13
Decker saß zusammengesunken auf dem Rücksitz und rauchte eine Zigarette. Er hatte Jacke und Krawatte ausgezogen und die Hemdsärmel bis zu den Ellbogen hochgerollt. Seine Füße baumelten über die Lehne des Fahrersitzes. Alle Fenster des Plymouth waren heruntergekurbelt und die Türen sperrangelweit aufgestoßen. Heißer Tabakqualm mischte sich mit Staub, und sein Mund fühlte sich völlig ausgetrocknet an. Er starrte nach draußen zu Marge, sah, wie ihr der Schweiß von der Stirn triefte, und fragte sich, ob er sie mal ablösen sollte oder ob sie über ein solches Angebot beleidigt wäre. Dann beschloß er achselzuckend, daß sie schon um Hilfe bitten würde, falls sie welche brauchte. Sie redete beruhigend auf Byron Howard ein und versuchte, ihn ins Auto zu bekommen, damit er am Boden nichts durcheinanderbrachte, falls dieser Zentimeter für Zentimeter nach Spuren abgesucht werden müßte. Doch der kahlköpfige Mann hörte nicht auf sie, sondern lief hin und her, als ob er etwas zu verbergen hätte.
Zehn Minuten später hörte Decker Reifen auf dem Schotter knirschen. Durch das Heckfenster sah er ein schwarz-weißes Auto des County Sheriff und einen weißen Kastenwagen des Kriminallabors hinter dem Plymouth halten. Der Fahrer des Streifenwagens öffnete die Tür, stieg aus und streckte sich. Er schien Mitte Sechzig zu sein – ein korpulenter Mann mit einem bleistiftdünnen Schnurrbart, Hängebacken und bleicher Gesichtsfarbe. Sein dünnes weißes Haar war zur Seite gekämmt, um ein kahles Stück rosa Kopfhaut zu verdecken. Er trug die typischen Detective-Klamotten – kurzärmeliges, weißes Hemd, Krawatte mit Klammer, marineblaue Hose und schwarze geschnürte Halbschuhe. Er schlenderte zu dem Van, klopfte ans Fenster und forderte die Männer aus dem Labor mit einer Handbewegung auf auszusteigen.
Die beiden Techniker waren jung – ein Asiat mit Bürstenschnitt und ein lockenköpfiger Rothaariger mit Akne und Sommersprossen. Beide trugen lange weiße Kittel und schwitzten in der Hitze. Langsam schwang Decker die Beine aus dem Auto, stieg aus und schloß sich der Gruppe an.
Der Sheriff Detective schüttelte Decker die Hand und stellte sich als Ozzie Crandal vor. »Ich war gerade unterwegs, als die Funkzentrale die Meldung durchgab. Genauer gesagt, ich war in der Mittagspause. Hört sich an, als hätten wir da drinnen ein ganz schönes Chaos.«
Decker stellte sich ebenfalls vor und sagte, »Chaos« sei stark untertrieben, man hätte es nämlich mit einem vierfachen Mord zu tun.
Crandal biß sich auf die Lippen. »Wieso hat LAPD die Meldung überhaupt gehört?«
»Der Fall begann in meinem Revier gleich auf der anderen Seite des Bergs. Bei Nachforschungen sind meine Partnerin und ich dann über das hier gestolpert.«
»Wer ist Ihre Partnerin?«
»Detective Dunn, die Frau, die sich gerade mit dem kahlköpfigen Mann unterhält.«
Crandal berührte seinen Scheitel und sagte: »Zeugen?«
»Soweit ich weiß, keine. Er ist ein Nachbar – Byron Howard ist sein Name.« Dann wandte sich Decker an die Techniker. »Detective Dunn wird Sie beide nach drinnen bringen. Es stinkt bestialisch. Nehmen Sie reichlich VapoRub.«
Der Asiat lächelte und zeigte große, viereckige Zähne. Auf seinem Namensschild stand Tommy Chin. »Ich lieben Herausforderung.« Er sprach mit abgehackter Stimme. »Nahrung für Gehirn.«
Der Rothaarige verdrehte die Augen und zog seinen Partner am Kittelärmel zu Marge. Decker beobachtete, wie die drei ins Haus gingen. Dann fragte er Crandal, ob er sich die Mordopfer ansehen wolle.
Crandal ignorierte die Frage und sagte: »Sie und Ihre Partnerin gehören also eigentlich gar nicht zur Mordkommission?«
»Nope«, sagte Decker. »Jugendkriminalität und Sexualdelikte.«
»Aber Sie haben das Kind im Zuständigkeitsbereich von Foothill gefunden.«
»Ja«, antwortete Decker. »In der neuesten Manfred-Siedlung gleich auf der anderen Seite vom Hügel.«
»Wer ist Manfred?« fragte Crandal.
