2. Kapitel
Du hast bitte was?« Tobias ist der Erste von uns, der seine Sprache wiederfindet. Mag daran liegen, dass er hier mit seinen vierundzwanzig Jahren der Jüngste ist, in dem Alter wäre ich nach so einem Tiefschlag auch schneller wieder aufgestanden.
Lutz setzt eine zerknirschte Miene auf. »Tut mir leid, Leute, so ist es.«
»Aber, aber, aber«, kommt es von Oliver, der sich gerade mühsam vom Boden hochgerappelt hat und jetzt mit seiner rechten Hand den linken Ellbogen reibt, der bei seinem Sturz offenbar in Mitleidenschaft gezogen worden ist, »warum denn? Das verstehe ich nicht.«
»Ich auch nicht«, wirft Hilde ein und nestelt an der Verpackung des nächsten Schokoriegels herum. Nun löst sich auch bei mir die Schockstarre, und ich bekomme den Mund wieder auf: »Einfach so, von heute auf morgen?«, will ich wissen. »Warum hast du uns nicht früher erzählt, dass du das Label verkaufen willst?«
»Das wollte ich ja gar nicht«, bringt Lutz in entschuldigendem Tonfall vor. »Mich hat es selbst überrascht, das könnt ihr mir glauben!«
»Wie kann dich das denn selbst überraschen?«, hakt unsere Marketing-Frau Silke skeptisch nach. »Oder waren bei der Entscheidung irgendwelche Drogen im Spiel, die dich dazu veranlasst haben, gegen deinen eigenen Willen zu handeln? Hat dich jemand unter Halluzinogene gesetzt, und du wusstest nicht, was du tust?«
»Nein, natürlich nicht.« Lutz schüttelt den Kopf. »Die Sache ist nur die: Ich habe ein so unglaublich gutes Angebot erhalten, dass ich es schlicht nicht ausschlagen konnte.«
Okay, die Drogen wären mir als Erklärung deutlich lieber gewesen. »Verstehe«, kommentiere ich leicht säuerlich, »der schnöde Mammon war’s, wir sind dir da völlig egal.«
»Quatsch«, widerspricht Lutz. »Wie ich schon sagte: Die Entscheidung ist mir sehr, sehr schwergefallen. Aber, ganz ehrlich«, mittlerweile schlägt er einen Verständnis heischenden Tonfall an, »ich bin jetzt vierundfünfzig Jahre alt.«
»Das ist ja wohl kein Alter«, meldet Hilde sich zu Wort und wirkt etwas pikiert. Kein Wunder, sie ist ja zwei Jahre älter als er.
»Doch«, erwidert Lutz. »Ich möchte nicht in der Musikbranche rumturnen, bis ich ein Greis bin.«
Oha, sehr böser Blick von Hilde. Sie packt den nächsten Riegel aus und stopft ihn sich wütend in den Mund. Unser Boss spricht derweil unbeirrt weiter: »Das ist ein Job für jemanden, der jünger ist. Viel länger als drei oder vier Jahre hätte ich Elb Records eh nicht mehr gemacht. Meine Frau spricht schon lange davon, dass sie sich mit mir endlich auf Mallorca zur Ruhe setzen will. Und dass ich mehr Zeit für sie haben soll.«
»Und warum machst du es dann nicht noch drei oder vier Jahre?«, will Oliver wissen. »Weshalb dieser überstürzte Sinneswandel?«
»Das habe ich doch schon erklärt: Gerade jetzt habe ich ein tolles Angebot erhalten. Wer weiß, ob das in ein paar Jahren auch noch so ist, die Chance kann und will ich mir einfach nicht entgehen lassen.«
Es gibt etwas Gemurmel, von dem man nicht sicher sein kann, ob es Zustimmung ist oder der Aufruf zur Meuterei. Ich würde mich dem nur zu gerne anschließen, aber eine muss jetzt wohl einen klaren Kopf bewahren. »Und wer hat das Label gekauft?«, stelle ich eine nicht unwesentliche Frage.
