14

Oben auf dem Hügel, als der Plymouth gerade wieder ins LAPD-Territorium abtauchen wollte, wandte Decker sich zu Marge und sagte: »Willst du mir die Sache mit Crandal erzählen oder bist du immer noch zu sauer zum Reden?«

Marge umklammerte das Lenkrad und starrte durch die Windschutzscheibe. Die späte Nachmittagssonne ließ den Asphalt immer noch glühen. Der Teer schien vor ihren Augen zu kochen, die Berge auf beiden Seiten der Straße flimmerten in der Hitze. Das war deprimierend, da die Temperatur noch mal um zehn Grad steigen würde, sobald sie unten waren. Vor zwanzig Minuten hatte Marge die Klimaanlage ausgestellt, da der Motor angefangen hatte zu kochen, als sie aus dem Sagebrush Canyon heraus aufwärts fuhren. Heißer Wind blies ihr ins Gesicht. Marge seufzte und wünschte, sie hätte sich am Morgen krank gemeldet.

»Er hat ›kleine Lady‹ zu mir gesagt.«

»Und das hat dich so geärgert?« fragte Decker.

»Ich bin nicht klein, Pete.«

»Und gewiß keine Lady.«

Marge lachte hohl.

»Du meine Güte«, sagte Decker. »Eine erfahrene Polizistin wie du. Das ist dir wirklich nahegegangen.«

Marge antwortete nicht. Kurze Zeit später sagte sie: »Weißt du, was mich an Cop-Filmen ankotzt?«

»Was denn?«

»Dieses lockere, witzige Herumgealbere in Gegenwart von Toten. Weißt du, was für Filme ich meine?«

Decker nickte. Marge knallte einen höheren Gang rein, weil die Straße flacher wurde. Das wildwuchernde Kanariengrasgestrüpp war dünner geworden. An seine Stelle traten Felder mit Fingerhirse und Löwenzahn. Bis in fünfhundert Meter Höhe konnte man Häuser sehen.

»Genau das hat Crandal getan«, sagte sie. »Er hat Witze gerissen. Das paßte mir nicht.«

»Nicht daß ich den Mann verteidigen will, Marge, aber vielleicht hat er das nur aus Selbstschutz getan.«

»Yeah«, sagte Marge. »Ich weiß. Und vielleicht verhalte ich mich ein bißchen weinerlich. Aber es so aus der Nähe zu sehen und so grauenhaft. Ich weiß nicht, ich bin nicht gewöhnt, Mordfälle zu bearbeiten, und Crandals Haltung gefiel mir nicht.«

»Verständlich«, sagte Decker.

»Und wie hast du’s geschafft, sechs Jahre lang mit Leichen in deinen Träumen zu leben?«

»Ich dachte eigentlich, ganz gut, bis Jan mich um die Scheidung bat.«

Marge lachte, diesmal aufrichtig. »Dann frage ich dich jetzt als erfahrenen Mordermittler, was hältst du von der Sache? Eine Familienangelegenheit oder ein schiefgegangener Einbruch?«

Decker antwortete nicht sofort. Dann sagte er: »Ich erzähl’ dir mal, was ich nicht glaube. Ich glaube nicht, daß es die Tat eines Wahnsinnigen war – daß so ’ne Art Manson-Gang die Familie niedergemetzelt und dabei ihren Spaß gehabt hat. Kein verschmiertes Blut, keine Satanssymbole. Die Morde, so schrecklich sie auch sind, sehen nach einer spontanen Tat aus. Drei auf einem Haufen, vermutlich an der Stelle ermordet, wo sie gerade standen. Luke gegen den Kühlschrank gelehnt. Weißt du, was ich besonders merkwürdig fand?«

»Was?«

»Die ganze verschüttete Milch, die Flaschen, die überall herumlagen. Anscheinend hat sich jemand die Zeit genommen, für Katie Flaschen vorzubereiten, jemand, der sie mitnehmen wollte und es sich dann anders überlegt hat.«

»Oder vielleicht hat jemand Linda gestört, als sie gerade die Flaschen machte.«

»Du meinst, Linda wollte mit Katie abhauen, und jemand hat sie daran gehindert?« fragte Decker.

»Nur so eine Idee«, sagte Marge.

