30

Im Griffith Park waren Pferde ausgebrochen und galoppierten jetzt mitten zwischen den fahrenden Autos umher. Der Golden State Freeway wurde gesperrt, um sie zusammentreiben und auf Anhänger verladen zu können. Der gesamte Verkehr wurde auf Nebenstraßen umgeleitet. Unter lautem Gehupe kamen Autos, Lastwagen und Sattelschlepper quietschend zum Stehen. Nach einer halben Stunde gab die Klimaanlage des Plymouth den Geist auf. Marge sah Decker unauffällig von der Seite an. Er wirkte gelassen, aber sie hatte immer noch ein schlechtes Gewissen, weil sie ihn an seinem freien Tag in Anspruch nahm.

»Tut mir leid«, sagte sie.

»Ist ja nicht deine Schuld«, antwortete Decker.

»Nicht grad die tollste Freizeitbeschäftigung.«

»Da hast du recht«, sagte Decker. Doch seine Stimme klang unbeschwert.

Trotz des Verkehrschaos war er gut gelaunt. Sein letztes Telefongespräch mit Rina war wunderbar gewesen. Noch einmal hatte sie ihm versichert, daß Abel nichts zwischen ihnen zerstört hätte, daß sie ihm sogar verziehen hätte. Jemand in einer so verzweifelten Situation verdiene keinen Haß, hatte sie traurig bemerkt. Es gab ihr außerdem ein gutes Gefühl, die Situation richtig eingeschätzt zu haben. Etwas in ihrem Inneren hatte ihr gesagt, daß er ihr nicht weh tun würde. Sie war froh, daß sie ihrer Intuition gefolgt war. Decker freute sich über ihre Haltung zu Abel, aber noch glücklicher war er darüber, daß sie sich eindeutig zu ihrer Liebe zu ihm bekannt hatte. Sie waren füreinander bestimmt. Es war bescheert – Schicksal. Das hatte sie sofort gewußt, als sie ihn das erste Mal sah. Sie hatte nur eine Zeitlang gebraucht, um es sich einzugestehen.

Schon bei dem Gedanken an ihre Worte spürte er einen Kloß im Hals. Er starrte aus dem Fenster auf die bunte Blechlawine vor ihnen. »Scheiß drauf, Marge. Fahr auf den Seitenstreifen und laß uns sehen, daß wir hier rauskommen.«

Genau das tat sie auch, bis sie von einem Wagen der Highway Patrol angehalten wurden. Sie hielten dem CHP Officer ihre goldenen Dienstmarken unter die Nase und erklärten, sie hätten gerade einen Notruf erhalten. Der Grünschnabel wollte seine Sache besonders gut machen und eskortierte sie mit äußerst ernster Miene zur nächsten Ausfahrt.

Nachdem sie den Freeway verlassen hatten, mußten beide lachen.

»Einer der wenigen Vorteile in diesem Job, was?« sagte Marge. »Weißt du, wo wir sind. In der Gegend hier verfahr’ ich mich immer.«

»Wir sind gar nicht weit von der Akademie entfernt«, sagte Decker. »Fahr hier geradeaus, die Straße führt parallel am Park vorbei. Könntest du mir einen Gefallen tun, Marge? Wo wir schon rausfahren mußten, mach doch bitte einen Schlenker nach rechts auf den Los Feliz Boulevard – ich hab’ in Hollywood was zu erledigen, was ich gern hinter mich bringen würde. Macht’s dir was aus, wenn wir eine halbe Stunde später da sind?«

»Der Schießstand läuft uns ja nicht weg.«

»Danke.« Aber Marges Gesicht wirkte angespannt. Decker sagte sich, sie würde schon darüber hinwegkommen. Sie war halt ein bißchen nervös, wie sie nach dieser Erfahrung mit ihrem Job zurechtkommen würde. Mußte sich selbst beweisen. Ihm war erst richtig klar geworden, wie verunsichert sie war, als sie diesen Ausflug zum Schießstand vorschlug. Sie hatte versuchte, sich locker anzuhören, doch ihre Stimme war voller Zweifel gewesen. Decker hatte sich bereit erklärt mitzukommen.