»Stimmt überhaupt, zu wem gehören wir denn jetzt?«, schließt sich Tobias an.
»Das müsst ihr auf jeden Fall noch für euch behalten, bis wir es offiziell den Branchendiensten melden. Das wird noch ein oder zwei Wochen dauern«, erklärt Lutz.
»Ja, ist klar.« Tobias nickt ungeduldig. »Aber an wen hast du denn nun verkauft?«
»An World Music«, antwortet Lutz.
Ein erschrockener Aufschrei geht durch die Reihen, und auch mir sackt das Herz in die Hose. Ausgerechnet World Music, unser Hauptkonkurrent! Das Label, das nicht größer ist als unseres, hat sich nämlich genau wie wir auf deutschen Rock und Pop spezialisiert, und mehr als einmal haben sie uns einen Act, den wir auch haben wollten, vor der Nase weggeschnappt.
Okay, Stella, keine Panik. Du bist ruhig und entspannt. Du behältst einen klaren Kopf. Du … »Dann sind wir ja jetzt alle unsere Jobs los!«, rufe ich entsetzt. Die anderen nicken zustimmend.
»Keine Panik!«, sagt Lutz. »Ich habe vom Geschäftsführer David Dressler die Zusage, dass es vorerst keine Entlassungen geben wird.«
»Vorerst? Pfff!«, kommt es von Tobias, der gerade ziemlich blass um die Nase ist. Kein Wunder, er ist noch mitten in der Probezeit und hat sich noch nicht durch ein sonderlich gutes Händchen hervorgetan. Okay, bisher hat er immer mir zugearbeitet, aber wenn er auf die Abschussliste kommt, werde ich ihn wohl auch nicht retten können.
»Nein, so meine ich das nicht«, erklärt unser Boss beschwichtigend. »David Dressler hat mir in die Hand versprochen, dass er alles tun wird, um sämtliche Jobs zu erhalten. Immerhin wird sein Label ja nun doppelt so groß wie vorher, demnach ist dann auch doppelt so viel zu tun.«
»Ach, komm schon!«, wirft Oliver in spöttischem Tonfall ein. »Das wäre ja ganz was Neues, dass eine Firma nach dem Verkauf nicht erst einmal gesundgeschrumpft wird!«
»Wie gesagt«, schlägt Lutz wieder einen strengen Tonfall an, »er hat es mir versprochen, mehr kann ich da auch nicht tun.«
Ein unwilliges Murren geht durch die Reihen. Und ich kann nur noch einen einzigen Gedanken fassen: Senior A&R-Manager. World Music hat auch einen Senior A&R-Manager! Martin Stichler, den kenne ich sogar. Zwar nur flüchtig von Veranstaltungen, weil ich ihm lieber aus dem Weg gehe, aber die Branche ist zu klein, als dass man sich nicht immer wieder über den Weg laufen würde. Er ist Mitte dreißig und ziemlich von sich überzeugt, sowohl beruflich als auch privat. Mit anderen Worten: ein Großkotz, der sich nicht nur für den Hohepriester der Musikindustrie hält, sondern auch noch für Gottes Geschenk an die Frauen. Ich habe schon öfter beobachtet, wie er selbstgefällig um alles herumscharwenzelt, was weiblich und gutaussehend ist. Und das, obwohl er dabei stets auch noch eine andere Dame am Strick hatte. Okay, er ist wirklich attraktiv, bestimmt einen Meter neunzig groß, durchtrainiert, hat blonde Haare und sehr blaue Augen. Aber, wie meine Freundin Miriam mal feststellte, als ich ihn ihr auf einem Konzert gezeigt habe: »Sieht zwar echt nett aus, aber das ist doch noch lange kein Typ, nach dessen Anblick ich künstlich beatmet werden muss.«
Tja, ganz im Gegensatz zu mir, denn ich habe schon das Gefühl, dass ich gleich eine Extraportion Sauerstoff brauche – ich stehe kurz vorm Hyperventilieren! Denn egal, was David Dressler Lutz versprochen hat – ich kann mir nicht vorstellen, dass er für ein Label der Größe, die bei dem Zusammenschluss von Elb Records und World Music herauskommen wird, zwei Senior A&R-Manager braucht. Was mich zu folgenden Rückschlüssen bringt: Entweder ich werde schon bald zum normalen A&R degradiert – oder ich kann gleich ganz meine Sachen packen. Allein bei dem Gedanken daran wird mir schlecht, das ist der absolute SUPERGAU! Schnell, ich muss mich betrinken!