»Bei einer Familienangelegenheit gäbe es viele Möglichkeiten«, sagte Decker. »Jemand hat sie alle umgenietet, dann ganz impulsiv beschlossen, Katie zu retten. Oder jemand hat entdeckt, was passiert ist, und das Kind gerettet. Es einfach in der Manfred-Siedlung abgesetzt, weil er nicht die Polizei rufen wollte. Ein Familienmitglied beschützt ein anderes.«

»Oder Byron Howard«, sagte Marge. »Ich wette, der würde sich genauso beschützend verhalten wie ein Familienmitglied. Er mag keine Fremden.«

»Yeah«, sagte Decker. »Glaubst du, daß seine Reaktion gespielt war?«

»Ich glaube, die Reaktion war echt. Aber das hat nichts zu bedeuten. Er könnte es in einem Anfall von Wahnsinn getan haben und dann wirklich schockiert sein, als er sieht, was er angerichtet hat.«

Decker nickte.

Marge fuhr an sechs Blocks mit Reihenhäusern vorbei und bog dann nach links in den Foothill Boulevard, zurück in die Zivilisation – Imbißbuden, Billigläden und schäbige Apartmenthäuser, bei denen der Putz bereits von der Sonne abblätterte. Nach zwei Blocks schlug sie einen Haken in den Freeway 210 West, der von der Rush-hour-Meute verstopft war. Schweigend kämpften sie sich eine Viertelstunde durch den Stop-and-go-Verkehr. Sobald der Verkehr etwas nachließ, fragte Marge: »Was ist mit Darlene als verdächtige Person?«

»Ihr Haß auf Linda war nicht zu übersehen.«

»Und falls sie es getan hat«, sagte Marge, »würde Byron sie zweifellos schützen wollen. Vielleicht hätte er sogar das Gefühl, den Mord an Linda indirekt verursacht zu haben, wegen seiner Affäre mit ihr.«

»Da steckt eine gewisse Logik drin. Der Aspekt eifersüchtige Ehefrau. Aber kannst du dir Darlene mit einer Schrotflinte vorstellen?«

»Ich hab’ schon seltsamere Dinge erlebt«, sagte Marge.

Das hatte Decker auch. »Weißt du, was mir gerade in den Sinn kam?« fragte er.

»Was?«

»Luke könnte die anderen getötet und dann die Waffe gegen sich selbst gerichtet haben.«

»Am Tatort wurde keine Waffe gefunden, Pete. Außerdem haben wir all diese blutigen Fußabdrücke in der Küche. Wer sollte die gemacht haben, wenn alle tot waren?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht ist jemand nach der Tat in die Küche gekommen und hat die Waffe und Katie mitgenommen.«

»Die Fußabdrücke deuten auf mehr als eine Person hin.«

»Einige Abdrücke stammen sicher von den Opfern«, sagte Decker. »Es könnte jemand in Blut getreten sein, bevor er oder sie erschossen wurde.«

»Okay. Sehen wir uns deine Theorie genauer an. Luke hat erst die anderen umgebracht, dann sich selbst. Ich könnte mir vorstellen, daß Luke Linda ermorden will, wegen ihres Rufs. Aber warum sollte er seine Schwester und den anderen Kerl um die Ecke bringen wollen?«

»Weiß ich nicht. Ich stell’ mir nur die Anordnung vor – Luke auf der einen Seite, die anderen zusammen in der Mitte. Das riecht meiner Meinung nach verdammt nach Luke.«

»Was ist mit den Kleenexfasern, die man an Katie gefunden hat?« fragte Marge. »Das Kind hat sich bestimmt nicht selbst den Schlafanzug abgewischt.«

»Ganz offensichtlich hat sie jemand mitgenommen und auf der anderen Seite des Hügels abgesetzt. Das Kind kann nicht den ganzen Weg allein gelaufen sein.«

»Pete, mir ist gerade was eingefallen. Das Kind könnte die ganze Sache miterlebt haben.«

»Meinst du?« sagte Decker. »Sie schien nicht unter einem Trauma zu stehen. Das hätte sie doch eigentlich, wenn sie gesehen hätte, wie ihre Mutter und ihr Vater so bestialisch umgebracht wurden.«

»Meinst du nicht, wir sollten trotzdem jemand zu Rate ziehen?«

»Klar. Ruf ’nen Seelenklempner für Kinder an und hör mal, was für Weisheiten er uns mitzuteilen hat.«

»Du magst wohl keine Psychologen?« fragte Marge.