Marge fuhr die kurvige und leicht hügelige Straße durch den Park, vorbei an schattigen Picknickplätzen und altmodischen Reitställen – meilenweit durch grüne Landschaft, bis die gewundene Straße schließlich in den Los Feliz Boulevard mündete. Dort bog sie nach Westen ab, und sie kamen in eine Gegend, die von gepflegten Wohnhäusern geprägt war. Der Hang dahinter war mit terrassenartig angelegten Häusern bebaut. Hinter der Vermont Avenue sah man statt der Apartmentblocks prächtige Villen, die auf riesigen Grundstücken an Grashängen standen. Links von ihnen lagen abgesperrte Gemeinden, in denen einst der alte Geldadel von Hollywood residierte. Doch diese Gegend, die im smogverseuchten Becken von L. A. lag, hatte viel von ihrem alten Glanz verloren und kämpfte wie eine ehemalige Filmdiva gegen das Altern an.

»Wohin, Jiggs?« fragte Marge.

»Fahr den Los Feliz Boulevard immer weiter, bis er Western Avenue heißt.«

»Wann ist die Anklageverlesung im Fall Darcy?«

»Lou Nixon hat gesagt, irgendwann am späten Nachmittag.«

»Dann sind wir ja nicht rechtzeitig zurück.«

»Hollander wird da sein«, sagte Decker.

»Worauf ist Lou aus?«

»Letztlich Bewährung für Pappy und Earl. Und daß Earl und Katie in die Obhut von Sue Beth gegeben werden. Und Granny Darcy?« Decker zuckte die Achseln. »Irgendein psychologisches Gutachten und dann Therapie, Die ganze Familie ist völlig im Eimer. Der einzige, der von dem Ganzen profitiert, ist Manfred. Sue Beth hat mir erzählt, daß die Howards gleich nach den Darcys verkauft haben. Firma Manfred bringt schon die ganze Ausrüstung dorthin. Offenbar hatten die schon lange die Bohrrechte beantragt, noch bevor ihnen das Land gehörte. Der ganze Papierkram ist bereits erledigt. Jetzt warten die nur noch auf die offizielle Genehmigung.«

»Es könnte jemand Einspruch erheben.«

»Wer denn?« fragte Decker. »Ist ja niemand mehr da. Selbst Chip hat an Manfred verkauft. Und wer sollte es ihm verdenken? Ist ja auch nicht gerade das Allertollste, sein Leben lang vollgedröhnte Motorradfahrer mit Bier abzufüllen. Alle haben das Geld eingesackt und sind abgehauen.«

Die Western Avenue war eine Ansammlung von billigen Motels, Imbißbuden und Spirituosenläden. Der abgerissenste Teil von Hollywood. Der perfekte Ort, wenn man sein Leben in chronischer Depression verbringen wollte. Der Plymouth schlängelte sich durch den Verkehr.

»Daß Manfred auf diese Weise reinkommt, das stinkt zum Himmel«, sagte Marge.

»So was nennt man im Geschäftsleben eine günstige Gelegenheit«, sagte Decker. »Bieg am Hollywood Freeway nach rechts ab.«

Der Plymouth raste an mit Brettern verbarrikadierten Gebäuden vorbei, die mit Kinoplakaten beklebt waren, und an einer leeren Spielhalle, in der Minderjährige willkommen waren und die Spaß für groß und klein versprach. An der Überführung Sunset Boulevard bat Decker Marge, langsamer zu fahren.

»Bieg an der nächsten Ampel links ab und stell dich auf den Parkplatz. Ich zahle.«

Marge fuhr den Plymouth in eine Lücke und nahm von dem iranischen Parkwächter den Parkschein entgegen. »Beeil dich, ja? Dein alter Kumpel ist kein guter Umgang für dich.«

»Du willst dir bloß nicht den Hintern in dem heißen Auto verbrennen«, sagte Decker.

