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Marge Dunn kam laut summend ins Dienstzimmer der Detectives. Ihre gute Laune erhielt sofort einen Dämpfer, als Paul MacPherson bei ihrem Anblick aufstöhnte und spöttisch grinste. Sie runzelte die Stirn und strich sich einige blonde Haarsträhnen aus den großen rehbraunen Augen. Marge war eine große, kräftige Frau, hart, wenn es sein mußte, aber sie hatte keine Lust, sich am frühen Morgen schon zu ärgern.
»Was hast du denn schon wieder?« fragte sie ihn.
»Man pfeift nicht schon um sieben Uhr morgens«, antwortete MacPherson. »Das gehört sich nicht.«
Marge seufzte. MacPherson war der einzige schwarze Detective in Foothill und wurde von allen beobachtet. Ständig stand er unter dem Zwang, sich zu beweisen. Und dauernd den Supercop spielen zu müssen, zehrte ganz schön an ihm. Marge konnte das verstehen. Als einziger weiblicher Detective hier zu arbeiten war auch nicht gerade ein Zuckerschlecken. MacPherson war ein Arbeitstier. Das war zwar vorteilhaft für seinen Job, brachte aber auch Probleme mit sich. Er war außerdem ständig auf Streife.
»Warst du die ganze Nacht unterwegs, Paulie?«
»’ne Bandenschießerei um zwei Uhr morgens, und da dieser Stinker von Fordebrand gerad’ auf Maui ist, rat mal, wer den Anruf gekriegt hat? Zwei tote Brüder und ein sechsjähriges Mädchen mit ’ner Kugel im Gehirn auf der Intensivstation – stand heute morgen in den Schlagzeilen, Marjorie. Liest du keine Zeitung?«
»Wenn ich’s irgendwie vermeiden kann«, antwortete Marge. »Mein lieber Paul, du bist so blaß, daß du schon fast weiß aussiehst. Geh nach Haus und schlaf ein bißchen.«
»›Schlafen, vielleicht auch träumen …‹« Paul zog die Augenbrauen hoch. »Ich hab’ eben meine Abokarten für das Globe Theater in San Diego bekommen. Die erste Aufführung ist Ende gut, alles gut. Komm mit mir, meine Süße, und ich verspreche dir ein unvergleichliches Erlebnis.«
»Passe.«
»Na komm schon, Marjorie«, sagte Paul. »Tu dir mal ein bißchen Kultur an.«
»Ich habe Kultur.« Sie griff in den Schreibtisch und nahm ihr Flötenetui heraus. »Das ist Kultur.«
»Kulturen braucht man zum Yoghurt machen«, sagte Mike Hollander, der gerade hereingepoltert kam. Er machte es sich mit seinem dicken Hintern auf einem Stuhl bequem und nahm einen Stapel Papiere aus der Schreibtischschublade.
»Guten Morgen, Michael«, sagte Marge. »Hast du die Einladung zu meinem nächsten Konzert bekommen?«
Hollander zog an seinen langen Schnurrbartenden und lächelte sie gequält an. »Mary und ich werden da sein.«
Marge gab ihm einen Klaps auf die Glatze. »Dafür bring’ ich dir ’nen Kaffee.«
Hollander lächelte, diesmal aufrichtig. »Kannst du mir den alten Berliner da rüberschmeißen. Den scheint keiner mehr zu wollen.«
»Klar doch.« Sie zielte und warf ihm den Berliner zu. Hollander fing ihn mit der rechten Hand.
»Du gehst tatsächlich zu ihrem Konzert«, sagte MacPherson.
Hollander flüsterte: »Was tut man nicht alles für Freunde.«
»Du bist ein Arschloch«, sagte MacPherson. »Du gehst hin und hörst dir ihr Gequietsche an. Was bringt das denn?«
»Es macht sie glücklich«, sagte Hollander.
»Macht sie glücklich? Ich kann es nicht fassen, Michael, daß du so was sagst.«
»Ich hab’s gehört, Paul«, sagte Marge.
»Mea culpa, Madam«, sagte MacPherson. »Ich bitte um Entschuldigung. Ich streite mich nämlich nicht mit Frauen, die fünfundzwanzig Pfund mehr wiegen als ich.«
»Zwanzig«, sagte Marge. »Seit ich mich von Carroll getrennt hab’, hab’ ich ein bißchen abgenommen. Gott, was konnte der Kerl essen. Mir ist nie bewußt gewesen, wie viel wir zwei zusammen gefressen haben.« Sie ging zur Kaffeemaschine und schenkte zwei Portionen ein, eine in ihren schlichten Becher, die andere in den von Hollander – eine Keramiktasse mit zwei dreidimensionalen Brüsten, deren Warzen leuchtend rosa bemalt waren.