»Kein Kommentar.«

Eine Weile herrschte Schweigen, das Marge schließlich brach.

»Unsere Vermutungen bringen nicht viel ohne das ganze Beweismaterial. Wenn Ozzie Crandal die Familie verständigt hat, wird sicher morgen einer von ihnen Katie holen kommen. Ein vorläufiger Laborbericht wird bis dahin auch vorliegen. Crandal wird zudem die unmittelbaren Angehörigen da unten interviewen. Morgen um diese Zeit sollten wir viel mehr wissen.«

»Gute Idee, Detective«, sagte Decker. »Dann fahr’ ich also jetzt nach Hause und versuche das Ganze bis dahin zu vergessen.«

»Erzähl mir, wie dir das gelingt.«

Decker antwortete nicht. Statt dessen dachte er an Rina. Wenn es jemandem gelingen könnte, die häßlichen Bilder von heute vorübergehend zu vertreiben, dann ihr.

 

Er roch bereits verbrannte Kohle, bevor er den Motor des Plymouth abstellte.

Scheiße.

Rina grillte.

Obwohl er total ausgehungert war, bei dem Gedanken an rotes Fleisch – an blutiges rotes Fleisch – drehte sich ihm der Magen um. Er wollte zum Abendessen nichts weiter als eine riesige Schüssel Müsli. Irgendwas, was nicht blutete. Aber er mußte nett, gut gelaunt und begeistert sein, daß sie sich die Mühe gemacht hatte, Hausfrau zu spielen.

Er parkte das Auto in der Einfahrt, stieg aus und rief hallo, während er hinters Haus ging.

Rina kam, die Haare hochgesteckt und mit einem Tuch bedeckt. Ihr Gesicht war ruß verschmiert. Sie wirkte so erdgebunden, so gut, daß er seinen grollenden Magen einen Augenblick vergaß.

»Ich wußte nicht, ob dein Grill parwe oder fleischig ist, deshalb hab’ ich Forellenfilets gekauft. Du magst doch Forelle, oder?«

Fisch, dachte Decker. Gott segne sie. Gegrillte Forellenfilets hörte sich gar nicht so schlecht an.

»Forelle ist genau das richtige.« Er ging zu ihr, küßte sie kurz auf die Lippen und begutachtete das Abendessen. Fünf Filets. Auf dem Grill lagen außerdem zwei knusprig gebratene Kartoffeln. Der Geruch aktivierte seine Speicheldrüsen. »Es ist sowieso zu heiß, um Fleisch zu essen.«

»Das hab’ ich mir auch gedacht.«

Rina hatte eine weiße Papierdecke auf seinen Redwood-Tisch gelegt und mit rotkarierten Papptellern, dazu passenden Servietten und Bechern sowie Plastikbesteck gedeckt. Außerdem standen eine Schüssel Kraut- und eine Schüssel Nudelsalat auf dem Tisch, dazu kam noch ein Korb Baguettebrötchen, eine Platte mit gelben Trauben sowie Kantalupe- und Wassermelonenstücken. In einer Schüssel mit schmelzenden Eiswürfeln lagen mehrere Dosen Cola Light für sie und braune Flaschen Dos Equis für ihn.

»Ich bin gestorben und im Himmel aufgewacht«, sagte er.

Rina lächelte. »Dich kann man aber mit wenig glücklich machen.«

»Das ist genau das, was ich jetzt brauche.«

»Du hättest es kaum besser timen können. Das Essen ist in zwei Minuten fertig. Dusch dich, Peter, und zieh dir was Luftigeres an. Die Sachen, die du jetzt anhast, können doch nicht angenehm sein.«

Er sah auf seinen verknitterten braunen Anzug und stimmte ihr zu. Dann duschte er sich rasch und zog ein Polohemd und Jeans an. Am liebsten hätte er ein T-Shirt und Shorts getragen, aber er wußte, daß Rina einen derart legeren Aufzug beim Essen nicht schätzte. Ein kleines Opfer für ein Essen, das auf ihn wartete. Er befestigte eine Jarmulke auf seinem Kopf und klopfte sich den Magen. Er fühlte sich jetzt so gut, daß es ihm fast gelang, das Elend des Tages beiseite zu schieben.

Als er wieder nach draußen kam, war Rina gerade dabei, die Servierplatte anzurichten.

»Du kannst dich schon waschen, wenn du willst«, sagte sie.