»Das auch.«

»Willst du mitkommen?«

»Und was würdest du tun, wenn ich ja sagte?«

Decker lächelte. »Dann würd’ ich dumm aus der Wäsche gucken.«

Sie stiegen beide aus. »Ich glaub’, ich mach’ ’nen Spaziergang und kauf mir ’ne Cola«, sagte Marge. »Kann ich dir was mitbringen?«

Decker schüttelte den Kopf. »Sei vorsichtig.«

Marge lächelte, doch es wirkte leicht gequält. »War doch nur so ’ne Redensart, Marge. Natürlich kannst du dich zur Wehr setzen, wenn du das willst.«

»Ich weiß nicht, Pete.«

Decker stellte sich ihr in den Weg, legte ihr die Hände auf die Schultern und sah ihr in die Augen. Sie sah gut aus, wirkte gewitzt und war an den richtigen Stellen sexy. Er hatte sich schon oft gefragt, warum er ihr nie Avancen gemacht hatte, und war zu dem Schluß gekommen, daß er eher eine Freundin als eine Geliebte gebraucht hatte. In Marge hatte er zweifellos eine Freundin, und er würde sie sich von keinem dahergelaufenen Kerl wegnehmen lassen.

»Vertraust du mir, Marge?«

»Hör mal, Pete. Ich weiß, daß du es gut meinst, aber ich bin nicht in der Stimmung für aufmunternde Worte …«

»Halt den Mund. Beantworte meine Frage, okay? Vertraust du mir?«

»Nicht ganz.«

»Gut«, sagte Decker. »Man sollte nie jemandem vollkommen vertrauen. Aber vertrau mir in diesem einen Punkt. Es wird alles wieder gut.« Er zeigte mit dem Finger auf sie. »Du wirst aus dieser Sache gestärkt hervorgehen.«

»Und wann kommen wir an die Stelle, wo ich ganz allein die ganze Stadt rette?«

»Du machst es einem aber nicht leicht, dich zu trösten, Detective Dunn.«

Sie zuckte die Achseln. »Dann erzähl mir doch auch keinen Scheiß!«

Er nahm seine Hände von ihrer Schulter und hielt sie hoch.

»Geh’s nach deiner Fasson an. Aber was mich betrifft, gehörst du immer noch zu meinem Spitzenteam.«

Marge lächelte. »Danke. Und jetzt mach deinen Frieden mit deinem Freund, dem Exvergewaltiger.«

»Freund reicht.«

 

Abel starrte aus dem Fenster, als Decker hereinkam. Ohne sich umzudrehen fragte er: »Wer ist die Frau?«

»Meine Kollegin.«

»Sieht gut aus. Ganz schön riesig. Selbst von hier oben wirkt sie groß.«

»Sie ist groß.«

»Viel zum Festhalten«, sagte Abel. »Meinst du, die hätte vielleicht Lust, ’nen Krüppel mit ’nem Ding von dreißig Zentimetern zu bumsen?«

»Ich weiß nicht. Aber sie weiß über deinen Fall Bescheid. Das könnte sie gegen dich einnehmen.«

»Die Sache hätte vor Gericht gehen sollen.«

»Myra hat die Anklage fallen gelassen«, sagte Decker. »Sie wollte wohl nicht ihre Mutter der Körperverletzung beschuldigen. Mehr war nicht zu machen, Abe. Das Ganze ist vermasselt worden, weil der ursprünglich ermittelnde Beamte gestorben ist. Sei zufrieden mit dem, was du hast.«

Abel drehte sich zu Decker um. »Man hätte mich offiziell für unschuldig erklären müssen. Das ist was anderes, als wenn einfach nur die Anklage fallen gelassen wird.«

»Du bewirbst dich doch nicht um ein öffentliches Amt, Abe. Was macht das denn da für einen Unterschied?«

»Für deine Freundin da draußen würd’ es schon einen Unterschied machen.«

»Sie ist Polizistin«, sagte Decker. »Sie mißtraut jedem, der sich mit Nutten einläßt.«

Schweigen.