»Wie gesagt«, dringt die Stimme von Lutz nun wieder an mein Ohr, »ihr müsst diese Information unbedingt für euch behalten, da darf noch nichts durchsickern. In den nächsten zwei Wochen wird sich dann klären, wie das alles geregelt wird.«
»Müssen wir mit unseren Büros umziehen?«, will Silke wissen. Lutz zuckt entschuldigend mit den Schultern.
»Das weiß ich noch nicht«, antwortet er. »Ich habe ja erst gestern Abend den Vorvertrag unterschrieben. David Dressler wird am Freitag hierherkommen und die weiteren Schritte erläutern.«
»Sind wir World Music dann untergeordnet?«, stellt Tobias die nächste Frage.
»Nein«, sagt unser Boss beziehungsweise unser zukünftiger Ex-Boss, »soweit er mir erklärt hat, werden beide Labels gleichberechtigt zusammengelegt und in Zukunft World Records heißen. David Dressler wird euch am Freitag persönlich erzählen, wie genau er sich das vorstellt. Wichtig wäre bis dahin nur eins: Bis auf weiteres machen wir mit Elb Records keine neuen Abschlüsse. Keine Künstlerverträge, keine Bandübernahmeverträge.« Sein Blick geht in meine Richtung und wandert dann weiter zu Tobias, weil das ja schließlich unsere Baustelle ist. Ich schlucke schwer, wir sind also jetzt erst einmal kaltgestellt. Dabei hatte ich gehofft, Tim Lievers und seinen Reeperbahnjungs bereits am Freitag einen Künstlervertrag anbieten zu können!
Im Gegensatz zum Bandübernahmevertrag, bei dem der Musiker eine fertig produzierte CD abliefert, die das Label dann so einkauft, vervielfältigt und auf den Markt wirft, funktioniert es bei dieser Form des Abschlusses so, dass Plattenfirma und Künstler gemeinsam eine Single oder ein Album erarbeiten. Sieht so aus, als würde daraus in nächster Zeit erst einmal nichts werden, weder aus dem einen noch aus dem anderen Vertrag.
»Ich kann mich nur wiederholen«, fasst Lutz noch einmal alles zusammen, »macht euch bitte keine Sorgen. Ich kenne David Dressler immerhin schon seit vielen Jahren und bin überzeugt davon, dass er sein Wort halten wird.«
»Dass ich nicht lache! Er wird sein Wort halten – na, das wäre aber der erste Mann, von dem ich je gehört habe, der seine Versprechen nicht bricht, sobald es zu seinem Vorteil ist.« Meine Mutter klingt fast noch aufgebrachter als ich, während ich ihr abends von den unvorhergesehenen Ereignissen am Telefon berichte. Das Konzert, zu dem ich eigentlich wollte, habe ich sausenlassen. Zum einen war mir nach der schockierenden Nachricht meines Chefs nicht wirklich danach, zum anderen habe ich für mich selbst ein wenig bockig beschlossen, dass ich da nicht hinmuss, wenn ich momentan ja eh auf Eis gelegt bin. Da habe ich mich lieber in meine Wohnung in Ottensen zurückgezogen, mir ein schönes Glas Wein eingeschenkt, meinen Schnuffelhasen Möhrchen aus dem Bett geholt und mich zusammen mit ihm aufs Sofa gekuschelt.