»Bist du mit dem Schreibkram fertig, Paulie?« fragte Hollander. »Scheiße, das muß ja übel gewesen sein.«
»Die toten Brüder sind mir scheißegal. Die beiden Ganoven waren eh der letzte Dreck. Das mit der kleinen Schwester geht mir an die Nieren.«
»Ist sie ins Kreuzfeuer geraten?« fragte Marge, während sie Hollander die Tasse reichte.
MacPherson schüttelte den Kopf. »Das muß man sich mal vorstellen. Sie hat versucht, ihren älteren Bruder zu schützen, diesen Ganoven. So ein süßes kleines Ding. Eine Schande!«
»Wo ist Decker?« fragte Hollander. »Der ist heute morgen aber spät dran.«
»Er hat heute freigenommen«, sagte Marge.
»Ach ja, richtig«, sagte Hollander. »Er hat erzählt, daß er sich mit ’nem alten Armeekumpel trifft, der in der Klemme sitzt.«
Darauf MacPherson: »Rabbi Pete ist oben und betreibt gerade Unzucht mit einer Minderjährigen.«
Marge lächelte und nippte an ihrem Kaffee.
»Ich verarsch’ euch nicht«, fuhr MacPherson fort. »Er ist im Schlafraum und liegt mit einem knapp zweijährigen Mädchen im Bett. Du solltest ihn lieber mal wecken, Margie. Wenn irgendein dämlicher Sozialarbeiter ihn mit der Kleinen sieht, hat der arme Pete ’ne Anzeige wegen sexuellem Mißbrauch am Hals.«
»Was ist denn passiert?« fragte Marge.
»Der Rabbi hat das Kind gegen ein Uhr heut’ morgen in dieser neuen Siedlung auf der Straße herumspazieren sehen. Da hat er es mit hergebracht.«
»Welche Siedlung?« fragte Hollander. »Da sind in letzter Zeit einige aus dem Boden geschossen. Die Arschlöcher manipulieren an den Wahlbezirksgrenzen herum, und plötzlich kommen all diese reichen Bubis hierher und bauen alles zu.«
»Manfred und Co«, sagte MacPherson. »Du weißt schon. Da, wo alle Straßen nach Bäumen oder Staaten heißen.«
»Oberhalb von der alten Kalkgrube«, sagte Marge.
»Genau«, antwortete MacPherson.
»Hat Decker schon bei der Meldestelle angerufen?« fragte Hollander.
»Nope«, sagte MacPherson. »War noch zu früh. Er hat bloß die nötigen Formulare ausgefüllt und die Kleine in Schutzhaft genommen. Ist vermutlich aus dem Bettchen geklettert und durch die Hundetür abgehauen. Pete hofft, daß jeden Moment ein Anruf von den verzweifelten Eltern reinkommt.«
»Ich geh’ ihn wecken«, sagte Marge und stellte ihre Tasse auf den Schreibtisch. »Laß dir deinen Kaffee gut schmecken, Michael.«
»Danke. Näher komm’ ich heut’ morgen wohl an keine Titten mehr ran«, entgegnete Hollander.
Marge verließ das Büro und ging in den Aufnahmebereich. Ein Hispanic mittleren Alters stand gestikulierend vor dem diensthabenden Polizisten. Er war spindeldürr, sein Gesicht von der Sonne zerfurcht. Der Sergeant wirkte gelangweilt. Er hatte sein Kinn in die Hand gestützt und sah über den Kopf des Hispanic zu Marge.
»Yo, Detective Dunn.«
Marge winkte ihm zu. »Sergeant Collins.«
»Ist Sergeant Decker da? Ich brauch’ jemand, der Spanisch kann.«
»Ich such’ Ihnen jemand Zweisprachiges, Sarge«, sagte Marge.
»Danke.« Collins wandte sich dem Hispanic zu. »Setzen, Junge. Da drüben.« Er zeigte auf eine Bank an der Wand. Dort saß bereits ein Motorradfahrer mit kräftigen Armen, die von den vielen Tätowierungen ganz blau waren, sowie daneben ein zierliches Mädchen mit strähnigen Haaren. »Da, da!«
Marge sagte: »Sientese aquí, por favor.«
Der Mann ließ einen spanischen Wortschwall auf Marge los.
»No hablo Español«, sagte Marge. »Warten Sie. Un momento. Sientese. Auf die Bank.«
Der Hispanic nickte verstehend und setzte sich zwischen die Frau und den Motorradfahrer.
»Diese Schwachköpfe da drüben sprechen mehr Spanisch als Englisch«, sagte Collins.
»Wo waren Sie denn vorher, Sarge?«
»Southeast. Fünf Jahre war ich in dem Saustall. Da sprechen sie allerdings auch kein Englisch. Nur fließend Niggerslang.«
»Die meisten Leute hier in der Gegend arbeiten ziemlich hart«, sagte Marge.
