Rolf Berger lag knapp unterhalb einer Hügelkuppe im dürren Gras, lag auf dem Rücken, Arme und Beine weit von sich gestreckt, den Kopf zur Seite geneigt. Sein Mund stand offen, als staune er, seine Augen waren geschlossen. Ströme getrockneten Bluts führten von seiner Nase über das Kinn, hatten auf seinem Hemd häßliche schwarze Flecken hinterlassen. Die rechte Schläfe und der obere Teil seines Schädels waren zertrümmert. Dicke Fliegen umschwirrten die verkrusteten Wunden.
Laura wandte sich ab und kämpfte gegen eine Welle von Übelkeit, ließ ihre Augen über das Land wandern, redete sich selbst gut zu. Nicht schlappmachen! Die Carabinieri beobachten dich. Du bist Anblicke dieser Art gewöhnt!
Doch der Kampf zwischen Kopf und Magen war noch nicht entschieden. Sie spürte Schweiß auf ihrer Stirn, in den Achselhöhlen und Kniekehlen, konzentrierte sich auf ein winziges Auto, das drei Hügel weiter auf einer unsichtbaren Straße dahinraste und eine Staubfahne aufwirbelte.
«Wohin schaust du?», fragte Guerrini dicht neben ihr.
«Nirgendwohin», flüsterte Laura heiser.
«Ist dir nicht gut?»
«Sag kein Wort mehr! Es geht mir hervorragend! Ich liebe den Anblick von zertrümmerten Schädeln!»
«So schlimm? Vielleicht hilft es dir, wenn ich dir sage, dass Giuseppe in Sicherheit ist. Sein Bruder hat ihn zu einem alten Onkel in die Berge gebracht.»
«Gut. Aber bist du ganz sicher, dass er es nicht war? Kannst du dir vorstellen, dass einer aus der Gruppe Berger den Schädel eingeschlagen hat?»
«Wenn ich mir nicht sicher wäre, hätte ich ihn nicht weggebracht! Sag mir lieber, was Berger mitten in der Nacht auf diesem Hügel zu suchen hatte? Er liegt immerhin fast zwei Kilometer vom Kloster entfernt!»
Ganz allmählich ließ Lauras Übelkeit nach. Es war gut, mit Guerrini zu sprechen, verscheuchte das Bild der Fliegen auf Bergers Schädel.
«Ich versuche es mir so zu erklären …», sagte sie leise. «Berger suchte immer die Extreme. In der Sexualität und in der Natur. Vermutlich ist er letzte Nacht einfach losgerannt, und in der Dunkelheit verwandelten Angst, Wut und Verwirrung sich zu einer Art Hochgefühl. Ausgeschlossen, unverstanden, allein … wunderbar! Er brannte, lief, schrie vielleicht. Erreichte diesen Hügel, ließ sich auf den Boden fallen, spürte die Erde, schaute über das Land …»
«Und dann kam jemand und hat ihn erschlagen. Hättest du gedacht, dass er sich so leicht ergeben würde? Es gibt keine Anzeichen eines Kampfes. Er liegt da, als würde er schlafen … Ich nehme an, dass er seinen Mörder gekannt hat, dass er Vertrauen zu ihm hatte.»
«Vielleicht», murmelte Laura, «aber könnte es nicht auch sein, dass er wirklich schlief? Nach einem Rausch der Verzweiflung ist er hier eingeschlafen, tief zufrieden. Erst dann hat ihn jemand angegriffen. Für mich sieht Berger so aus, als hätte er so gut wie nichts mitgekriegt.»
Guerrini antwortete nicht sofort. Er stieß mit der Fußspitze eine dicke Distel an, räusperte sich und sagte mit belegter Stimme:
«Deine Phantasien verwirren mich ein bisschen. Wie schaffst du es, dir solche Bilder auszumalen … als wärst du dabei gewesen?»
«Quatsch!» Laura schüttelte ungeduldig den Kopf. «Ich schaue mir die Menschen an und höre ihnen zu. Mit Berger habe ich lange gesprochen, und die anderen haben mir interessante Details über ihn erzählt. So, jetzt kann ich mir die Sache genauer ansehen!» Sie atmete tief ein, zwinkerte Angelo zu und ging rückwärts in Richtung Leiche.
«Sehen Sie, Commissaria!» Es war Puccis Stimme.
Laura tat noch einen tiefen Atemzug, drehte sich dann entschlossen um.
«Ja, Maresciallo, was ist?»
«Dieser Brocken könnte es gewesen sein!» Pucci stand ein paar Meter oberhalb der Leiche und zeigte auf einen kantigen Felsbrocken. «Da sind Blutspuren dran!»
Laura und Guerrini kletterten zu ihm hinauf. Der Stein lag in einer flachen Mulde, hatte eine rötliche Maserung und ein paar schwarze Spitzen.