So lag ich da eine gute halbe Stunde lang rum, Möhrchen fest an meine Brust gedrückt, und erzählte ihm von den Neuigkeiten. Eine etwas seltsame Macke von mir, ich weiß, aber wenn ich Sorgen habe oder wütend bin, lade ich das schon seit meiner Kindheit immer bei Möhrchen ab – und seltsamerweise geht es mir danach meistens besser. Möhrchen hat mir beigestanden, als Papa uns damals verließ. Wenn ich in der Grundschule wegen meinem ungewöhnlichen Vornamen gehänselt wurde. Er war für mich da, als Dirk aus der 4 c lieber mit der blöden Laura ein Eis essen gehen wollte, und als nach dem ersten Hoch, als ich bei Mama ausgezogen war, der Frust kam, weil ich auf einmal allein in einer fremden Stadt in einem schrottigen Ein-Zimmer-Apartment saß.
Diesmal half es nicht wirklich, was vermutlich daran liegt, dass mein Stoffhase mir natürlich nicht antworten kann. Miriam wäre mir eine deutlich größere Hilfe, aber die ist noch bis Samstag mit ihrem Freund Gunnar im Liebesurlaub in Frankreich, bei dem ich sie nicht stören wollte, also beschloss ich, das zu tun, was ich sowieso meistens mache, wenn ich nicht weiterweiß: meine Mutter anrufen. Sie kann zwar eine ziemliche Nervensäge sein, aber wenn ich ihren Rat brauche, hat sie meist ganz nützliche Tipps. Nur gerade jetzt nicht, im Gegenteil: Sie bestärkt mich eher noch in meinen Horrorvorstellungen.
»Wenn deine Position in der anderen Firma bereits vergeben ist, wäre dieser Dressel oder wie der heißt …«
»Dressler«, sage ich matt, »David Dressler.«
»Wie dem auch sei. Was weißt du denn über diesen Dressler?«, fragt Mama.
»Nicht viel«, gebe ich zu. »Er hat das Label vor drei Jahren gegründet und ist damit recht erfolgreich. Immerhin so erfolgreich, dass er uns schon ernsthafte Konkurrenz gemacht hat. Ansonsten habe ich ihn bisher nur einmal kurz auf einer Veranstaltung aus der Ferne gesehen, ist mehr der zurückgezogene Typ, der sich nicht viel auf Branchenfesten rumtreibt.«
»Aha«, wirft meine Mutter vielsagend ein, wobei ich mich gerade frage, was an dieser Aussage aha ist. »Also«, spricht sie weiter, »jedenfalls wäre dieser David Dressler doch schön blöd, wenn er nicht so schnell wie möglich versuchen würde, dich loszuwerden und gegen jemanden auszutauschen, der weniger verdient als du.« Damit bestätigt Mama zu hundert Prozent genau die Sorgen, die ich mir auch schon gemacht habe. Hätte ich doch einfach weiter mit Möhrchen gesprochen, der hat wenigstens die Klappe gehalten!
»Außerdem«, fährt sie fort, »woher willst du wissen, was Dressler wirklich zu Lutz gesagt hat? Vielleicht gab es das Versprechen, von dem er euch erzählt hat, ja gar nicht.«
»Warum hätte er das sonst behaupten sollen?«
»Das liegt doch wohl auf der Hand!«, schleudert Mama mir entgegen. »Damit ihr nicht zuckt, schön die Füße stillhaltet und ihm keinen Ärger macht.«
»Bisher konnte man sich auf Lutz immer verlassen«, wende ich ein.
