Als die Tür zum Gruppenraum des Klosters sich gegen Mittag endlich öffnete, saß Laura Gottberg auf der Treppe zur Veranda und streichelte junge Katzen. Zum Teufel mit den Flöhen. Katharina Sternheim ließ sich neben ihr nieder. Ihr Gesicht wirkte schlaff und erschöpft.
«Haben Sie noch ein Zimmer frei?», fragte Laura.
Katharina ließ ihre Augen zu dem Koffer wandern, der noch immer an der Hauswand neben der Telefonzelle stand.
«Halten Sie das für eine gute Idee?»
«Ja!», antwortete Laura.
«Es wird die Gruppenarbeit stören.»
«So? Ich denke, dass die Gruppenarbeit kaum mehr gestört werden kann als durch einen Mord, oder?»
Katharina stützte den Kopf in beide Hände und schloss die Augen.
«Natürlich», flüsterte sie. «Aber ich versuche gerade, ein bisschen Ruhe in die Gruppe zu bekommen. Die Sache aufzuarbeiten. Wenn Sie hier wohnen, wird keine Ruhe einkehren. Alle werden sich beobachtet fühlen … Nichts gegen Sie. Aber Sie sind Kriminalkommissarin. Können Sie sich eine Gruppenarbeit unter den Augen der Polizei vorstellen?»
«Nein», erwiderte Laura mit einem dezenten Lächeln. «Ich habe auch gar nicht vor, an den Gruppensitzungen teilzunehmen. Ich möchte nur hier sein, um in Ruhe mit den Leuten reden zu können und meine Ermittlungen durchzuführen. Sie können weitermachen wie bisher. Nur hin und wieder in kleinerer Besetzung!»
«Was wollen Sie damit sagen?»
«Ich will damit sagen, dass ich mit jedem Einzelnen längere Gespräche führen muss – auch während der Gruppensitzungen. Ich mache hier schließlich nicht Urlaub, sondern ich versuche einen Mord aufzuklären!»
Katharina hielt noch immer die Augen geschlossen und Laura schoss der boshafte Gedanke durch den Kopf, dass sie einer Schmerzensfrau glich und dass an diesem Ausdruck tiefen Leids etwas falsch war.
«Gut!», sagte Katharina plötzlich und hob den Kopf. «Es gibt noch ein Zimmer. Rosa hat bis vor zwei Tagen dort gewohnt. Aber sie ist inzwischen in den Gruppenraum umgezogen. Das Zimmer hat ihr Angst gemacht. Sie können es haben!» Katharina stand auf, machte zwei Schritte die Treppe hinauf und wandte sich an die anderen, die gerade den Tisch deckten.
«Die Kommissarin wird bei uns auf der Abbadia wohnen. Ich habe ihr Rosas ehemaliges Zimmer gegeben. Ich hoffe, ihr seid damit einverstanden – aber wir haben wohl keine andere Wahl.»
Einen Moment lang schwiegen alle, verharrten in ihren Bewegungen wie Märchenfiguren, die plötzlich in Schlaf fallen. Rolf Berger war der Erste, der sich wieder fing.
«Dann ist ja klar, dass wir alle verdächtig sind!», sagte er mit leiser, spöttischer Stimme.
«Nicht alle!», antwortete Laura ebenso spöttisch. «Es sei denn, es handelt sich um einen Ritualmord, den Sie alle gemeinsam ausgeführt haben.»
Rosa Perl stellte eine Schüssel mit Tomatensalat auf den Tisch, zu hart.
«Schlafen Sie nicht in diesem Zimmer», murmelte sie. «Es wohnt ein böser Geist drin.»
Laura lächelte ihr freundlich zu.
«Vielleicht kann ich ihn vertreiben», antwortete sie. «Und noch etwas. Könnte ich bis morgen mit Ihnen gemeinsam essen? Ich zahle gern in die Kasse ein.»
«Ja, natürlich!» Katharina ließ sich erschöpft auf eine Bank fallen.
Es gab Käse, Salami, Früchte und Tomatensalat. Dazu tranken sie Wein und Wasser. Die Katzen versuchten ihren Teil zu ergattern, strichen unter dem Tisch um die Menschenbeine und sprangen blitzschnell auf die Bänke, wenn jemand unaufmerksam wurde. Lange Zeit aßen sie schweigend, doch Laura spürte die verstohlen forschenden Blicke der anderen.