»Ich warte auf dich.«

Rina stellte die Filets auf den Tisch und wischte sich die Hände an einer Serviette ab. »Okay.«

Sie wuschen sich rituell die Hände in einem Eimer, den Rina draußen hingestellt hatte, dann brachen sie das Brot. Rina häufte drei Forellenfilets und reichlich Salat und Obst auf Deckers Pappteller, während er dümmlich grinsend dasaß und dachte, daran könnte ich mich gewöhnen. Nachdem sie ihm ein Bier eingeschenkt hatte, nahm sie sich selbst ein Forellenfilet, eine halbe gebackene Kartoffel und etwas Obst.

»Jetzt weiß ich wieder, warum du so schlank bleibst«, bemerkte Decker. Ihm fiel auf, daß seine Stimme einen leicht lüsternen Unterton hatte. Er schlang sein erstes Filet in drei Bissen hinunter und nahm sich dann Nummer zwei vor. »Aber ich beschwere mich ja gar nicht«, fügte er hinzu. »Um so mehr bleibt für mich übrig. Obwohl ich nichts dagegen hätte, wenn du ein bißchen dicker wärest.«

»Findest du mich zu dünn?« Sie öffnete eine Dose Cola.

»Als ich dich kennenlernte, wirktest du ein bißchen molliger.«

»Da war ich zehn Pfund schwerer.«

»Das hat mich nicht gestört«, sagte Decker. Da war er schon wieder, dieser geile Unterton. Er aß eine Hälfte seiner gebackenen Kartoffel.

Rina spießte lächelnd ein Stück Wassermelone auf. »Soll ich dich fragen, wie’s heute war?«

Decker schüttelte den Kopf.

»Darf ich denn wenigstens fragen, ob ihr die Eltern von dem kleinen Mädchen gefunden habt?«

Decker zuckte zusammen. »Yeah, die haben wir gefunden.«

Seine Stimme klang plötzlich angespannt. »Vergiß es«, sagte Rina. »Vergiß, daß ich gefragt habe.«

Decker trank einen Schluck Bier und fragte dann: »Warst du bei deinen Eltern?«

»Das kannst du auch vergessen«, sagte Rina.

»Soviel zum Thema Konversation«, sagte Decker lachend.

»Ich hab’ dir schon was Interessantes zu erzählen«, sagte Rina.

»Was denn?«

»Ich hab’ heute einen alten Freund von dir kennengelernt.«

»Einen Freund von mir

»Abel Atwater«, sagte Rina.

Decker erstarrte mitten in der Bewegung, versuchte jedoch, seine Stimme normal klingen zu lassen. »Tatsächlich?«

»Yep, wie du sagen würdest.«

»Wie hast du ihn kennengelernt?« Decker senkte seine Gabel.

»Er arbeitete in deiner Scheune, befestigte Bohlen oder so. Er hat erzählt, daß er mit dir bei der Armee war. Ich wußte gar nicht, daß du bei der Armee warst.«

Decker antwortete nicht sofort, sondern stieß die Zunge gegen seine Wangen. Dann fragte er: »Wie lange hast du mit ihm geredet?«

Rina starrte ihn fragend an. Sein Blick war hart geworden. Zuerst glaubte Rina, Eifersucht zu spüren, doch dann kam sie zu dem Schluß, daß es etwas anderes war. »Mann, ich weiß nicht … fünf, zehn Minuten. Ist was nicht in Ordnung?«

»Wie man’s nimmt.« Decker lachte. »Ich weiß nicht. Ich finde es nur irgendwie merkwürdig, daß du dich mit einem Mann unterhältst, den du noch nie gesehen hast – angesichts deiner Erfahrungen mit Männern.«

Rina schwieg erschrocken.