»Yeah. Bis sie ihre Papiere kriegen und Sozialhilfe beantragen. Amerika ist offenbar das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, sofern man nicht Amerikaner ist.«
Marge lächelte und machte sich rasch aus dem Staub. Collins war erst seit einer Woche bei ihnen im Revier, und schon meckerte und stöhnte der Kerl die ganze Zeit. Vermutlich haßte er auch Frauen. Marge tat ihn mit einem Schulterzucken ab. Fünf Jahre in Southeast konnten einen sicher ganz schön fertigmachen.
Sie stieg die Metalltreppe hinauf und öffnete die Tür zum Schlafraum.
Decker schlief nicht. Er rang mit dem Kind auf dem Boden und versuchte, ihm die Windel zu wechseln. So wie es aussah, war das Kind im Vorteil. Der große rothaarige Mann war derart in sein Martyrium vertieft, daß er noch nicht mal hörte, wie die Tür aufging.
»Na komm schon, Kiddo«, sagte Decker. »Nur noch eine Sekunde – nein. Nein, laß das. Halt doch still. Scheiße. Verzeihung. Halt doch einmal …«
Das Kind trat mit aller Kraft mit den Beinen.
»Zufrieden? Jetzt hast du dir schon wieder die Windel heruntergerissen.«
Decker kitzelte die Kleine an den Rippen. Sie quietschte vor Vergnügen.
»Kitzlig, was?« Decker kitzelte sie noch einmal. Sie lachte schallend. »Jetzt hör mal, Freundchen. Das mein’ ich ganz im Ernst. Ich muß das irgendwie festkriegen. Nur noch diese – diese verdammte Schlaufe – diese Schlaufe da …«
Das kleine Mädchen riß sich die Windel herunter und lächelte ihn zufrieden an.
»Gott, bist du quirlig.« Dann nach kurzer Pause: »Aber trotzdem süß. Hast du Hunger?«
»Hunge«, wiederholte das Kind.
»Wie wär’s denn, wenn wir erst die Windel anlegen? Dann besorgt dir Onkel Pete etwas Milch, während ich versuche, mit ’ner Tasse Kaffee wach zu werden.«
»Heiß«, sagte das Kind.
»Was ist heiß?«
»Heiß.«
»Hast du dich irgendwo verbrannt?« Decker sah sich um und faßte auf den Boden. »Ich fühl’ nichts Heißes.«
Das Baby lächelte wieder.
»Ja, wenn Onkel Pete nicht bald ’nen Kaffee kriegt, fällt er auf der Stelle um.«
»Heiß«, wiederholte das Kind.
»Was ist heiß?« fragte Decker genervt.
»Vielleicht meint sie, daß Kaffee heiß ist«, schlug Marge vor.
Decker fuhr mit dem Kopf herum.
»Wie lange stehst du schon da?« fragte er.
»Ungefähr ’ne Minute.«
»Du willst mir doch nicht etwa helfen?«
»Du machst das sehr gut, Pete.«
»Gib mir noch ’ne Windel«, sagte Decker. »Sie reißt sie immer wieder runter. Ich denke, man kann sie bald dazu bringen, aufs Töpfchen zu gehen.«
»Erzähl das ihrer Mutter, wenn sie sie abholen kommt«, sagte Marge und warf ihm eine neue Windel zu.
Mit verbissenem Gesicht legte Decker dem Kind die Windel an, dann nahm er es auf den Arm. »Das ist Tante Margie, Süße. Sag hallo.«
»Hallo, du da«, sagte Marge und streckte die Arme nach dem Kind aus. Das Mädchen sprang ihr fast in die Arme. »Du bist aber ein freundliches kleines Ding.« Sie lächelte das Baby an, dann schaute sie zu Decker.
»Was beschäftigt dich, Kumpel? Du guckst so zweifelnd.«
»Wie spät ist es?« fragte Decker.
»Gegen halb acht, würd’ ich sagen.«
»Sind schon irgendwelche Anrufe wegen eines vermißten Kindes gekommen?«
»Nicht daß ich wüßte … Es ist noch früh, Pete.«
»Als Cindy in dem Alter war, war sie jeden Morgen um sechs Uhr wach. Daran kann ich mich so gut erinnern, weil ich derjenige war, der mit ihr aufgestanden ist. Um diese Zeit sollte eine Mutter doch gemerkt haben, daß ihr Kind verschwunden ist.«
»Kinder sind völlig unterschiedlich. Mein Neffe hat immer bis neun geschlafen. Sämtliche Freundinnen meiner Schwester waren grün vor Neid.«
»Das beweist ja nur meine These«, sagte Decker. »Die meisten Kinder sind eben keine Langschläfer.«
»Aber das hier vielleicht doch.«
Decker antwortete nicht.