«Nach dem Essen legen wir normalerweise eine Ruhepause ein», sagte Katharina endlich. Es klang in Lauras Ohren wie: Sie stören hier!
Gut, dachte Laura. Sie geht auf Konfrontation. Damit kann ich umgehen!
«Ich möchte nur mit einer Person sprechen», antwortete sie ruhig. «Die anderen können ruhen.»
«Sie glauben doch nicht im Ernst, dass jemand aus dieser Gruppe Carolin umgebracht hat!» Britta, die Krankenschwester, hatte den Kopf gehoben und sah Laura herausfordernd an. Sie war eine hübsche junge Frau mit sehr kurzen Haaren, die wie ein Helm um ihren Kopf lagen. Das enge Top gab den Ansatz ihrer Brüste frei.
«Ich weiß es nicht …», Laura drehte den Wasserbecher zwischen ihren Händen, «… es geht hier um ganz normale polizeiliche Ermittlungen. Niemand wird bisher beschuldigt. Ich kann verstehen, wenn Sie sich ein wenig unbehaglich fühlen. Das ist die natürliche Folge eines Mordes, finden Sie nicht? Ich meine, man kann nicht einfach zur Tagesordnung übergehen und so tun, als sei nichts passiert …»
Britta beugte sich zu einer Katze hinab und reichte ihr eine Käserinde.
«Das tun wir ja nicht», antwortete sie leise. «Es ist nur … Sehen Sie, wir haben uns alle auf die Gruppe gefreut, auf diesen Ort. Und jetzt wird diese Arbeit, die wir hier miteinander machen, gestört. Dabei ist sie wichtig für uns … für mich jedenfalls, und ich denke auch für die anderen …»
Laura beobachtete die junge Frau, die leichte Unzufriedenheit in ihrem Gesicht, das Schürzen der Lippen, den Zorn, der in ihren Augen lag.
«Ach», sagte Laura. «Das bringt mich auf eine Idee. Ich würde gern mit Ihnen anfangen. Wir können nach dem Essen einen Spaziergang machen oder uns im Schatten auf die Mauer setzen – ganz wie Sie wollen.»
«Mit mir?» Britta Wieland sah plötzlich sehr erschrocken aus. «Warum denn ausgerechnet mit mir?»
«Weil wir bereits angefangen haben zu reden.»
«Aber ich … ich kann Ihnen überhaupt nichts sagen!»
«Sie sind Mitglied der Gruppe, Sie haben Carolin Wolf gekannt … das reicht!»
«Aber ich wollte eigentlich meditieren und mein Tagebuch schreiben!»
«Das können Sie alles hinterher! Meine Güte! Ist Ihnen allen eigentlich klar, dass ein Mensch umgebracht wurde, der noch vor ein paar Tagen Mitglied Ihrer Gruppe war?!»
«Okay!» Britta sprang auf. «Gehen wir! Aber gleich. Ich brauche noch ein bisschen Zeit für mich, ehe die nächste Sitzung beginnt. Um vier?» Sie warf Katharina Sternheim einen fragenden Blick zu. Die Therapeutin nickte müde. Laura erhob sich ebenfalls und fragte sich, woher diese Selbstbezogenheit kommen mochte, die aus der jungen Frau sprach. Langsam folgte sie ihr über den Innenhof des Klosters, vorbei an dem verfallenen kleinen Bauernhof, der wohl einmal zu dem Anwesen gehört hatte, vorbei an dem Friedhof der Mönche, dann hielt sie an.
«Es ist zu heiß, um weit zu gehen. Wir können uns hier in den Schatten setzen.»
«Ich würde lieber laufen!», entgegnete Britta.
«Gut, dann laufen wir. Aber nebeneinander.»
Unwillig verhielt Britta ihre Schritte, wartete, bis Laura sie eingeholt hatte.
«Also, was wollen Sie wissen?»
«Zunächst einmal würde mich interessieren, warum Sie so wütend sind?»
«Ich bin überhaupt nicht wütend, wie kommen Sie denn darauf?»
«Einfach nur so ein Gefühl.»
