Vorsichtig betrat Laura Rosa Perls ehemaliges Zimmer. Die Fensterläden waren geschlossen, ließen nur ein paar Sonnenstreifen herein. Ein mächtiger alter Schrank stand an der einen Wand, eine antike Spiegelkommode an der anderen. Das Bett hatte hölzerne Säulen, die fast bis zur Decke reichten – der dazugehörige Baldachin fehlte. Alle Möbel waren dunkelbraun, fast schwarz, die Wände weiß, ohne Bilder. Ein schlichtes Zimmer – eins aus einer anderen Zeit. Laura liebte Zimmer dieser Art, man fand sie nur noch selten. Sie stellte ihren Koffer neben die Tür und ließ sich aufs Bett fallen. Ein paar Minuten blieb sie mit geschlossenen Augen liegen, dachte nichts, lauschte nur dem Gurren der Tauben. Doch dann rappelte sie sich auf, robbte über das breite Bett zu ihrem Rucksack und kramte das Telefon heraus. Auf dem Bauch liegend hörte sie ihre Mailbox ab. Dreimal ihr Vater.
«Bist du da, Laura? – Sag doch was! – Ich muss unbedingt mit dir sprechen! – Ist dir was passiert? – Du kannst doch nicht einfach dein Telefon abschalten!»
Und so ging es immer weiter.
Laura atmete tief durch. Manchmal war es schwer auszuhalten. Der vierte Anruf kam von Baumann und klang nicht wesentlich anders.
«Wo steckst du denn? Trinkst du schon wieder Wein mit einem italienischen Kollegen? Melde dich! Du bist schließlich im Dienst!»
«Madre mia!», seufzte Laura und las die SMS ihrer Tochter.
«Hallo, Mama, mir geht’s gut. Die Mathe-Schulaufgabe hab ich geschafft. Glaub, dass ich keine Fünf habe. Hast du den Mörder schon gefunden? Papa macht prima Kartoffelbrei. Ich hab dich lieb, Sofia.»
«Ich dich auch», murmelte Laura und legte das kleine Telefon neben sich aufs Bett, stand langsam auf und beschloss zu duschen, ehe sie Baumann anrief. Das Bad lag außerhalb ihres Zimmers am Ende des Gangs, gleich neben dem Zimmer von Berger und Hohenstein. Als sie mit nassen Haaren und nur in ein großes Badelaken gewickelt zu ihrem Zimmer zurückgehen wollte, stieß sie mit Hubertus Hohenstein zusammen, der in diesem Augenblick aus der Tür trat.
«Oh», sagte er und schaute verlegen zu Boden.
«Bin schon weg!», lachte Laura. «Wir sehen uns später!»
«Ja, später», antwortete er undeutlich und wartete mit gesenktem Kopf vor seiner Zimmertür, bis sie verschwunden war.
Ein seltsamer Mann, dachte Laura, während sie ihr Haar trocken rieb. Entweder ist er ein wahrer Gentleman oder ein Mönch in Zivil. Sie schlüpfte in helle Hosen und eine weite dunkle Bluse, setzte sich wieder aufs Bett und wählte Baumanns Nummer.
«Da bist du ja endlich!» Beinahe hätte Laura gefragt, woher er das wisse – aber natürlich zeigte sein Apparat ihre Nummer an. Sie würde sich nie an die Geschwindigkeit und Indiskretion der neuen Techniken gewöhnen.
«Ja, da bin ich endlich», sagte sie stattdessen.
«Wo bist du?»
«Na hier! In deinem Telefon und außerdem in einem kargen Zimmer, in einem Kloster, auf einem Hügel in der südlichen Toskana. Ich bin allein, habe gerade geduscht und versuche die ersten Verhöre zu verdauen.»
«Kommst du weiter?»
«So kann man es nicht gerade nennen. Ich sondiere die Lage.»
«Kein schlechter Platz, um so was zu machen.»
«Na ja, für dich wär es nichts, mein Lieber. Keine Kneipen, nur viel Landschaft und seltsame Leute.»
«Und dein italienischer Kavalier?»
«Den hab ich weggeschickt!»
«Du ermittelst doch nicht etwa allein? Da läuft ein Mörder frei rum, und du hast nicht mal eine Waffe!»
«Ich will ja niemanden erschießen!», erwiderte Laura trocken.
«Aber vielleicht will er dir ans Leder! Pass auf, ja?»