»Aha!« Nun klingt sie ironisch. »Das merkt man ja auch gerade, wie sehr ihr euch auf ihn verlassen könnt! Stellt euch einfach vor vollendete Tatsachen, ohne Vorwarnung, ohne nichts.« Sie schnalzt missbilligend mit der Zunge. »Nein, Stella, sei da bitte nicht so blauäugig, jeder ist sich selbst der Nächste, und du solltest dich auf niemand anderen verlassen außer auf dich selbst. Erinnere dich doch bitte mal daran, wie dein Vater …«
»Ist ja auch egal«, unterbreche ich sie, bevor sie wie üblich auf das Dein-Vater-Thema kommen kann. Denn obwohl es schon so lange her ist, dass Papa sich davongemacht hat, spricht meine Mutter immer noch gerne und ausdauernd darüber, was für ein Mistkerl er ist. Als Miriam und sie sich mal kennengelernt haben, nahm meine Freundin mich danach zur Seite und sagte: Mensch, Stella, es tut mir echt leid – ich wusste gar nicht, dass sich deine Eltern gerade erst getrennt haben.
Das war vor über zwanzig Jahren, korrigierte ich.
Miriam sah mich groß an. Nee, oder? Also davon, dass man irgendwann Gras über die Sache wachsen lassen sollte, hält deine Mutter wohl so gar nichts, oder?
Nein, bestätigte ich, meine Mutter ist eher eine überzeugte Anhängerin der Ich-verlege-regelmäßig-neue-Tellerminen-Fraktion.
»Mama, lass das doch jetzt mal«, bitte ich sie, denn tatsächlich habe ich gerade ganz andere Probleme, als über die Charakterlosigkeit meines Erzeugers zu diskutieren. »Wie auch immer die Sache liegt«, fahre ich fort, »ich kann im Moment ja sowieso nichts machen außer abwarten.«
Eins muss man Mama lassen: So schnell, wie bei ihr Gewitterwolken aus Richtung Italien aufziehen, so schnell kommt sie aber auch wieder auf das eigentliche Thema zurück, wenn es nötig ist. »Doch«, sagt sie mit deutlich freundlicherer Stimme, »du kannst dich gedanklich dafür wappnen, dir nicht so schnell die Butter vom Brot nehmen zu lassen.«
»Was meinst du damit?«
»Zeig deine Zähne! Beweis deinem neuen Chef, was du draufhast! Du musst einfach richtig Gas geben und ihn davon überzeugen, dass er mit dir das ganz große Los gezogen hat.«
Ich seufze.
»Na, na, Kind«, kommt es ein wenig tadelnd, aber auch schmunzelnd aus der Leitung, »du bist doch sonst nicht so mutlos und leicht einzuschüchtern. Jetzt sind Ellbogen gefragt!«
»Okay, du hast wohl recht.«
»Natürlich habe ich das.« Sie lacht.
»Dann werd ich jetzt mal ins Bett gehen, der Tag heute war echt anstrengend.«
»Mach das, mein Schatz. Wir sehen uns dann am Sonntag.« Ich zögere einen Moment, denn für den Bruchteil einer Sekunde schießt mir der Gedanke durch den Kopf, dass ich meinen Besuch vielleicht elegant mit der Begründung absagen könnte, ich müsse mich jetzt erst einmal sortieren und etwas zur Ruhe kommen. Immerhin hat Mama mich ja jetzt erst recht in Panik versetzt.
»Ja, bis Sonntag«, sage ich dann aber doch. Was bringt es, wenn ich am Wochenende allein zu Hause hocke und mir nur noch mehr Sorgen mache? Andererseits hat Mami mich ja jetzt erst recht in Grübeleien gestürzt, wenn das am Sonntag so weitergeht, kaufe ich mir danach einen Strick. Na ja, damit wäre das Problem dann natürlich irgendwie auch erledigt. Wir legen auf, mein Blick fällt auf Möhrchen. »Alles eine große Scheiße, findest du nicht?« Ich schnappe mir den Hasen und mein leeres Weinglas, werfe mein Kuscheltier im Schlafzimmer aufs Bett, gehe dann in die Küche und stelle das Glas in die Spülmaschine. Anschließend bereite ich die Kaffeemaschine für morgen früh vor, gehe mit einem feuchten Lappen über die Arbeitsplatte und wische sie dann mit einem Küchenhandtuch trocken.