Wieder ging Britta schneller, hielt plötzlich an und drehte sich zu Laura um.
«Sie haben Recht! Ich bin wütend! Diese Gruppe hat mich eine Menge Geld gekostet. Krankenschwestern verdienen nicht besonders gut. Es ist mir wichtig! Ich meine, diese Arbeit für mich! Und dann kommt dieses kleine Biest und verdirbt alles!»
«Welches kleine Biest?»
«Na, diese Carolin. Sie können sich nicht vorstellen, wie die sich hier aufgeführt hat. Tobsuchtsanfälle hat sie in den Sitzungen hingelegt – alles drehte sich nur noch um sie in den ersten Tagen. Und sie hat es genossen … und wie sie es genossen hat! Wir anderen waren nur noch Publikum für die Sonderaufführung Carolin Wolf!»
«Und die andern, haben die das ähnlich empfunden?», erkundigte sich Laura und schlug dabei ungeduldig nach einer dicken Fliege, die schon länger um sie kreiste.
«Die meisten mit Sicherheit!» Brittas Stimme klang bitter. «Nur dieser Berger war ganz scharf auf sie. Was hat er einmal in der Sitzung gesagt? Dass Carolin für ihn das ‹wilde ungebändigte Leben› bedeute. Dass er sich wünsche zu sein wie sie!» Britta lachte auf. «Dieser Trottel! Ich glaube, für den ist jede Frau das wilde ungebändigte Leben. Mich baggert er jedenfalls auch dauernd an! Aber da kann er lange baggern!»
«Was haben Sie am Abend von Carolin Wolfs Tod gemacht?», fragte Laura unvermittelt.
«Ich?» Britta warf Laura einen beinahe fassungslosen Blick zu. «Was ich gemacht habe? Sie werden doch nicht denken, dass ich …»
«Ich denke gar nichts», antwortete Laura. «Ich frage nur, weil ich wissen muss, was jedes Mitglied dieser Gruppe an jenem Abend gemacht hat.»
«Ja, richtig, wir sind ja alle verdächtig. So ist es doch, oder?»
«In gewisser Weise.»
«Gut, ich kann Ihnen genau sagen, was ich gemacht habe. Ich habe mit Monika zusammen abgewaschen, und dann haben wir auf dem kleinen Brunnen am Ende des Innenhofs noch eine Zigarette geraucht. Da war es schon dunkel. Danach sind wir ins Bett gegangen – wir schlafen in einem Zimmer – und haben noch ein bisschen geredet und dann gelesen. Danach hatten wir Mühe einzuschlafen, weil Vollmond war. Außerdem haben die Stachelschweine geschnauft und gequiekt, und Monika hatte wieder ein paar Katzenflöhe erwischt.»
Laura versuchte aufmerksam zu bleiben, obwohl die Hitze und Brittas Redeschwall sie müde machten.
«Haben Sie etwas bemerkt, als Sie Ihre Zigarette am Brunnen rauchten?», fragte sie.
Britta lachte auf.
«Ja, ein Käuzchen flog vorbei. Katharina hatte in ihrem Zimmer eine Kerze angezündet und vermutlich alle Geister um Beistand für die Gruppe angefleht. Hubertus saß auf der Veranda und rauchte eine Pfeife. Die drei komischen Französinnen huschten ins Haus, ohne zu grüßen. Ja, und irgendein Italiener kam vorbei, um zu telefonieren.»
«Wo waren Rolf Berger, Carolin Wolf und diese Susanne?»
«Sie haben ja genau mitgezählt, was?» Britta kicherte nervös. «Lernt man so was bei der Polizei?»
«Ja», antwortete Laura.
«Also, wenn ich ehrlich bin, habe ich alle drei nach dem Abendessen nicht mehr gesehen. Susanne verschwand in ihrem Zimmer, weil sie keinen Küchendienst hatte, Carolin wollte spazieren gehen und Berger … keine Ahnung, was der gemacht hat.»
«Hat Susanne Fischer ein Einzelzimmer?»
«Nein, sie schlief in einem Zimmer mit Carolin. Es gibt nicht so viele Räume im Kloster. Nur Rosa und Katharina haben Einzelzimmer. Hubertus und Rolf wohnen auch zusammen.»