»Ich meine, ganz im Ernst, Honey«, fuhr Decker fort, »dieser Typ hätte Gott weiß wer sein können.«

»Er hat deinen Namen erwähnt, bevor ich …«

»Er kannte also meinen Namen. Na und. Ich bin Polizist. Tausende von Idioten kennen meinen Namen, und einer von denen könnte aus einem ganz persönlichen Grund hierhergekommen sein, und ich verstehe überhaupt nicht, wie, zum Teufel, du dich mit diesem Kerl unterhalten …«

»Peter, ich …«

»Weißt du, was du hättest tun sollen, als du gesehen hast, daß ein fremder Mann in der Scheune war? Du hättest sofort ins Haus laufen, die Tür schließen und mich anrufen sollen. Was, zum Teufel, hast du dir dabei gedacht, als du dich mit diesem Kerl unterhalten hast? Rina, ich hab’ viele üble Männer hinter Gitter gebracht. Es ist zwar unwahrscheinlich, daß einer von denen hier auftaucht, um mit mir abzurechnen, aber nicht undenkbar. Also, solange du nicht weißt, wen du vor dir hast, machst du hier nicht einen auf höfliche Konversation.«

»Peter …«

»Machen wir uns doch nichts vor, Honey. Dein ehemaliger Freund, der versucht hat, dich zu vergewaltigen, dein Arschloch von Schwager – offenbar hast du ein Talent, Verrückte anzuziehen.«

Rina nahm ihre Serviette vom Schoß und schmiß sie auf ihren Teller. »Das spricht ja nicht gerade für dich.«

Sie stürmte ins Haus.

Decker blieb noch einen Augenblick sitzen, um sich zu beruhigen. Nach etwa einer Minute wurde ihm klar, daß er absolut versagt hatte. Er hörte Marges Stimme: Wie läuft’s denn so …

Er rieb sich durchs Gesicht, aß noch ein Stück Forelle. Dann stand er auf und ging ins Haus. Er fand sie im Schlafzimmer, wo sie mit verschränkten Armen auf der roten Steppdecke saß. Sie hatte das Bett gemacht und die Schlafzimmermöbel poliert – als ob sich das lohnen würde. Bloß ein paar knorrige Kiefernbretter, die er zu einer Kommode und zwei Nachttischchen zusammengehauen hatte. Doch sie war ganz beeindruckt gewesen und hatte ihm erklärt, wie talentiert er sei. Die Nachmittagssonne schien durch das Fenster und warf einen hellen Lichtkreis auf die Kommode. Rina hatte das Holz äußerst sorgfältig poliert und so lange gerieben, bis es glänzte. Als er sich neben sie setzte, spürte er ein flaues Gefühl im Magen.

»Es tut mir leid«, sagte er.

Sie stand auf und begann hin- und herzugehen. Sie dachte an das, was ihr damals passiert war, an den Mann, den sie für einen Freund gehalten hatte und der versucht hatte, sie zu vergewaltigen. An die fürchterlichen Nächte, die darauf gefolgt waren, und wie Peter für sie dagewesen war. Seine tröstenden Worte, seine beruhigende Stimme. Jetzt hatte er in einem unbeherrschten Moment ihr Selbstvertrauen zerstört, wie man eine Laufmasche in einen Strumpf reißt.

»Ich kann es nicht glauben, daß du das gerade gesagt hast«, sagte Rina mit erstickter Stimme. »Du hast fast ein ganzes Jahr damit verbracht, mich zu überzeugen, daß … daß … dieser Zwischenfall nicht meine Schuld war, daß das jedem hätte passieren können, daß ich nichts getan hab’, um – du weißt schon wen – zu ermutigen, mich nicht aufreizend verhalten habe … daß der Typ psychisch krank war. Jetzt behauptest du, ich hätte ein Talent, Verrückte anzuziehen.«

»Das hab’ ich nicht gesagt.«

»Das hast du wohl gesagt.«

»Ich hab’s nicht so gemeint.«

»Was hast du denn gemeint?«

Decker dachte einen Augenblick nach. Ihm begann der Kopf zu dröhnen. »Ich hab’ gemeint, daß du jeden Mann anziehst, verrückt oder nicht, weil du so schön bist, und du solltest nicht mit jemandem reden, den du nicht kennst.«

Rina zögerte, dann fragte sie: »Ist Abel denn tatsächlich ein Freund von dir?«

»Ja, aber das konntest du schließlich nicht wissen.«

»Ich wußte allerdings, daß er dich wirklich kannte. Er hat mir Bilder von euch beiden gezeigt. So was kann man nicht fälschen.«

»Was für Bilder?«

»Armeefotos. Das hier hat er mir da gelassen.« Sie fischte es aus ihrer Tasche. »Ich hab’ gesagt, ich würde mir einen Abzug machen lassen und ihm das Original zurückgeben.«

Decker starrte lange auf das Foto. Sein Gesicht war immer noch versteinert. Der kleine Petie Decker mit einem breiten dümmlichen Grinsen, lacht, als ob er zu einer Geburtstagsparty ginge. Bereit zu großen Taten, endlich Action machen. Gott, was für Idiot war er gewesen. Und wenn man sich auch noch vorstellte, daß er sich freiwillig gemeldet hatte. Sein Dad war so stolz auf ihn gewesen … Und Abel sah genauso dämlich aus und verdammt viel gesünder als heute. Decker fragte sich, warum er so ein morbides Erinnerungsstück aus einer längst vergangenen Zeit behalten hatte.

