Guerrini bat Laura, vor der Zelle zu warten. Er hatte dem Wachhabenden das Schreiben des Richters vor die Nase gehalten und war gleich weitergegangen, hatte den Mann mit dem Papier in der Hand stehen lassen, ihn kaum eines Wortes gewürdigt. Gab nur die knappe Anweisung, dass er die Zellentür öffnen solle.

Er kann auch Verachtung an den Tag legen, dachte Laura.

Mit steinernem Gesicht folgte der Wachhabende Guerrini, machte umständlich die Zellentür auf und trat zur Seite. Von drinnen kam ein Wimmern, das schnell anschwoll und in eine atemlose Melodie überging. Laura beobachtete, wie Guerrini langsam in den winzigen Raum trat und sich auf das Pritschenbett setzte. Dann wanderte ihr Blick zu Giuseppe, der in der dunkelsten Ecke der Zelle stand, den Rücken zur Tür, die Schultern gekrümmt.

«Giuseppe», sagte Guerrini mit sanfter Stimme. «Giuseppe, ich bin wieder da. Ich bin gekommen, um dich nach Hause zu bringen. Ich hab es dir versprochen, erinnerst du dich?»

Giuseppe verharrte ohne das geringste Anzeichen einer Bewegung.

«Hast du mich verstanden, Giuseppe?»

Plötzlich lief ein Zittern durch den Körper des jungen Mannes und aus dem Zittern wurde ein heftiges Nicken. Aber er drehte sich nicht um, machte nur einen tapsenden Schritt rückwärts, weg von der Wand.

«Aber sie werden dort sein», flüsterte er heiser.

«Wer wird dort sein?», fragte Guerrini.

«Die Polizisten! Sind überall. Im Haus, auf den Feldern. Sie können mich sehen!»

Guerrini seufzte.

«Nein, Giuseppe. Da werden keine Polizisten sein. Ich verspreche es dir. Da sind nur deine Mutter und dein Bruder. Und all die Tiere, die du liebst. Die Hühner und Enten. Die Schafe und Kühe. Und im Wald warten die Stachelschweine auf dich.»

Jetzt wiegte Rana seinen Oberkörper hin und her, erst langsam, dann immer heftiger.

«Nicht die Stachelschweine!», stieß er hervor. «Nicht die Stachelschweine!»

Guerrini schluckte.

«Warum nicht die Stachelschweine?»

«Sie weinen!» Giuseppes Stimme wurde lauter. «Sie weinen! Die weiße Frau! Sie ist da und schaut mich an! Sie ist immer da! Die Hexen haben sie umgebracht!»

Guerrini warf Laura einen Blick zu.

«Welche Hexen, Giuseppe?»

«Hexen überall», murmelte er. «Mama sagt, dass überall Hexen sind.»

«Ist gut, Giuseppe. Wir haben die Hexen vertrieben. Du kannst ruhig mit uns kommen. Keine Polizisten, keine Hexen. Ich verspreche es dir! Ich habe Pizza gekauft. Die können wir auf dem Rückweg essen. Vielleicht machen wir ein Picknick. Hast du schon einmal ein Picknick gemacht?»

Giuseppe reagierte nicht, begann wieder zu summen. «Ich habe nicht nur Pizza mitgebracht, sondern auch eine Frau, Giuseppe. Sie ist wichtig für dich. Sie hat dich hier rausgekriegt …» Guerrini machte eine Pause und winkte Laura heran. «Schau sie dir an, Giuseppe! Sie ist hier!»

Laura machte zwei lautlose Schritte, stand im Eingang zur Zelle und wartete mit klopfendem Herzen auf eine Reaktion des Jungen. Doch lange Zeit rührte er sich nicht. Stand nur da und Laura hatte das Gefühl, als könne sie spüren, wie die vielen Informationen sich langsam in seinem Kopf und seinem Körper ausbreiteten, miteinander kämpften, mit seiner Angst und Langsamkeit, den Hexen, Polizisten und Stachelschweinen, der toten Frau, der Mutter und dem Bruder.

Sie wagte kaum zu atmen, jeder winzige Laut schien hörbar zu werden in der Stille. Selbst der Wachhabende rührte sich nicht.

Giuseppe fuhr so plötzlich herum, dass Laura alle Muskeln anspannen musste, um nicht zurückzuweichen. Sein Blick traf sie mit einer Kraft, als werfe er sich auf sie. Lange starrte er ins Leere, dunkel, brennend. Und dann, ganz allmählich, lockerte sich sein Körper, sein Gesicht, das noch immer die Spuren der Misshandlungen zeigte, verzog sich, und Tränen liefen über seine Wangen.