«Na klar! Du kennst mich doch. Aber jetzt erzähl mal was Substanzielles. Hast du noch etwas über die Tote aus der Isar rausgefunden?»
«Ein bisschen. Ich hab eine Freundin von ihr aufgetrieben, und die sagte mir, dass Iris Keller einen Lover hatte. Einen verheirateten Mann. Sie hat mir sogar seinen Namen genannt: Rolf Berger.»
«Was! Sag das nochmal!»
«Rolf Berger … Was ist denn?»
«Ich habe vor ein paar Minuten mit einem Rolf Berger gesprochen! Er nimmt an dieser Selbsterfahrungsgruppe teil!»
Baumann schwieg ein paar Sekunden.
«Klingt ja interessant. Zwei tote Frauen und ein Rolf Berger. Bringt dich das auf etwas?»
«Ja», sagte Laura nachdenklich, «aber als Iris Keller starb, war er schon in der Toskana.»
«Scheiße!», erwiderte Baumann. «Es wäre doch schön, wenn wir einmal einen einfachen Fall hätten. Dann könntest du diesen Berger festnehmen und wieder nach Hause kommen, mit deinem Vater Rommé spielen und mit mir Kaffee in der Kantine trinken.»
«Tja», lächelte Laura ins Telefon. «Leider gibt es keine einfachen Fälle. Der Mörder, der Iris Keller in die Isar gestoßen hat, kann auch nichts mit dem Tod von Carolin zu tun haben – es sei denn, er ist Berger nachgereist. Überprüf doch mal, ob es nicht zwei Rolf Berger gibt.»
«Mach ich. Passt du auf dich auf, ja? Taugt dieser italienische Kollege als Bodyguard, oder ist er nur eine nette Begleitung im Restaurant?»
«Beides! Aber jetzt pass auf: Ich gebe dir die Personalien der Gruppenmitglieder durch. Überprüf sie und versuche rauszufinden, ob sie in irgendeiner Verbindung zueinander stehen.»
«Es gibt nichts, was ich lieber täte …»
«Kannst du nicht einmal ernst bleiben?»
«Nein», sagte Baumann.
«Dann eben nicht! Pass auf!» Laura diktierte die Namen und Adressen der sieben Deutschen.
«Noch was?»
«Das ist alles. Warte, schau mal nach, ob du die Ehefrau von Berger zu fassen kriegst. Mich würde interessieren, wie sie mit den Affären ihres Mannes klarkommt.»
«Das muss ja ein toller Typ sein!»
«Ich finde ihn schrecklich», erwiderte Laura. «Er ist wehleidig, sentimental, auf klebrige Weise aufdringlich und aggressiv.»
«Klingt ja richtig verlockend!»
«Ja, aber vielleicht ist er mit seinen Frauen anders. Hier läuft noch was mit dieser Rosa Perl, die du auf deiner Liste hast! Wie spät ist es?»
«Gleich vier, warum?»
«Dann müssen wir Schluss machen. Ich muss Rosa Perl aus der Gruppe holen, ehe die Nachmittagssitzung beginnt!»
«Ich wollte dir noch von deinem Vater erzählen …»
«Morgen, Peter. Oder heute Abend, gegen zehn! Ciao!»
Laura kämmte blitzschnell mit den Fingern durch ihr feuchtes Haar, schlüpfte in ihre Schuhe und lief los. Sie erreichte den Gruppenraum, als Katharina Sternheim gerade die Tür schließen wollte.
«Ja?», fragte die Therapeutin und streifte Laura mit einem unergründlichen Blick.
«Es tut mir Leid, dass ich störe. Aber ich würde gern mit Rosa Perl sprechen.»
Katharina schaute an Laura vorüber auf die Dächer des Klosters, senkte dann die Augen und seufzte.
«Ich würde diese Sitzung gern mit der ganzen Gruppe abhalten. Wir arbeiten hier, und es ist keine einfache Arbeit.»
«Ich arbeite auch», konterte Laura. «Und es ist ebenfalls keine einfache Arbeit. Ich glaube, dass Sie alle hier den Ernst der Lage unterschätzen. Vielleicht liegt es an der Umgebung …»
Katharina wandte sich brüsk ab und rief nach Rosa. Kurz darauf tauchte die hagere Gestalt der Malerin hinter Katharina auf.
«Ja?»
«Die Polizistin will dich sprechen!»