»Ein Bauunternehmen. Die haben in unserem Bezirk sehr viel gebaut.«
Crandal zeichnete mit der Spitze seines Schuhs eine Linie auf den Boden. »Wenn Sie wollen, können wir gemeinsam ermitteln – uns den Schreibkram teilen.«
Blödsinn, dachte Decker. Eine gemeinsame Ermittlung bedeutete normalerweise doppelte Schreibarbeit und daß die Leute sich dauernd gegenseitig auf die Hühneraugen traten. Doch nach nur kurzem Zögern nickte er zustimmend. Ihm ging Katies Gesicht nicht aus dem Kopf, ihr perlendes Lachen, und wie sie mit krausgezogener Nase lächelte. Und Howard Byron, der Linda, Linda, Linda … schluchzte.
Verdammt, eine dieser Frauen war die Mutter der Kleinen.
Tommy, der Asiat, kam aus dem Haus gerannt, auf Decker und Crandal zu. Er hielt sich ein Taschentuch vor Nase und Mund und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Wir haben ein echtes Problem da drinnen.«
»Was?« fragte Decker.
»Das sehn Sie sich besser selbst an«, sagte Tommy. »Arnie ist noch drin. Weiß nicht, was er machen soll. Ist wirklich schlimm. Besonders wenn man allergisch ist.« Er stieß ein Lachen aus, das sich wie eine Maschinengewehrsalve anhörte.
Decker zog die Schuhe aus und erklärte Crandal, daß es drinnen zwei verschiedene Sorten Fußabdrücke gäbe, und je weniger Durcheinander die Spurensicherung hätte, desto besser. Er führte Crandal zum Haus und reichte ihm am Eingang das VapoRub. Dann gingen sie hinein.
Die Zeit hatte nichts dazu beigetragen, den schrecklichen Anblick zu mildern. Decker spürte, wie sich ihm angesichts des Haufens von aufgedunsenem Fleisch in der Mitte und des beinlosen Mannes am Kühlschrank erneut der Magen hob. Jede Menge Blut, durchsetzt mit Milch und Honig. Die Insekten, besonders die Maden, schienen sich in nur einer halben Stunde vervielfacht zu haben. Durch die Hitze wurde alles beschleunigt. Marge skizzierte gerade die Anordnung der Küche auf ihrem Notizblock. Sie versuchte gleichzeitig zu zeichnen, den Block nicht fallen zu lassen und sich die Nase zuzuhalten. Arnie, der zweite Labormann, kratzte gerade etwas Blut von einem Schrank und tat es auf einen Objektträger aus Glas.
»Ich halt’ das nicht mehr lange aus«, sagte er. »Von Bienenstichen war in der Jobbeschreibung nicht die Rede.«
»Ich hab’ ja schon Leichen voller Käfer, Ameisen und sogar Würmer gesehen«, sagte Tommy. »Die legen Eier in die Öffnungen – Nase, Augen, Ohren. Aber noch nie so viele Bienen. Ich nehm’ ein paar zur Untersuchung mit, auch ein paar lebendige. Aber der Rest ist nur Hintergrund. Die werden nämlich wütend, wenn wir versuchen, unsere Arbeit zu machen.«
»Und sie fressen die Spuren auf«, fügte Arnie hinzu.
»Geben Sie uns eine Minute Zeit, um zu entscheiden, was wir machen wollen«, sagte Decker. »Könnten Sie inzwischen Blutproben von den Leichen nehmen? Ich muß feststellen, ob sie mit dem Blut übereinstimmen, das wir am Schlafanzug des kleinen Mädchens gefunden haben.«
»Klar kann ich Ihnen Blut besorgen«, antwortete Tommy. »Wieviel brauchen Sie? Ein Reagenzglas voll? ’nen Liter? ’ne Gallone? Die hier brauchen keins mehr.« Wieder dieses Lachen.
»So viel, wie das Labor für die Tests braucht, Tommy«, sagte Decker.
»Kein Problem.« Tommy machte sich wieder an die Arbeit.
Arnie schlug sich auf den Arm. »So kann ich nicht arbeiten.«
Decker bat sie, sich noch einen Augenblick zu gedulden, und winkte Marge und Crandal nach draußen. Dort erklärte er Crandal, daß Byron Howard Spezialist für Bienen sei.
»Ich wette, der kann uns helfen, die Viecher loszuwerden«, sagte Decker.
»Vorher sollte er sich die Leichen ansehen und versuchen, sie zu identifizieren«, sagte Marge. »Wer weiß, wie die Leichname aussehen, wenn die Viecher endlich weg sind. Bei der Hitze und so aufgedunsen, wie sie schon sind, erleben wir sie jetzt vielleicht gerade in Bestform.«
»Eine schaurige Vorstellung«, sagte Crandal.