«Markieren Sie den Platz für die Spurensicherung!», sagte Guerrini. «Wir sollten uns den Toten noch etwas genauer ansehen, Commissaria!»
Laura nickte. Er machte es wirklich gut – diesen Wechsel vom vertrauten Gespräch zum offiziellen.
«Natürlich, Commissario!», antwortete sie. Jetzt würde es gehen. Der erste Anblick machte ihr stets zu schaffen, doch dann konnte sie auf Profi umschalten.
Ich und meine vergammelten Leichen, dachte sie und schickte einen zärtlichen Gedanken zu Luca. Ich kann ihn lieben, auch wenn er mich nicht mehr braucht. Liebe gibt Kraft. Manchmal fühle ich Vater oder Mutter hinter mir stehen und mir Kraft geben.
Dicht neben Guerrini stieg sie zu Berger hinunter. Langsam und konzentriert gingen sie immer wieder um den Toten herum, betrachteten seine Lage, seinen Gesichtsausdruck, die Hände.
«Du könntest Recht haben», sagte Guerrini. «Er liegt da, als wäre er im Schlaf überrascht worden.»
Am Fuß des Hügels hielt ein Wagen. Die kleine gebeugte Gestalt von Dottore Granelli keuchte zu ihnen herauf.
«Warum musste es noch einer sein, Guerrini?», murrte der alte Arzt und beugte sich über den Toten. Dann streifte er sich Plastikhandschuhe über die Hände und drehte Bergers Kopf ein wenig hin und her. Die Fliegen erhoben sich in brausenden Schwärmen. Diesmal schaute Guerrini übers Land und wurde merklich blasser.
«Hab dich nicht so!», knurrte Granelli. «Fliegen gehören zum Handwerk. Der hier ist eindeutig erschlagen worden. Da kann niemand sagen, dass er auf einen Stein gefallen wäre. Drei Schläge … würde ich auf den ersten Blick sagen. Vielleicht auch vier.» Granelli besah sich Bergers geöffnete Hände.
«Hat sich nicht gewehrt, was? Na ja, da muss man sehen, ob nicht was unter seinen Fingernägeln steckt. Ist das auch ein Deutscher?»
Laura nickte.
«Scheint ja ein komischer Haufen zu sein! Selbsterfahrung, wie?» Granelli lachte kurz auf, dann ließ er den Blick über das Land schweifen und nickte. «Wunderbarer Platz, nicht wahr? Kein schlechter Ort zum Sterben. Jedenfalls besser als ein Bett im Krankenhaus. Vielleicht leg ich mich auch mal hier raus, wenn es so weit ist!»
«Sie haben einen merkwürdigen Humor, Dottore», erwiderte Guerrini und fuhr sich übers Gesicht.
«Den richtigen, Guerrini, den richtigen. Irgendwann liegen wir alle so da – erschlagen oder nicht! Schickt ihn mir rüber, wenn die Herren Techniker mit ihm fertig sind. Ich sage euch dann Bescheid.» Granelli nickte Laura zu und machte sich seufzend an den Abstieg. Kurz vor dem Wagen drehte er sich um und rief:
«Beeilt euch ein bisschen mit den Ermittlungen. Ich hab keine Lust, noch einmal auf einen Berg zu klettern!»
«Granelli», sagte Guerrini matt. «Typisch Granelli!»
Gemeinsam mit Pucci und den anderen Carabinieri suchten sie die Umgebung der Leiche ab, ohne irgendetwas zu finden. Der Boden war hart, nahm keine Fußabdrücke auf. Erst eine halbe Stunde nachdem Granelli fort war, kamen die Männer der Spurensicherung, und Guerrini fragte ärgerlich, wo sie so lange gesteckt hätten. Sie zuckten nur die Achseln und murmelten etwas von Stau.
«Cappuccino-Stau!», gab Guerrini bissig zurück.
«Niemals, Commissario! Wo denken Sie hin?»
«Ich denke direkt und logisch. Braucht ihr mich noch?»
«Nein, Commissario!»
«Dann fahre ich mit der Commissaria zum Kloster zurück. Habt ihr eigentlich den Brillenbügel weggeworfen, oder gibt’s da ein Ergebnis?»
«Das hat Bastia gemacht, Commissario. Er hat heute seinen freien Tag. Aber er sagte was von verwischten Fingerabdrücken und genügend Hautpartikeln, um eine genetische Untersuchung durchführen zu können!»
«Und warum wird mir das nicht mitgeteilt?»
«Er hat’s versucht, aber Ihr Handy war abgestellt, und die Mailbox hat nicht funktioniert … und zu Hause waren Sie auch nicht, Commissario.»
Guerrini hob beide Hände zum Himmel und fluchte leise.