Im Badezimmer stelle ich mich vor den Spiegel und fange an, mir die Zähne zu putzen. Die kleine Sanduhr an der Wand neben dem Alibert sagt mir, wann drei Minuten um sind. Ich spucke die Zahnpasta ins Becken und spüle mit Wasser nach. Jetzt noch das Gesicht reinigen, Nachtcreme drauf und die Haare kämmen – fertig. Sei nicht so blauäugig, fallen mir die Worte meiner Mutter ein, während ich mir mit einer Bürste über den Kopf striegele. Ich muss fast grinsen, denn was mir mein Spiegelbild zeigt, ist das Gegenteil von blauäugig: eine junge Frau mit langen schwarzen Haaren und dunklen Augen. Das Erbe meines Vaters – und das Einzige, was mir von ihm geblieben ist. Von meinem Namen jetzt mal abgesehen.
»Ein Stern, der deinen Namen trägt«, singe ich leise vor mich hin, obwohl ich überhaupt kein DJ-Ötzi-Fan bin. Aber seit er vor Jahren diesen Hit hatte, geht mir der Song immer wieder durch den Kopf. Nicht der schönste Ohrwurm, den man haben kann …
Ach ja, und Möhrchen, den hat Papa mir damals auch geschenkt. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie er damit nach Hause kam und ich das Stofftier begeistert in meine Arme gerissen und an mich gedrückt habe. »Un coniglio per il mio coniglietto« – ein Hase für mein Häschen. Über die Jahre habe ich Möhrchen schon ziemlich abgeliebt, und er sieht recht ramponiert aus – aber sobald ich ihn an mich drücke und meine Nase in seinem verfilzten Fell vergrabe, werde ich schlagartig ruhig und fühle mich irgendwie geborgen.
Zehn Minuten später habe ich meinen Pyjama an, meine getragenen Klamotten in den Wäschekorb verfrachtet und mir – nachdem ich auf meinem iPhone den Wetterbericht gecheckt habe (immerhin siebzehn Grad sollen es morgen werden) – das passende Outfit rausgelegt: grauer Rock und ein weißes T-Shirt, Unterwäsche, Overknees. Meine kniehohen Stiefel hole ich aus dem Schuhschrank und stelle sie im Flur neben die Eingangstür. Dann gehe ich rüber ins Wohnzimmer, kuschele mich unter die Decke auf meinem Sofa und sehe mir die Tagesthemen an. Keine aufregenden Neuigkeiten, jedenfalls nichts, das so aufregend ist wie das, was ich selbst heute erlebt habe. Allerdings stimmt der Wetterbericht nicht mit der Ansage auf meinem iPhone überein, also schalte ich den Fernseher aus, lege die Decke ordentlich zusammen, gehe zurück ins Schlafzimmer und tausche das Shirt gegen ein schwarzes Longsleeve.
Nachdem ich ins Bett gekrabbelt bin, nehme ich Möhrchen in den Arm und hangele mit der freien Hand nach dem Schmöker, der auf meinem Nachttisch liegt. Leidenschaftliche Geliebte lautet der Titel, und auch wenn ich mich mit so einem Buch nirgends in der Öffentlichkeit blicken lassen würde, sind solche Geschichten von brennender Liebe und grenzenlosem Verlangen einfach perfekt dazu geeignet, so richtig schön vom Alltag abzuschalten, denn sie haben mit der Wirklichkeit nun echt nicht das Geringste zu tun. Und wenn ich ein bisschen Abschalten heute nicht nötig habe, weiß ich es auch nicht.