«Mich?» Rosa wich einen halben Schritt zurück.
«Ja, dich. Ich bin nicht damit einverstanden, nicht jetzt – aber gegen die Polizei kann man wenig ausrichten.»
Rosa sah verwirrt aus.
«Ich kann nicht», sagte sie leise. «Nicht jetzt. Ich brauche diese Zeit mit den anderen. Sie würden mir wichtige Stunden stehlen … Können Sie das verstehen?»
Lauras Augen begegneten Rosas. Die Augen der Malerin waren müde und seltsam fern, als sähe sie hinter Laura oder durch sie hindurch etwas, das für andere unsichtbar war.
«Ist gut», sagte Laura leise. «Wir können das morgen nachholen.»
Katharina nickte ihr zu und schloss die Tür. Gleich darauf hörte Laura das zarte Geräusch einer Glocke. Der Kokon hatte die Gruppe eingehüllt. Laura blieb einen Augenblick stehen, und ihre eigenen Erfahrungen mit Gruppen wurden plötzlich lebendig. Hinter dieser Tür saßen jetzt sieben Menschen und versanken in Meditation. Einigen von ihnen würde es nicht gelingen, weil sie Angst hatten, weil die Ereignisse der letzten Tage nicht gut für Selbstvergessenheit waren. Trotzdem hätte Laura gern bei ihnen gesessen und diesen Moment wieder erlebt, wenn alle still wurden. Wie lange hatte sie schon nicht mehr meditiert? Zwei Jahre mindestens. Dabei hatte sie sich vorgenommen, es regelmäßig zu tun.
Sie schüttelte den Kopf und ging langsam die Stufen der ausgetretenen Steintreppe hinunter. Und jetzt? Vier Uhr und nichts zu tun. Der Kies auf dem Innenhof war hell und heiß. Laura folgte dem Weg, der nach Buonconvento führte, dann überquerte sie einen Acker, entdeckte einen schmalen Pfad, an dessen Rändern blaue Wegwarten leuchteten, erreichte ein kleines Wäldchen aus Steineichen und Edelkastanien und fand sich plötzlich am Bett des ausgetrockneten Bachs wieder, ein Stück westlich der Stelle, an der Carolin gefunden worden war. Sie wusste nicht, warum sie so weit gegangen war. Vielleicht, dachte sie, hat es etwas damit zu tun, dass ich schon lange nicht mehr einfach gegangen bin – ohne Ziel und ohne Absicht.
Unter den dichten Bäumen war es angenehm kühl, dunkelgrün und feucht. Die Geräusche des Spätsommernachmittags drangen nur gedämpft herein – Zikaden, Tauben. Laura setzte sich im Schneidersitz auf eine Sandbank, richtete die Wirbelsäule auf und legte ihre geöffneten Hände auf die Knie. Sie atmete tief in den Bauch. Gedankenfetzen flogen vorüber, zusammenhangslos, fast verwerflich, Dinge wie: Ich muss nicht nach Hause rasen, um schnell was zu kochen. Warum will ich Guerrini eigentlich erst morgen Abend treffen? Es ist gut, dass Vater achthundert Kilometer weit weg ist. Aber ich liebe ihn. Berger ist ein Egomane – diese Britta Wieland im Grunde auch. Was bin ich?
Die Gedanken zogen vorüber, wurden allmählich weniger aufdringlich, verebbten, und gerade, als Laura in einen Zustand innerer Ruhe versank, schrillte das Handy an ihrem Gürtel. Sie ließ die Schultern sinken und lachte los. Dann drückte sie auf das Knöpfchen und sagte: «Hallo, Papa!»
«Eigentlich finde ich nicht, dass ich Ihr Vater sein könnte», antwortete Guerrini. «Der Altersunterschied ist irgendwie zu knapp!»
«Entschuldigung … Ich war halb eingeschlafen und … es ist meistens mein Vater, der in solchen Momenten anruft.»
Guerrini lachte leise.
»Sie schlafen? Ich dachte, deutsche Polizeibeamte wären sehr, sagen wir … aktiv.»
«Schlafen ist auch falsch. Ich sitze an dem geheimnisvollen Bach und denke nach, meditiere.»
«Ist das eine neue Ermittlungstechnik?» Wieder lachte Guerrini leise.
«Ja», erwiderte Laura. «Manchmal ist sie sogar sehr effektiv!»