«Hat Susanne Fischer in der Nacht gemeldet, dass Carolin Wolf nicht da war?»
«Ich glaube, sie hat Katharina irgendwann geweckt, weil sie sich Sorgen machte.» Plötzlich ließ Britta die Schultern hängen und senkte den Kopf, als hätten Energie und Wut sie jäh verlassen.
«Denken Sie wirklich, dass Carolin umgebracht wurde …? Bis jetzt habe ich noch immer an einen Unfall geglaubt, oder daran, dass dieser debile Bauernjunge es aus Versehen gemacht hat. Sind Sie sicher, dass er’s nicht war?»
«Ziemlich sicher», sagte Laura leise.
«Dann … müsste es einer von uns gewesen sein?» Britta wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn.
«Müsste!», nickte Laura.
«Dann … will ich hier nicht mehr bleiben», flüsterte sie.
«Die italienische Polizei hat für Sie alle ein Abreiseverbot verhängt», antwortete Laura, «bis die Sache geklärt ist! Sie könnten sich höchstens ein Zimmer in Buonconvento oder Montalcino nehmen.»
«O mein Gott», wisperte Britta. «Nächste Woche habe ich wieder Dienst. Ich kann denen doch nicht sagen, dass ich wegen Mordverdachts nicht zur Arbeit kommen kann.»
«Sie können ja sagen, dass Sie krank geworden sind. Manchmal hält das Leben Überraschungen bereit.»
Laura wandte sich zum Kloster zurück. Hitze hing über den Hügeln, das Land war fahlgelb und verdorrt, die Konturen verschwammen.
«War das alles?», fragte Britta, als sie den Rückweg antraten.
«Vielleicht. Falls Ihnen nicht noch etwas zu den anderen einfällt. Zu Berger zum Beispiel oder zu Carolin Wolf, zu dem geheimnisvollen Hubertus Hohenstein oder zu Susanne Fischer. Vielleicht fangen wir mit ihr an.»
«Ich möchte nichts über die anderen sagen!» Britta stieß mit ihrem Turnschuh gegen einen Pinienzapfen.
«Sie haben doch schon eine Menge gesagt. Über Carolin Wolf zum Beispiel und auch über Rolf Berger.»
«Das … zählt nicht.»
«Warum? Weil Carolin tot ist und Sie Rolf Berger nicht mögen?»
«Ach, hören Sie auf!», antwortete Britta heftig. «In einer Gruppe gibt es so etwas wie eine Schweigepflicht, falls Sie das nicht wissen sollten. Was in den Sitzungen gesprochen wird, ist Vertrauenssache!»
«Aha!», machte Laura.
«Hören Sie auf!», schrie Britta. «Ich finde Ihre Ironie widerlich! Und Sie haben ja Recht, verdammt nochmal! Ich hab schon was aus den Sitzungen erzählt, und ich sollte es nicht tun. Es ist mir nur so rausgerutscht, weil ich wütend war! Es wird garantiert nicht mehr vorkommen!»
«Sie müssen mir auch nichts aus den Sitzungen erzählen», sagte Laura ruhig. «Aber Sie könnten mir von Ihren Eindrücken und Vermutungen erzählen. Vielleicht haben Sie in einem Winkel Ihres Herzens einen winzigen Verdacht … oder Sie haben irgendetwas beobachtet, das Ihnen jetzt schon ein paar Mal durch den Kopf gegangen ist.»
«Nein!» Britta schüttelte heftig den Kopf.
«Okay, nein!», sagte Laura.
Wortlos kehrten sie zum Kloster zurück. Grußlos rannte Britta die Treppe zur Veranda hinauf und verschwand im Hauptgebäude. Lauras Blick fiel auf Rolf Berger, der im Schatten der bröckelnden Arkaden in einem Liegestuhl döste.
Halb zwei. Sie sollte eigentlich Sofia anrufen und Kontakt zu Baumann aufnehmen. Bei ihrer Ankunft im Kloster hatte sie ihr Handy ausgeschaltet, um nicht durch Anrufe gestört zu werden. Sicher hatte ihr Vater schon mindestens zweimal auf die Mailbox gesprochen. Außerdem hätte sie sich gern unter den großen Feigenbaum an der Nordwand des Klosters gesetzt und ungestört nachgedacht.