Dann fragte Decker: »Weißt du, was den Beweis geliefert hat?«

»Was denn?«

»Das Flugticket von der Mutter. Myra behauptete immer wieder, Mama sei reingekommen, nachdem sie verletzt worden war, aber aus dem Ticket ging eindeutig hervor, daß sie in der besagten Nacht schon um zehn Uhr von Detroit abgeflogen war. Offenbar wollte sie Myra an diesem verhängnisvollen Morgen in aller Frühe überraschen, und was sie da sah, gefiel ihr überhaupt nicht. Du warst ganz einfach zur falschen Zeit am falschen Ort.«

Abel schüttelte den Kopf. »Dumme Kuh schlitzt ihre eigene Tochter, weil die’s für Geld treibt. Und ich bin der Angeschissene.«

Er humpelte zum Kühlschrank und nahm zwei eiskalte Flaschen Bier heraus.

»Zumindest bist du ein freier Mann«, sagte Decker.

»Yeah.« Abel stellte das Bier auf den Küchentisch in der Ecke. »Yeah, das bin ich. Danke, Doc. Vielen Dank.«

»Keine Ursache.« Decker setzte sich hin und trank eine halbe Flasche. »Hör mal … ich denke immer wieder, daß sich einer von uns nur hätte etwas mehr bemühen müssen. Daß wir viel zu viel Scheiß zwischen uns haben geraten lassen. Was meinst du?«

»Ich glaube, Doc, wir sind so was wie ein altes Ehepaar.« Abel setzte sich an den Tisch. »Es gibt einige gute Erinnerungen und viele schlechte. Aber trotzdem ist da immer noch etwas von so ’ner typisch machomäßigen Männerbeziehung, weißt du, was ich meine?«

»Yep.«

»Also belassen wir’s dabei«, sagte Abel. »Deine zukünftige Frau hat mir einen sehr netten Brief geschrieben und mir das Vietnam-Foto zurückgeschickt. Allerdings hat sie über uns beide in der Vergangenheit geschrieben – was für gute Freunde wir waren.« Abel lachte. »Subtil, aber wirkungsvoll. Um die Wahrheit zu sagen, es überrascht mich, daß sie mir überhaupt geschrieben hat.«

»Rina ist ja auch was Besonderes.«

»Das stimmt.«

Ein weiteres betretenes Schweigen.

»Du rufst mich an, wenn du irgendwas brauchst, okay?«

»Klar doch.« Abel nahm sein Bier und ging weiter zum Fenster. Eine Zeitlang tranken sie einfach schweigend, Decker am Tisch und Abel aus dem Fenster starrend. Decker fragte sich, wie viele Stunden Abel schon damit verbracht haben mochte zuzusehen, wie das Leben an ihm vorüberlief.

Schließlich sagte Abel: »Deine Kollegin ist zurück. Netter Hüftschwung. Worüber habt ihr da draußen geredet?«

»Dienstliches.«

»Wo wollt ihr beide hin?«

»Zum Schießstand an der Akademie.« Decker zögerte, dann sagte er: »Sie ist letzte Woche in eine üble Situation geraten. Irgendein Arschloch hat versucht, ihr den Schädel einzuschlagen. letzt muß ihr Selbstbewußtsein ein wenig aufgemöbelt werden. Ich hab’ ihr gut zugeredet. Ich glaub’ zwar nicht, daß sie mir alles abgekauft hat, was ich gesagt hab’. Aber wenn sie auch nur etwas davon angenommen hat, dann reicht das schon.«

Abel antwortete nicht sofort. Schließlich sagte er: »Diese Frau da draußen, weißt du, was sie ist?«

»Was?«

»Sie ist deine neue Machobeziehung, Doc. Setz dich in Bewegung und tu was mit ihr, woran ihr euch immer erinnern werdet. Laß die Vergangenheit hinter dir.«

»Weise Worte«, sagte Decker und stand vom Tisch auf. »Vielleicht solltest du sie mal lieber befolgen.«

»Sollte ich«, sagte Abel. »Werd’ ich aber wohl nicht.«

Sie lächelten sich unsicher an.

Dann umarmten sie sich.