Guerrini erhob sich vorsichtig und murmelte: «Komm, Giuseppe, lass uns gehen!» Er legte einen Arm um die Schultern des Jungen, und dieser ließ ihn gewähren, folgte dem Commissario mit unsicheren Schritten zur Zellentür, vorbei an Laura, die ihnen Platz machte, durch den langen Gang, die Wachstube und endlich hinaus aus diesem Kerker, der ihm vorgekommen war wie die Hölle, von der seine Mutter manchmal sprach.

«Vergessen Sie die Formalitäten!», sagte Laura zu den Polizisten, die den beiden verblüfft nachsahen. «Der Commissario wird sich später darum kümmern!»

Als sie nach draußen trat, warteten Guerrini und Giuseppe vor dem Wagen auf sie.

«Bitte fahren Sie, Laura», sagte Guerrini. «Ich werde mich mit Giuseppe nach hinten setzen.»

Sie nickte und nahm den Autoschlüssel. Der Junge zögerte einen Augenblick, ehe er in den Wagen stieg, und Laura fürchtete, er könnte sich losreißen und einfach fortlaufen. Doch er tat es nicht, und kurz darauf waren sie unterwegs. Bis Buonconvento sprachen sie nicht. Giuseppe summte vor sich hin, sang manchmal laut ein paar Strophen und wiegte sich hin und her wie ein verlassenes Kind. Als sie die Seitenstraße zur Abbadia erreicht hatten, schlug Guerrini noch einmal ein Picknick vor.

«Glauben Sie wirklich, dass es funktioniert?», fragte Laura zweifelnd.

«Es kommt auf einen Versuch an», erwiderte Guerrini. «Mir ist schon schwindlig vor Hunger, und ich bin sicher, dass Giuseppe seit Tagen kaum etwas in den Magen bekommen hat.»

Laura bog auf einen Feldweg ein, der zu einer Gruppe alter Olivenbäume auf einem Hügel führte. Dort hielt sie den Wagen an.

«Und jetzt?», fragte sie.

«Jetzt steigen wir aus und essen!» Guerrini verließ den Wagen, holte eine Decke aus dem Kofferraum und breitete sie unter den Bäumen aus. Laura sah ihm ungläubig zu.

«Und Giuseppe?»

«Er wird kommen», antwortete Guerrini. «Bitte holen Sie die Pizza und den Wein, Laura!»

Das Paket lag auf dem Beifahrersitz. Als Laura danach griff, warf sie einen kurzen Blick auf den Jungen, der mit zurückgelehntem Kopf dasaß und auf die Landschaft starrte.

«Komm, Giuseppe», sagte sie leise. «Es gibt was zu essen – draußen unter den Bäumen. Du bist frei!»

Doch er rührte sich nicht, schien sie nicht gehört zu haben. Da ließ sie ihn sitzen, öffnete nur weit seine Tür und ging zu Guerrini, der am Stamm eines Olivenbaums lehnte und übers Land schaute. Als sie etwas sagen wollte, hob er einen Finger an die Lippen und schüttelte den Kopf. Dann nahm er das Pizzapaket aus ihren Händen, legte es auf die Decke und öffnete es, schraubte die Weinflasche auf und genehmigte sich einen großen Schluck.

«Bedienen Sie sich!» Er wies auf die lauwarme Pizza. «Fangen Sie einfach an!»

Zögernd griff Laura nach einem Stück Pizza und biss hinein. Ihr Magen knurrte, doch sie hatte Mühe zu essen. Dieses Picknick kam ihr wie eine unwirkliche Szene vor, der ganze Tag wie ein absurdes Theaterstück. Deshalb passte eigentlich alles. Guerrini reichte ihr die Weinflasche, und auch sie trank beinahe gierig. Sie lächelten einander zu, stopften Pizza in sich hinein und lauschten gleichzeitig Richtung Wagen.

Und dann, nach zehn Minuten, hörten sie leise Schritte, drehten sich nicht um, hörten nur auf zu kauen. Als Giuseppe sich zwischen sie setzte und nach einem Stück Pizza griff, trafen sich ihre Blicke, und ein warmes Glücksgefühl breitete sich in Lauras Brust aus.

Sie aßen, gaben Giuseppe von dem Wasser, tranken abwechselnd aus der Weinflasche und schwiegen. Es war ein gutes Schweigen – eins, das mit Schmatzen gefüllt war und dem Gluckern der Flasche. Danach blieben sie sitzen und sahen den Vogelschwärmen zu, die sich auf den abgeernteten Feldern niederließen, um auf ihrem Weg nach Süden auszuruhen. Irgendwann begann Giuseppe wieder zu singen. Laura und Guerrini sangen mit ihm. Warmer Wind bewegte die Zweige des Olivenbaums, und Laura wünschte, dass sie für immer auf diesem Hügel bleiben könnte, frei, singend und ein klein wenig betrunken.

Nacht der Stachelschweine: Laura Gottbergs erster Fall
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