Mit einer schroffen Bewegung warf er das Foto aufs Bett.

»Von mir aus kannst du es verbrennen. Ich hab’ keine Lust, in der Vergangenheit zu leben.«

Er setzte sich hin und begrub sein Gesicht in den Händen. In seinen Schläfen tobte ein ausgewachsener Kopfschmerz. Rina setzte sich neben ihn, steckte das Bild in die Tasche und legte dann einen Arm um seine Schulter.

»Jetzt sind wir beide deprimiert.«

Decker schwieg.

»Schlimme Erinnerungen?« flüsterte Rina.

»Nicht so schlimm wie die von Abel«, sagte Decker.

»Ist er verrückt?«

Decker dachte lange nach. Was hätte es für einen Sinn, ihr zu sagen, daß sie mit einem möglichen Vergewaltiger geplaudert hatte? Dann käme sie sich nur noch dämlicher vor, als sie es vermutlich ohnehin schon tat. Vermutlich würde sie Abel nie wiedersehen. Vermutlich war das nur ein dummer Zufall gewesen. Er war halt aufgetaucht, weil er Deckers Bitte wegzubleiben vergessen hatte. So war Abel eben. Manche Dinge gingen einfach durch ihn durch, obwohl er andererseits ein Gedächtnis wie ein Elefant haben konnte, wenn er wollte. Decker würde ihn morgen anrufen und noch einmal daran erinnern, daß er sich nicht sehen lassen sollte.

Schließlich sagte er: »Er ist bloß einer von diesen unglücklichen Veteranen, die nie wieder den Anschluß an das Zivilleben gefunden haben.« Decker fragte sich, ob er das überhaupt geschafft hatte. Schließlich gab es in der Polizeisprache zwei Klassen von Leuten – Cops und Zivilisten. Er sah Rina an und sagte: »Mir ist nicht wohl dabei, wenn er oder ein anderer Typ sich bei dir rumtreibt, wenn ich nicht da bin.«

»Peter«, sagte Rina, »du hast mich überhaupt nicht ausreden lassen. Ich war nicht so blöd, wie du gemeint hast …«

»Ich halte dich nicht für blöd, Rina. Ich liebe dich nur so sehr, daß ich verrückt werde bei dem Gedanken, dir könnte etwas passieren.«

»Ich bin selbst immer noch nervös, Peter. Du brauchst mir nicht zu sagen, ich soll vorsichtig sein.« Sie hielt einen Augenblick inne, dann sagte sie: »Ich hatte meine Waffe dabei.«

Decker starrte sie an. »Was?«

»Meinen 38er Colt Detective’s Special. Ich hab’ in New York weiter Unterricht genommen.«

»Es ist gesetzwidrig, ohne Genehmigung eine verborgene Waffe zu tragen.«

Rina riß die Augen auf. »Dann verhafte mich doch.«

»Du hast deine Waffe aus New York mitgebracht?«

»In meinem Gepäck.«

»Warum

»Um mich zu schützen. Du tust gerade so, als hätte ich deine Männlichkeit in Frage gestellt.«

»Rina …«

»Ich hab’ genausoviel Angst um mich wie du. Ich dachte, du wärst in der Scheune, und als du es nicht warst, hab’ ich sofort in meine Handtasche gegriffen und die Waffe auf diesen Abel Atwater gerichtet. Und eins kann ich dir sagen. Damit hab’ ich mich wesentlich sicherer gefühlt, als wenn ich ins Haus gelaufen wär’ und die Tür abgeschlossen hätte.«

Decker senkte den Kopf. Zu viele Ereignisse an einem Tag. »Ich wußte nicht, daß du in New York Schießunterricht nimmst«, sagte er.