Doch da saß Berger, der Nächste auf ihrer inneren Liste. Sie schaute sich nach ihrem Koffer um. Jemand hatte ihn in den Hauseingang neben der Telefonzelle gestellt. Laura wäre auch gern in ihr Zimmer gegangen, um sich ein wenig frisch zu machen, aber Berger könnte inzwischen verschwinden, und das wollte sie nicht riskieren, deshalb überquerte sie den Hof und hielt genau auf ihn zu.
Als sie näher kam, wurde ihr klar, dass er sie unter seinen halb geschlossenen Augenlidern beobachtet hatte. Er lächelte leicht.
«Warum ist Britta denn weggelaufen?»
«Weil sie ein paar Fragen nicht beantworten wollte!» Laura blieb neben Bergers Liegestuhl stehen, machte ihm aber keinen Schatten, sondern ließ ihn blinzeln.
«Was für Fragen?» Berger hob die Hand, um seine Augen vor dem grellen Licht zu schützen.
«Ich glaube nicht, dass Sie das etwas angeht!», antwortete Laura. «Ich würde mich jetzt gern mit Ihnen unterhalten, dann haben wir es hinter uns.»
Berger hüstelte nervös und ein bisschen leidend, legte dabei eine Hand auf seine Brust.
«Zauberberg, Thomas Mann!», sagte Laura.
«Was?»
«Na, Sie haben mich gerade an den Roman von Thomas Mann erinnert, an das Lungensanatorium und seine Bewohner. Kennen Sie das Buch?»
«Ja», murmelte Berger verwirrt und setzte sich auf. Laura fiel auf, dass er ziemlich blass war und so mager, dass er ganz gut auf den Zauberberg gepasst hätte. Ihr Einfall hatte ihn ganz offensichtlich unsicher gemacht. Jedenfalls war nichts von seiner forschen Ironie zu spüren.
«Sie haben gar nicht so Unrecht», sagte er mit dieser leicht brüchigen Stimme, die Laura schon früher an ihm bemerkt hatte. «Wir befinden uns hier in einer ganz ähnlichen Situation wie die Kranken in einem Sanatorium. Wir können nicht einfach abreisen, wir müssen zweimal am Tag bestimmte Anwendungen über uns ergehen lassen, die man Gruppensitzungen nennt. Danach sind die meisten froh, wenn sie eine Liegekur machen können.» Er lachte auf. «Außerdem habe ich tatsächlich schwache Lungen und erkälte mich sehr leicht.»
Laura setzte sich auf einen klapprigen Gartenstuhl und nickte ernst.
«Es gibt nur einen wichtigen Unterschied: In einem Lungensanatorium sterben die Menschen an Tbc und werden nicht ermordet!»
Berger ließ sich wieder zurücksinken und schloss die Augen.
«Es ist furchtbar», flüsterte er kaum hörbar. «Carolin war so lebendig und stark …»
«Kannten Sie das Mädchen schon lange?»
«Wie kommen Sie denn darauf?» Er hielt die Augen geschlossen, und seine Worte fielen sehr langsam.
«Weil ich erfahren habe, dass Sie mit Carolin eine ziemlich enge Beziehung unterhielten!»
Bergers lange Wimpern zuckten ein wenig.
«Wer hat das gesagt? Die kleine Sekretärin, die keinen abgekriegt hat? Oder die zickige Krankenschwester? Am Ende gar die einsame Meisterin selbst?»
«Es spielt keine Rolle, nicht wahr? Wichtig ist nur, ob es der Wahrheit entspricht!» Schweiß lief über Lauras Rücken, und ihr wurde bewusst, dass sie in der prallen Sonne saß.
«Gut!» Berger setzte sich so plötzlich auf, dass Laura beinahe zusammenzuckte. «Ich habe Carolin Wolf genau hier zum ersten Mal gesehen. Ich fand sie attraktiv und sehr erotisch. Sie hat meine Gefühle erwidert, und wir haben uns ein paar Mal außerhalb der Gruppe getroffen.»
«Auch am Abend ihres Todes?»
Berger vergrub sein Gesicht in den Händen, und Laura dachte, dass er einen guten Schauspieler abgeben würde.
