Katharina Sternheim ließ ihren Blick über die Gruppe gleiten, nicht so intensiv wie sonst, eher zögernd, suchend. Der Tod des Kätzchens hatte sie ganz tief im Innern getroffen, einen Schmerz ausgelöst, der ihre Glieder schwer machte. Ihr war, als hätte dieser grausame Tod ein Stück ihrer eigenen Lebenskraft mit sich genommen, als wäre die Welt freudloser geworden. Und sie wunderte sich, dass er sie tiefer erschütterte als Carolin Wolfs Tod, ja, sie empfand ein lähmendes Schuldgefühl. Gerade so, als hätte sie selbst den Tod des Kätzchens verursacht, als hätte eine höhere Macht die Bank umgestoßen, um sie und alle anderen aufzurütteln.

Katharina verschränkte die Hände in ihrem Schoß und starrte auf den Boden, bis sie endlich das drängende Schweigen der anderen wahrnahm und abwesend die übliche Frage stellte:

«Was liegt an? Wie geht es euch?»

Im selben Augenblick wurde ihr bewusst, dass sie die Morgenmeditation vergessen hatte. Aber die Zeit bis zur Mittagspause war ohnehin knapp. Sie würden es verstehen. Als sie jetzt Susanne Fischers Stimme hörte, hob sie verwundert den Kopf, denn Susanne sagte nur selten etwas.

«Ich wüsste heute Morgen ganz gern etwas von Hubertus», sagte die Frau mit kühler, norddeutscher Stimme. «Ich finde, du kannst uns allmählich sagen, wer du eigentlich bist!»

Alle Augen richteten sich auf Hubertus Hohenstein, dessen Gesicht einen rosigen Schimmer bekam. Er schien den Atem anzuhalten, sein rechter Mundwinkel zuckte zweimal.

«Warum genügt es dir nicht, dass ich ein Mensch mit einem Namen bin?», fragte er leise. «Ich sehe jeden von euch als das, was er hier von sich zeigt.»

Susanne schüttelte unwillig den Kopf.

«Du verstehst nicht! Ich glaube, dass ich hier für alle spreche, wenn ich das Gefühl habe, dass du etwas verheimlichst.»

Erschrocken musterte Hubertus die Gesichter der anderen, senkte den Kopf. Katharina atmete hörbar ein.

«Ich muss dich wieder darauf aufmerksam machen, Susanne, dass du hier nicht die Therapeutin bist. Hubertus hat das Recht, nur so viel zu sagen, wie er will. Niemand muss hier seinen Lebenslauf und sein Abiturzeugnis vorlegen oder eine Bescheinigung seines Arbeitgebers. Wir arbeiten an den Dingen, die von selbst kommen. Niemand muss sagen, ob er verheiratet ist oder welchen Beruf er hat oder sonst was!»

Susanne wich Katharinas Blick nicht aus.

«Ich finde, dass der Beruf sehr viel mit einem Menschen zu tun hat! Wer ihn verschweigt, verschweigt auch einen wesentlichen Teil von sich selbst!»

«Na und!», sagte Rolf Berger. «Warum darf Hubertus nicht einen wesentlichen Teil von sich selbst verschweigen? Du sagst ja auch nicht besonders viel. Von dir wissen wir erheblich weniger als von Hubertus. Er zeigt immerhin seine Gefühle. Du scheinst gar keine zu haben!»

Susanne zog die Unterlippe zwischen ihre Zähne.

«Ich lass mich von dir nicht dumm anreden, du Vorstadt-Casanova!»

Rolfs Augen verengten sich, und Katharina erschrak über den Hass, der zwischen Susanne und ihm fast greifbar zusammenprallte. Ihr war, als habe tatsächlich eine Explosion stattgefunden. Sie richtete die Schultern auf, spannte ihren Rücken.

«Ich möchte, dass ihr euch entschuldigt. Das hier ist kein Boxring. Wenn ihr euch weigert, achtsam miteinander umzugehen, muss ich euch von der Gruppe ausschließen!»

Susanne schien kurz zu überlegen, dann nickte sie und murmelte fast unhörbar, dass es ihr Leid täte. Doch Rolf schüttelte heftig den Kopf.

«Ich entschuldige mich nicht! Warum sollte ich mich entschuldigen und wofür? Woher nimmst du das Recht, uns zu behandeln wie unartige Kinder, und du selbst genießt jede Freiheit? Wir sind hier alle erwachsen, haben alle Lebenserfahrung. Nicht nur du, Katharina!»