»Was liegt dir sonst noch quer im Magen?« fragte Marge.
»Als ich sie fand, hatte sie einen Schlafanzug an, Margie. Den hab’ ich eingetütet. Da war nämlich relativ frisches Blut dran.«
»Viel?«
»Mehr als vom Nasenbluten. Und offenbar stammte es nicht von dem Kind. Es hat keinerlei Verletzungen am Körper, nur ein bißchen Ausschlag an beiden Armen.«
»Blut an einem Kinderpyjama ist allerdings ungewöhnlich«, gab Marge zu. »Das gefällt mir auch nicht.«
Einen Augenblick herrschte Schweigen, das dann von Marge gebrochen wurde.
»Glaubst du, daß seine Mutter umgebracht wurde?«
»Vielleicht Selbstmord«, gab Decker zu bedenken. »Das Kind ist offenbar gut versorgt worden. Keine äußerlichen Zeichen von Mißhandlung. Ich werd’ wohl bis neun warten. Wenn bis dahin niemand angerufen hat, klappern wir die Häuser ab, wo ich die Kleine letzte Nacht gefunden hab’.«
»MacPherson hat erzählt, sie wär’ in dieser neuen Siedlung herumspaziert, da oberhalb von der Kalkgrube.«
»Yep. Das neueste Manfred-Projekt – ein paar hundert Häuser. Sieht nach reichlich Arbeit aus.«
»Du hast heute doch frei«, sagte Marge.
»Jetzt nicht mehr«, sagte Decker. »Ist schon in Ordnung. Es macht mir nichts aus, wenn ich was für die Kleine tun kann. Nur am Nachmittag brauch’ ich ein paar Stunden für mich. Tu mir einen Gefallen, Margie. Besorg dem Kind etwas Saft und Brot oder sonstwas. Es muß völlig ausgehungert sein.«
»Klar. Brauchst du Hilfe beim Klinkenputzen?«
»Du hast meine Gedanken gelesen.« Decker griff nach seinen Zigaretten, doch dann zog er die Hand zurück. »Wie spät ist es jetzt? Acht?«
»Viertel vor.«
»Ich würd’ mich gern noch ’ne Stunde aufs Ohr legen, bevor wir anfangen, uns mit den guten Leutchen zu unterhalten, wenn’s dir recht ist.«
»Tu das. Vielleicht hat sich bis dahin ja alles durch einen verzweifelten Anruf geklärt.«
»Nichts wär’ mir lieber als das. Aber ich bin nicht allzu optimistisch.«
»Soll ich eine Beschreibung von ihr in den Computer geben?« fragte Marge.
»Das wär’ noch ein bißchen verfrüht«, sagte Decker. »Mach doch einfach ein paar Polaroid-Aufnahmen von ihr, die wir rumzeigen können. Und wenn du’s schaffst, nimm ihr auch Fußabdrücke ab. Vielleicht passen die ja in irgendwelchen Krankenhausunterlagen zu einem Neugeborenen.«
»Soll ich bei der Meldestelle anrufen?«
Decker runzelte die Stirn. »Yeah, ich glaub’, das sollte man machen. Wenn sich niemand meldet, müssen wir sie ja irgendwo hinbringen.«
»Ich ruf Richard Lui in der MacClaren Hall an. Das ist ein netter Typ, und er hat erstklassige Verbindungen zu guten Pflegefamilien. Hab’ ich dir erzählt, daß ich mal mit ihm gegangen bin?«
»War das vor oder nach Carroll?«
»Nach Carroll, vor Kevin. Es hat zwar nicht allzulange gehalten, aber wir haben uns doch so gut verstanden, daß er mir immer noch mal ’nen Gefallen tut.«
»Dann nutz das aus, Frau. Sag ihm, er soll Sophi Rawlings anrufen. Sie ist großartig, und sie wohnt zufällig in der Gegend. Meines Wissens ist sie befugt, schon so kleine Kinder aufzunehmen. Wenn du deinen ganzen Charme zusammenkratzt, dann können wir vielleicht MacLaren Hall ganz umgehen und sie direkt zu Sophi bringen.«
»Kein Problem. Richard ist verrückt nach mir.« Marge lächelte das kleine Mädchen an und sagte: »Jetzt besorgen wir dir was zu futtern, Honey.«
»Honig!« rief das Kind.
Marge lachte. »Du bist vielleicht was Süßes.«
»Honig!« wiederholte das Kind.
Decker wartete bis Marge mit dem Kind das Zimmer verlassen hatte, dann ließ er sich ins Bett fallen. Mit einem Lächeln auf den Lippen schlief er ein. Er träumte von Rina – von längst vergangenen schönen Tagen, die hoffentlich bald wiederkehren würden.