»So wie Byron drinnen gejammert hat, müßte eine der Frauen Linda Darcy sein. Und die anderen?« Decker zuckte mit den Schultern.
»Gehn wir Byron fragen«, sagte Marge.
Crandal wischte sich die Stirn und sagte, er wolle sich draußen ein wenig umsehen. Als Marge ihn fragte, ob er seinen Notizblock brauche, sah er sie verärgert an und erklärte, daß er ihn aus dem Wagen holen würde. Doch Marge bemerkte, daß er in eine andere Richtung ging.
Während er mit Marge auf Byron zuging, wurde Decker bewußt, wie langsam sie sich bewegten, wie ausgelaugt sie waren. Die Sonne stand direkt über ihnen, der Himmel war wolkenlos und tiefblau. Die erbarmungslose Hitze und die durchdringenden Gerüche raubten ihnen allen die Energie. Decker fragte Byron, wie er sich fühle. Der kahlköpfige Mann war aschfahl.
»Kann ich jetzt nach Hause?« fragte Byron.
»Rein rechtlich gibt es keinen Grund, warum nicht«, sagte Decker. »Allerdings möchten wir Sie um ein paar Gefallen bitten.«
»Was denn?« fragte Byron.
»Zunächst mal sollte jetzt jemand für uns die Leichen identifizieren – bevor sie noch schlimmer verwest sind …«
Byron antwortete nicht. Decker legte eine Hand auf die breite Schulter des Bienenzüchters, doch Byron schüttelte sie ab.
»Mr. Howard, ich weiß, daß das furchtbar ist«, sagte Marge, »aber wir sind auf Ihre Hilfe angewiesen …«
»Ein paar Gefallen«, unterbrach Byron und sah Decker an. »Sie haben gesagt, ein paar Gefallen. Was noch?«
Decker fächelte sich mit dem Handrücken Luft zu und sagte: »Von uns kennt sich keiner mit Bienen aus. Wir müssen die Bienen von den Leichen kriegen …«
»Und die Wespen«, korrigierte ihn Byron. »Ein Teil sind Bienen, aber es sind auch Wespen dabei … sie fressen … stechen … Fleisch … ich muß mich setzen.«
»Natürlich.« Decker steuerte ihn zum Plymouth und half ihm auf den Rücksitz. Er und Marge setzten sich zu beiden Seiten des Imkers, nicht zu dicht, aber nah genug, daß sie Byron wissen ließen, was von ihm erwartet wurde.
»Geht’s so einigermaßen?« fragte Decker.
Byron schüttelte den Kopf. »Ich muß zu meiner Farm zurück. Darlene wird wütend, wenn ich so lange wegbleibe.«
»Aber nicht, wenn sie den Grund erfährt«, sagte Marge.
»Doch, Sir, Miss Detective. Sie kennen Darlene nicht.«
»Mr. Howard …«, sagte Decker.
»Sie können mich ruhig Byron nennen. Was soll der ganze Formkram.«
»Byron, wir brauchen Hilfe«, sagte Decker. »Wie kriegen wir diese Bienen los … und die Wespen?«
»Einräuchern, würd’ ich sagen. Rauch verwirrt Bienen, dann kann man leicht mit ihnen umgehen. Ein paar mögen zwar immer noch störrisch sein, aber die meisten können sie einfach wegwischen, in einen Karton oder ein paar Bienenstöcke. Die Wespen … bei denen funktioniert Rauch manchmal nicht. Aber man kann’s immerhin versuchen.«
»Haben Sie Spezialanzüge für den Umgang mit Bienen?« fragte Marge. »Die Sie unseren Technikern vielleicht leihen könnten?«
»Auf der Farm hab’ ich ein paar Bienenschleier und Handschuhe. Nehmen Sie sich, was Sie brauchen. Und dann tun Sie mir einen Gefallen und kommen mir nie mehr unter die Augen!« Er schüttelte noch einmal den Kopf. Diesmal rutschte ihm ein »O Gott« heraus.
»Ich fahr’ Sie nach Hause«, sagte Marge. »Dort holen wir die Schleier, Handschuhe und was zum Räuchern, und Sie zeigen uns, wie man die Sachen benutzt.«
Byron antwortete nicht sofort, doch als Decker ihn drängte, stimmte der Imker schließlich zu. »Darlene wird bestimmt mitkommen wollen«, fügte er hinzu.