»Das hab’ ich dir nicht erzählt, weil ich wußte, daß du dich darüber aufregen würdest. Ich weiß ja, wie du zu Waffen stehst, aber offen gesagt, ich werde auch künftig nicht mehr ohne Waffe aus dem Haus gehen. Also, warum hilfst du mir nicht und besorgst mir endlich die Genehmigung dazu, worum ich dich schon vor fast einem Jahr gebeten hab’?«

»Das ist nicht so einfach.«

»Also bitte! Du könntest doch deine Beziehungen spielen lassen, wenn du nur wolltest.«

»Ganz ehrlich, Rina, das kann ich nicht. Und wozu brauchst du überhaupt eine Waffe, wenn ich da bin?«

»Denk doch nur mal an heute nachmittag«, sagte Rina. »Du bist nicht immer da. Und so, wie ich deine Arbeitszeiten von früher kenne, wirst du sehr oft nicht da sein, Punkt. Aber ich beklage mich ja nicht. Es macht mir nichts aus, allein zu sein. Ich bin jetzt schon mehr als drei Jahre allein. Im übrigen muß ich an meine Söhne denken, Peter. Ich werde eine Waffe tragen, mit oder ohne Genehmigung, und du wirst mich nicht daran hindern.«

»Ich kann dir keine Genehmigung besorgen«, beharrte Decker. »Ich glaube, die letzte, die an einen Zivilisten ausgegeben wurde, war in den sechziger Jahren an Sammy Davis, Jr.«

»Dann verstoße ich halt gegen das Gesetz«, sagte Rina. »Damit kann ich leben.«

Großartig, dachte er. Er konnte mit seiner eigenen Frau nicht fertig werden; wie konnte er annehmen, mit Verbrechern fertig zu werden? Laß das Thema fallen. Bring es bei einer günstigeren Gelegenheit noch mal zur Sprache. Eine Weile saßen sie schweigend da. Schließlich fragte Decker: »Worüber hast du dich denn mit Abel unterhalten?«

»Wir waren uns darin einig, daß du verschwiegen bist.«

Decker sagte nichts.

»So wie jetzt«, sagte Rina. »Peter, warum hast du mir nie erzählt, daß du bei der Armee warst?«

»Ich hab’ es dir nicht bewußt verschwiegen, Rina. Du hast halt nie danach gefragt, und ich rede nicht gern darüber.«

»Abel sagte, du wärst Sanitäter gewesen.«

»Ja«, sagte Decker. »Was willst du sonst noch wissen?«

Rina zögerte einen Augenblick, weil ihr klar wurde, wie grausam es war, ihn etwas so Häßliches noch einmal durchleben zu lassen, nur um ihre Neugier zu befriedigen. Dann lächelte sie und sagte: »Gut. Du könntest mir Mund-zu-Mund-Beatmung beibringen.«

Decker hob den Kopf, und seine Lippen verzogen sich zu einem Grinsen. »Wenn du willst, können wir gleich anfangen.«

Rina wurde rot. »Was ist mit den Forellen?«

»Die sind mittlerweile kalt.« Decker schleuderte seine Schuhe von sich und sagte: »Man sollte Mund-zu-Mund-Beatmung nicht mit Schuhen machen.«

»Das hab’ ich ja noch nie gehört«, sagte Rina.

»Ist aber so.« Er nahm ihr das Tuch ab und zog die Klammern aus ihrem Haar. Eine Woge schwarzer Seide fiel über ihren Rücken. »Und es ist ganz schlecht, Mund-zu-Mund-Beatmung mit Klammern im Haar zu machen. Könnte dem Opfer eine in den Mund geraten.«

»Lauter Kleinigkeiten, an die man denken muß.«

Decker hielt das Tuch hoch und sagte: »Wie ich sehe, bedeckst du dir wieder die Haare.«

»Ich fühle mich wieder ein bißchen religiöser.«

Decker lächelte. »Das ist gut.«

Sie lächelte zurück. »Ich dachte, du magst es nicht, wenn ich so religiös bin.«

»Rina, ich liebe dich, so wie du bist.«

Plötzlich spürte Rina einen Druck an ihrer Kehle. Sie berührte seine Wange, dann legte sie ihre Hand um seinen Hals und zog seinen Mund an ihren. Er legte sie vorsichtig auf den Rücken, während er sie küßte, sie förmlich in sich sog.

»Das ist keine Mund-zu-Mund-Beatmung«, sagte Decker einen Augenblick später.

»Ich weiß.«