«Ja, auch am Abend ihres Todes. Wir haben uns unterhalb des Klosters getroffen und sind zum Bach runter. Dort ist es kühl und …»
«… niemand kann einen sehen, nicht wahr?»
Berger stöhnte.
«Nein, niemand kann einen sehen. Jedenfalls haben wir dort unten nie jemanden getroffen.»
«Wie lange waren Sie am Bach? Sind Sie allein oder zusammen zurückgekommen?»
«Seltsam!», murmelte Berger und sah Laura an.
«Was?»
«Sie sehen überhaupt nicht aus wie eine Polizistin, aber Sie sind taff. Hab ich Recht?»
«Ich weiß nicht, was das mit meiner Frage zu tun hat.»
«Nichts, nichts … es kam mir nur gerade so in den Sinn. Sie sehen aus wie … irgendeine italienische Schauspielerin, die schon tot ist.»
«Ich hätte gern eine Antwort!»
«Ach so … warten Sie. Ich bin allein zurückgegangen. Aber Carolin war eine Viertelstunde später auch wieder da. Sie hat auf der Veranda ein Glas Wein getrunken. Ich glaube, Susanne und Hubertus waren auch dabei. Die beiden kamen kurz nach uns von ihrem Abendgang. Das gehört hier nämlich auch zu den Anwendungen. Der einsame Abendgang, um die Erlebnisse des Tages an sich vorüberziehen zu lassen.»
«Ihr Abendgang war demnach gegen die Vorschriften!»
«Wenn Sie es so nennen wollen. Carolin und ich hatten abends gern Gesellschaft.» Berger hatte zu seiner Ironie zurückgefunden.
«Was haben Sie nach Ihrer Rückkehr gemacht?»
«Ein Glas Wein getrunken, wie die anderen, und dann bin ich ins Bett gegangen. Ich war sehr müde. Hubertus kam auch bald und saß noch eine Weile am Fenster, um den Mond anzusehen. Er rauchte Pfeife … Brauchen Sie noch mehr Einzelheiten?»
«Danke, das reicht. Hat Carolin Wolf gesagt, dass sie noch einmal fort wollte?»
Berger runzelte die Stirn.
«Nicht direkt. Sie sagte nur, dass der Mond sie ganz verrückt machen würde und dass Nächte wie diese nicht zum Schlafen da seien.»
«Sie ist also noch einmal zum Bach gegangen. An den Ort, der gewöhnlich Ihr Treffpunkt war. Halten Sie es für unlogisch, wenn ich annehme, dass auch Sie noch einmal dorthin gingen?»
Berger lächelte spöttisch.
«Nicht unlogisch, aber falsch. Fragen Sie doch Hubertus Hohenstein. Er kann bezeugen, dass ich das Zimmer nicht mehr verlassen habe. Allerdings wäre ich gern noch einmal fort, leider erlaubt mir meine Gesundheit solche Ausflüge nicht. Es wäre zu viel geworden …» Er hüstelte und wandte das Gesicht ab.
Eine Nummer pro Abend reicht wohl, dachte Laura, hätte es beinahe laut gesagt. Sie überlegte, warum der Pathologe nichts davon erwähnt hatte, dass Carolin Wolf wenige Stunden vor ihrem Tod Geschlechtsverkehr hatte. Aber vielleicht stimmte es nicht. Vielleicht hatten sie nur geredet oder Carolin Wolf war noch einmal unter die Dusche gegangen, ehe sie zu ihrem zweiten Abendspaziergang aufbrach … Doch am wahrscheinlichsten war, dass Berger Kondome benutzte.
«Gut», sagte sie laut. «Erzählen Sie mir ein bisschen von sich. Sie wohnen in München, wenn ich mich nicht täusche.»
Berger nickte, seine Mundwinkel zitterten, als litte er Schmerzen.
«Ich wohne in München, bin verheiratet, keine Kinder. Ich arbeite bei einer großen Biotech-Firma als Humangenetiker. Wir erforschen neue Therapiemöglichkeiten für Diabetes.»
«Wie heißt die Firma?»
«Dialab.»
«Gut. Ich werde das überprüfen lassen … Sie behaupten, Carolin Wolf hier zum ersten Mal getroffen zu haben. Kennen Sie andere Mitglieder der Gruppe aus München?»
