche so gut wie keiner mit Sie an.
»Nix«, antworte ich, denn noch sollen die Reeperbahnjungs mein Geheimnis bleiben, »hab nur gerade an was gedacht.«
»Das scheint ja etwas Schönes gewesen zu sein«, kommentiert mein Boss und schiebt ein neckendes »Bist du etwa verliebt?« hinterher.
»Quatsch!« Ich mache eine wegwerfende Handbewegung. »Mein Herz schlägt nur für die Musik, weißt du doch.«
Mit einem Mal tritt ein etwas seltsamer Ausdruck auf sein Gesicht. Irgendwie nahezu düster. »Da bin ich aber beruhigt«, sagt er, aber es klingt merkwürdig. Hat er meinen flapsigen Kommentar in den falschen Hals bekommen?
»Kannst du mal mit in den Konfi kommen? Ich muss mit euch allen reden. Die anderen sind schon da, aber dein Telefon war auf Hilde umgestellt.«
»Klar«, erwidere ich etwas verwundert. »Was gibt’s denn?«
»Erkläre ich dir gleich«, sagt er nur, dreht sich um und geht. Ich folge meinem Boss und bin etwas irritiert. Natürlich ist es keine Seltenheit, dass wir uns alle zu einem Meeting treffen – aber irgendwie habe ich plötzlich ein ganz komisches Gefühl, mir ist regelrecht flau im Magen. Das letzte Mal, dass ich so etwas gespürt habe, war … hmm … auweia: vor gut fünf Jahren, als mein damaliger Freund von heute auf morgen und ohne Vorwarnung mit mir Schluss gemacht hat!
Hat Lutz das etwa auch vor? Also, nicht mit mir Schluss machen, sondern mich rauswerfen?
Aber das ist ja Unsinn, beruhige ich mich in Gedanken, dafür würde er ja nicht die gesamte Belegschaft im Konfi versammeln.
Oder etwa doch?
Will er mich vielleicht coram publico feuern? Waren die zwei Flops im letzten Jahr doch zu heftig? Habe ich irgendwo irgendwas übersehen? Wie konnte mir das passieren? Und was überhaupt? Und …
Stella, ermahne ich mich, während ich meinem Chef weiter in Richtung Besprechungsraum folge, jetzt hör auf, dir irgendwelche Horrorszenarien vorzustellen, deine Paranoia ist ja wirklich unerträglich! Es wird schon nichts sein.
Auch meine Kollegen sehen ein wenig beunruhigt aus, als ich direkt hinter Lutz in den Konferenzraum komme. Tobias knabbert mal wieder an seinen Fingernägeln. Auf Hildes Stirn steht eine steile Sorgenfalte, und sie kaut nervös auf einem weiteren Schokoriegel herum. Silke vom Marketing hat hektische Flecken im Gesicht, und auch ihre Kollegin Mareike, die für Presse und Promotion zuständig ist, sieht alles andere als glücklich aus. Nur Oliver, unser Produktmanager, wirkt einigermaßen gelassen. Er kippelt mit seinem Stuhl und diskutiert mit Sven vom Vertrieb über einen neuen Club, den er am Wochenende entdeckt hat. Aber kaum sind wir eingetreten, verstummt das Gespräch.
Lutz nimmt an der Stirnseite des Konferenztisches Platz, ich setze mich neben Hilde.
»Was ist denn los?«, flüstere ich ihr leise zu, aber sie schüttelt nur stumm den Kopf.
»Also, Leute«, beginnt Lutz, dann räuspert er sich. »Ich weiß, dass das für euch alle jetzt sehr überraschend kommt. Mich hat es selbst überrascht …« Er unterbricht sich und scheint nach den richtigen Worten zu suchen.
Mit ihrer freien Hand umklammert Hilde die Armlehne ihres Stuhls so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortreten. Mein Herz wummert mittlerweile so schnell wie der Beat eines Scooter-Songs, denn nach der Einleitung bin ich mir ganz sicher: Es wird doch etwas ganz, ganz Schlimmes sein, was Lutz uns im nächsten Augenblick mitteilen wird!
»Es ist mir wirklich nicht leichtgefallen, diese Entscheidung zu treffen«, fährt Lutz fort. »Aber ich konnte nicht anders, was ihr hoffentlich verstehen werdet. In den vergangenen Tagen habe ich hin und her überlegt, habe die verschiedenen Möglichkeiten wieder und wieder durchgedacht …«
»Jetzt sag schon endlich, worum es geht!«, platze ich heraus. Wenn Lutz hier noch länger um den heißen Brei herumredet, bekomme ich gleich einen Herzinfarkt!
»Also gut«, er seufzt, dann lässt er seinen Blick vom einen zum anderen wandern. Und eine Sekunde später platzt die Bombe: »Ich habe Elb Records verkauft und höre auf.«
Bumm!
Oliver ist mit seinem Stuhl umgekippt. Oder war das jetzt doch ein Herzinfarkt?