Wenige Seiten später muss ich allerdings feststellen, dass ich mich überhaupt nicht konzentrieren kann auf Angelique, die französische Prinzessin, die sich mit allem, was sie sträuben kann, gegen den charmanten Freibeuter sträubt, dem sie durch eine Verquickung schicksalhafter Umstände in die Hände gefallen ist (ich gehe nicht davon aus, dass ihre Tugendhaftigkeit die ersten fünfzig Seiten des Romans übersteht). Die Gedanken darüber, wie es nach dem Verkauf von Elb Records weitergehen wird, ob ich meinen Job verlieren werde oder nicht, lassen mich einfach nicht los. Egal, wie dramatisch und mitreißend die Liebe zwischen den beiden Hauptfiguren Sébastian und Angelique auch beschrieben wird – momentan lässt mich das absolut kalt. Mit einem genervten Seufzer lege ich das Buch zurück auf den Nachttisch, schalte das Licht aus, rutsche tiefer unter die Decke und presse meinen Stoffhasen ganz fest an mich. »Ach Möhrchen, Möhrchen«, flüstere ich, »drück mir bitte ganz fest die Pfoten, dass das alles gut ausgeht.« Zusammen mit ihm im Arm drehe ich mich auf die Seite und hoffe, dass ich schnell einschlafen kann.
Mama hat recht, denke ich. Ich muss einfach zeigen, dass ich es draufhabe, und David Dressler im Sturm erobern. Wenn er erst einmal merkt, wie gut ich in meinem Job bin, wird er mich auf gar keinen Fall feuern. Wer weiß, vielleicht fängt ja auch Martin Stichlers Stuhl an zu wackeln? Immerhin habe ich schon ein paar schöne Erfolge vorzuweisen. Und wenn ich erst einmal den Deal mit den Reeperbahnjungs eingetütet habe …
Zu blöd, dass ich mit Tim Lievers und seiner Band nicht schon längst einen Vertrag abgeschlossen habe. Aber ich wollte halt warten, bis sie den perfekten Song haben, der Lutz aus den Schuhen haut. Konnte ja nicht ahnen, wie sich die Dinge entwickeln. Ob ich vielleicht, kommt mir plötzlich ein Gedanke, mit den Jungs einfach einen rückdatierten Vertrag abschließen und so tun sollte, als hätte ich das schon vor Lutz’ Neuigkeit, dass er die Firma verkauft hat, in trockene Tücher gebracht? Dann hätte ich Fakten geschaffen, und keiner könnte mir was. Doch dann verwerfe ich die Idee sofort wieder als Unsinn. Denn zum einen wäre das nicht korrekt – und wenn ich auf etwas stolz bin, dann darauf, dass ich bei meinen Kollegen als hundertprozentig korrekt, gewissenhaft und verlässlich gelte –, und zum anderen muss auch ich vor jedem Vertrag, den ich abschließe, Rücksprache mit Lutz halten. Ach, hätte ich ihm doch schon vor zwei Wochen was von der Band vorgespielt, die bisherigen Demos sind dafür eigentlich schon gut genug! Aber ich wollte eben, dass sie perfekt sind!
Vor meinem inneren Auge taucht das Bild von Tim auf. Sein hübsches schmales Gesicht, seine braunen Augen, die kurzen dunklen Haare und der lässige Dreitagebart, seine langen, schmalen Finger … Dazu immer echt lässig gekleidet, meist trägt er ein Hemd mit Weste darüber, was vielleicht spießig klingt, bei ihm aber unglaublich locker aussieht. Um den Hals hat er oft einen dünnen Baumwollschal gewickelt, darunter blitzt eine behaarte Brust hervor, was unheimlich männlich wirkt. Doch, der Mann ist ein echter Frauentyp, wenn ich den nicht zum Rockstar mache, verstehe ich die Welt nicht mehr. Ob nun bei Elb Records, World Music oder World Records, Tim und die Reeperbahnjungs sind mein Ass im Ärmel, das ich zum passenden Zeitpunkt ausspielen werde. Ich vergrabe mein Gesicht tief in Möhrchens weichem Bauch, sauge seinen Geruch ein – und bin Sekunden später im Reich der Träume.