«Wie wäre es, wenn ich Sie doch heute Abend zum Essen abholen würde. Dann könnten Sie mir von den Ergebnissen Ihrer Meditation erzählen … ich müsste auch etwas loswerden.» Guerrinis Stimme klang plötzlich sehr ernst.
«Wichtig?», fragte Laura.
«Wichtig!», entgegnete er.
«Gut. In zwei Stunden?»
«In zwei Stunden.»
Er hatte aufgelegt. Laura steckte das Telefon an ihren Gürtel zurück und stand auf. Sie war froh, dem Abendessen mit der Gruppe entgehen zu können. Es war nicht besonders professionell, aber ein Essen mit Guerrini erschien ihr wesentlich verlockender als das beklommene Schweigen an der Tafel der Abbadia. Sie hatte Zeit. Und Zeit bedeutete mehr Druck auf die Gruppe.
Laura folgte dem Bachbett, betrachtete die Spuren im Sand – Abdrücke von Vogelfüßen, Stachelschweintatzen, Hasenpfoten? Schmetterlinge flatterten von flachen Pfützen auf, Libellen flogen vor ihr her, immer ein paar Meter, ließen sich auf dem feuchten Sand nieder, schreckten wieder auf, wenn sie sich näherte. Unvermutet fand sie sich vor der Wurzelhöhle, in der Carolin Wolfs Leiche gefunden worden war, betrachtete aufmerksam die Umgebung, drehte sich einmal um die eigene Achse. Gegenüber der Höhle lag eine trockene Sandbank. Ein wunderbarer Platz, eingehüllt von tief reichenden dichten Zweigen, wie ein Baldachin. Die Steine, die Carolin Wolf offensichtlich zum Verhängnis geworden waren, ragten weiter links aus dem Bachbett.
Langsam ging Laura zur Sandbank, betrachtete aufmerksam den Boden, ließ sich auf die Knie nieder. Der Sand unter ihren Händen fühlte sich trocken und weich an. Sie war sicher, die Liebeslaube von Carolin Wolf und Rolf Berger entdeckt zu haben. Suchend blickte sie sich nach einem Stock um, brach einen Ast ab und begann im Sand zu graben, fand nach wenigen Minuten das erste Kondom, gleich daneben zwei weitere, klägliche Überreste heimlicher Umarmungen. Sie bedeckte ihren Fund wieder mit Sand. Jetzt war klar, warum Doktor Granelli nichts feststellen konnte.
Als Laura sich wieder aufrichtete, fiel ihr Blick auf einen schmalen länglichen Gegenstand, der am Rand der Sandbank lag. Sie bückte sich und hob vorsichtig den Bügel einer Sonnenbrille auf. Wunderte sich, dass die Spurensicherung ihn übersehen hatte. Aber vielleicht hatte er noch nicht hier gelegen, als die italienischen Kollegen den Tatort untersucht hatten. Laura steckte den Bügel in die Brusttasche ihrer Bluse und lauschte. Etwas raschelte im Gebüsch, Zweige knackten. Blitzschnell duckte Laura sich unter den Stamm eines überhängenden Baumes. Das Rascheln wurde lauter, dann erkannte sie die Umrisse eines Mannes. Er ging gebückt, starrte offensichtlich auf den Boden, als suche er etwas. Laura drückte sich eng an den Stamm, tastete instinktiv nach der Waffe in ihrem Schulterhalfter … aber da war keine Waffe.
Als der Mann näher kam, erkannte sie Giuseppe Ranas Bruder. Ein paar Minuten lang suchte er die Höhle und das Bachbett ab, dann seufzte er schwer und verschwand wieder im Gebüsch. Laura wartete, bis seine Schritte verklungen waren. Ihr Herz klopfte. Sie war froh, dass er sie nicht entdeckt hatte. Aber was machte er hier? Suchte er nach einem Beweis für die Unschuld seines Bruders? Oder hatte er selbst etwas verloren, war vielleicht er der Mörder, einer, an den bisher niemand gedacht hatte? Ein unbeachteter Moskito?
Laura sah auf ihre Armbanduhr. Beinahe sechs. Vielleicht wartete Guerrini bereits auf sie. Schnell kletterte sie die Böschung hinauf und war froh, als sie wieder auf offenem Feld in der Sonne stand. Sie fragte sich, ob Rolf Berger und Carolin Wolf geahnt hatten, dass ihre Liebeslaube kein so sicherer Ort war.