Schweigen wie Säureregen.

«Ich würde mich auch nicht entschuldigen!» Das war Britta. «Ich bin zwar meistens anderer Meinung als Rolf, aber diesmal hat er Recht!»

«Das finde ich auch», flüsterte Rosa.

Hubertus und Monika starrten auf den Teppich.

Warum bekomme ich keine Unterstützung?, dachte Katharina und spürte die Kraftlosigkeit in ihrem Inneren wachsen. Warum muss ich immer allein kämpfen? Sie müssen doch diesen Hass spüren, sich dagegen wehren. Genau dazu sind wir doch hier. Um die dunklen Seiten zu sehen und zu vertreiben. Aber es gelang nicht. In dieser Gruppe gelang es einfach nicht. Die dunklen Vögel brachen aus den Wänden und blieben.

Katharina zuckte zusammen, als Hubertus plötzlich aufstand und in die Mitte des Raums trat. Mit gesenktem Kopf, wie ein Büßer.

«Es tut mir Leid», sagte er. «Ich bin die Ursache dieser Auseinandersetzung. Deshalb entschuldige ich mich. Wo ich herkomme … lernt man die Lüge besonders gut. Man muss sich dauernd verstecken … Ich, ich habe mich deshalb … ich meine, ich will euch deshalb sagen, was ich bin.» Er sah zum Fenster hinaus, mied jeden Blickkontakt. «Ich bin … ich war … katholischer Priester. Das heißt, ich bin es noch. Ich habe mich beurlauben lassen, weil ich herausfinden will, ob ich auch anders leben kann.» Plötzlich lächelte er ein wenig verlegen. «Ich weiß nicht, ob einer von euch das verstehen kann, aber ich habe mir gewünscht, einmal ein ganz normaler Mensch zu sein. Einer, der zu euch gehört wie ein Bankbeamter oder Taxifahrer. Deshalb habe ich nichts erzählt. Wenn die Menschen wissen, dass man Priester ist, verhalten sie sich anders. Ich habe das mein Leben lang erlitten …»

Katharina schloss die Augen. Sie war Hubertus unendlich dankbar. Er bot sich zur Arbeit an, entschuldigte sich anstelle anderer, half ihr über diese Situation hinweg, da ihr die Kontrolle entglitt und Chaos auszubrechen drohte. Mühsam erhob sie sich und fragte mit leiser Stimme:

«Möchtest du ein Stück daran arbeiten?»

Hubertus nickte.

«Dann schau mich an und atme.»

Hubertus atmete tief.

«Was trennt dich von anderen, wenn du Priester bist?»

«Ich … spiele eine Rolle. Ich bin der Wissende, der gute Mensch. Nein, das ist es nicht … Da ist etwas anderes: Ich bin ein Neutrum … kein Mann. Vielleicht ist es das Schlimmste, dass ich kein Mann bin. Ich darf kein Mann sein, keiner mit Fleisch und Blut. Man hat uns immer vor den Frauen gewarnt, vor jedem körperlichen Kontakt. Wir sind körperlos, wie Engel. Aber es ist eine Lüge. Wir hungern nach körperlicher Nähe …» Hubertus beugte sich nach vorn und umschlang seinen Oberkörper mit beiden Armen.

«Atme!», sagte Katharina heiser. «Atme und sag nicht wir! Sag: Ich hungere nach körperlicher Nähe!»

Hubertus bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen. Trockenes Schluchzen schüttelte ihn.

«Ich … hungere nach … körperlicher Nähe!» Er ließ sich auf die Knie sinken, und es sah aus, als bitte er seinen Gott um Vergebung.

Katharina kniete neben ihm, streichelte behutsam über seine Arme, seinen Rücken. Da ließ er sich einfach fallen, barg das Gesicht in ihrem Schoß und schluchzte wie ein Kind. Sie aber hielt ihn fest und wiegte ihn hin und her, war einen Augenblick lang wieder die große Mutter. Doch nur einen Augenblick, denn Susanne stand plötzlich auf.

«Mir reicht’s für heute!», sagte sie und ging.

Hinter ihr fiel die schwere Tür mit einem dumpfen Knall ins Schloss.

Nacht der Stachelschweine: Laura Gottbergs erster Fall
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