«Sie gehen ganz schön ran, was?!» Berger verzog sein Gesicht zu einem gequälten Lächeln.
«Ich stelle nur Fragen, die ich jedem anderen Mitglied dieser Gruppe auch stelle. Nahe liegende Fragen, nicht wahr?»
«War Britta deshalb so sauer?»
«Nein.»
«Sind Sie immer so … so zugeknöpft, Frau Hauptkommissarin?»
«Lenken Sie immer so geschickt ab, Herr Berger?»
«Oh», grinste er, «keine Chance, was?»
«Keine Chance!»
«Na gut. Ich habe Rosa gekannt. Rosa hat Einzeltherapie bei unserer Meisterin, genau wie ich. Wir sind uns ab und zu im Wartezimmer begegnet. Wenn ich ging und sie kam oder umgekehrt. Das ist schon alles. Sonst kenne ich niemanden!»
«Das stimmt ungefähr mit meinen bisherigen Informationen überein», murmelte Laura. «Nur noch eine Frage: Ist Ihnen etwas an einem der anderen Gruppenmitglieder aufgefallen? Eine besondere Beziehung zu Carolin Wolf? Eine Rivalität?»
Berger lachte trocken auf.
«Alle Weiber haben Carolin gehasst! Weil sie eine Naturgewalt war, von der die andern nur träumen konnten. Ich bin sicher, dass jede von denen Carolin in Gedanken nicht nur einmal umgebracht hat!»
«Schließen Sie in diese Behauptung auch Katharina Sternheim ein?»
«Na klar! Die alte Hexe ganz besonders!»
«Die alte Hexe ist immerhin Ihre Therapeutin. Finden Sie es normal, so von ihr zu sprechen?»
Wieder hüstelte Berger.
«Sie ist nicht mehr meine Therapeutin», antwortete er. «Wir haben uns zerstritten. Ich mache diese Gruppe noch mit, weil wir alle in einem Boot sitzen, aber dann ist Schluss!»
Laura stand auf und ging in den Schatten eines Rundbogens. Die Hitze ließ das Blut in ihren Schläfen pochen.
«Warum haben Sie sich zerstritten?», fragte sie.
«Das hat etwas mit der Therapie zu tun. Darüber rede ich nicht! Nur so viel: Katharina ist eine machtbesessene Frau. Alles läuft gut, wenn man diese Macht nicht antastet. Aber wehe dem Klienten, der wirklich anderer Meinung ist und Widerstand leistet!»
«Ich nehme das als Ihre persönliche Meinung!» Laura wischte ein paar Schweißtropfen von der Stirn, sie sehnte sich inständig nach einer kühlen Dusche. Berger ging ihr auf die Nerven. Er hatte plötzlich etwas Schulmeisterliches, Schlaues. Offensichtlich war er bemüht, Misstrauen zwischen ihr und den übrigen Mitgliedern der Gruppe zu säen. Sie hatte den Eindruck, als genieße er plötzlich dieses Verhör, jetzt, da er sich gefangen hatte und einen dumpfen Verdacht auf die gesamte Gruppe lenken konnte. Laura wollte ihn loswerden, doch auf eine Antwort war sie noch neugierig.
«Wie ist Ihr Verhältnis zu Rosa Perl?»
«Was hat das mit Katharina Sternheim zu tun?» Jetzt lächelte er plötzlich sehr charmant und beugte sich in Lauras Richtung. Es klang, als sagte er: Ein bisschen sprunghaft und unkonzentriert, was?
«Nichts!», erwiderte sie kühl. «Es hat etwas mit Rosa Perl zu tun. Sie haben richtig verstanden!»
Berger stand auf und trat nahe an Laura heran. Er war groß, mindestens ein Meter neunzig, und er konnte auf sie herabschauen, obwohl sie nicht gerade klein war. Etwas Schweres, Durchdringendes lag in seinem Blick. Er sah genau in ihre Augen, Laura fühlte sich unbehaglich, als hätte er sie ohne ihre Einwilligung berührt.
«Rosa ist krank», sagte er langsam. «Sie ist sogar sehr krank, und sie fürchtet sich vor dem Tod. Ich steh ihr ein wenig bei. Das ist alles. Rosa hat es verdient!»