»Überlassen Sie Ihre Frau mir«, sagte Marge. »Sie kümmern sich um die Bienen … und die Identifikation der Leichen, Byron.«
»Erst die Leichen«, sagte Decker. »Ich mute Ihnen das sehr ungern zu, Byron … nun ja, um es unverblümt zu sagen, ich will nicht warten, bis sie noch mehr verwesen.« Decker stieg aus dem Auto, faßte Byron an der Schulter und führte ihn behutsam in Richtung Haus. »Ich weiß, daß das hart für Sie ist, aber Sie schaffen es.«
Byron wischte sich mit dem Hemdsärmel eine dünne Schweißschicht vom kahlen Schädel. Dann hustete er kräftig und spuckte einen Schleimklumpen aus. Großartig, dachte Decker. Noch etwas, um die Spurensicherung irrezuführen. Er würde die Jungs aus dem Labor nachher darauf hinweisen.
Mit vorsichtigen Schritten näherte sich der Imker dem Haus. Sein Atem war flach und roch säuerlich. Decker hatte Mitleid mit ihm, weil er zitterte, und wollte noch kein Urteil über schuldig oder nicht schuldig fällen. Er hatte schon zu viele Mörder beim Anblick ihrer im Blut schwimmenden Opfer bitterlich weinen sehen.
In der Küche der Darcys verlor Byron völlig die Fassung – aus seinem Brustkorb drang ein trockenes Schluchzen, und gutturale Laute kamen aus seiner Kehle.
»Das da drüben ist … ist Linda Darcy«, sagte Byron. Er zeigte in die Mitte des Raums, seine Unterlippe zitterte. »Die andere … o Gott … die andere Frau ist Carla Darcy … der Mann am Kühlschrank ist Luke … Jesus, sei ihren Seelen gnädig.«
»Was ist mit dem anderen Mann?« fragte Decker sanft.
»Wie bitte?«
Byron wirkte benommen. Decker sprach rasch weiter. »Der andere Mann, Mr. Howard, der zwischen den Frauen liegt. Kennen Sie ihn?«
Byron schüttelte den Kopf. Seine Haut hatte ein metallisches Graublau angenommen. Er ließ das Linda-Mantra wieder ablaufen und sprach ihren Namen aus, als ob er beten würde. Seine Augen begannen nach hinten zu rollen. Bevor der Imker ohnmächtig wurde, führte Decker ihn nach draußen und übergab ihn Marge, die neben dem Plymouth wartete. Byron ließ dies alles mit sich machen wie ein hilfloses Baby.
Decker nahm Marge beiseite, nannte ihr die Namen der Leichen und erklärte, daß es immer noch einen Unbekannten gab. Marge hörte zu, dann fragte sie, ob Decker glaube, daß der Rauch Beweismaterial zerstören könnte.
»Darüber hab’ ich noch gar nicht nachgedacht«, sagte Decker. »Während du Byron zu seiner Farm fährst, frag’ ich die Techniker. Fotograf und Leichenwagen sollten bald hier sein. Ich würd’ die Leichen gern von den Viechern befreien, bevor wir sie ins Leichenschauhaus transportieren.«
»Ich bin in etwa einer halben Stunde zurück«, sagte Marge, schwang sich auf den Fahrersitz und fuhr los.
Decker nutzte die Zeit, um ein bißchen Ordnung in das Durcheinander zu bringen. Ein Teil der Familie Darcy – Luke, seine Frau Linda und seine Schwester Carla – lag tot in der Küche. Decker war gespannt auf den Teil der Familie, der nicht da war. Die Eltern, eine Schwester namens Sue Beth mit Mann und Kindern. Außerdem den geistig behinderten Bruder Earl.
Laut Auskunft von Annette Howard waren sie bei einer Imkerversammlung in Fall Springs. Als erstes mußte man die Angehörigen verständigen und feststellen, was genau jeder von ihnen diese Woche wann und wo gemacht hatte.
Dann hat Katie also zumindest noch Verwandte, dachte er.
Katie. Das Kind war bestimmt nicht in der Manfred-Siedlung herumgeirrt, während dies alles hier passiert ist. Vermutlich war es im Haus, und irgendwer konnte den Gedanken nicht ertragen, daß es mit den anderen verrotten sollte. Jemand hatte die Kleine bei der Manfred-Siedlung abgesetzt, in der Hoffnung, daß jemand sie finden und sich um sie kümmern würde.
Was hatte das zu bedeuten?
Decker klopfte mit dem Bleistift auf den Block und beendete zunächst mal seine Spekulationen. Statt dessen begann er, das Gelände nach Spuren zu durchkämmen. Vor dem Haus fand er von einer bräunlichen Masse gefärbte Stellen. Könnte getrocknetes Blut sein, könnte aber auch alles mögliche sein. Dann ging er nach hinten. Gegenüber der Rückseite des Hauses stand eine zweistöckige Scheune aus Redwood-Holz, das zu einem staubigen Grau verwittert war. Neben der Scheune waren Heuballen aufgestapelt, außerdem gab es einen etwa dreißig mal dreißig Meter großen eingezäunten Korral sowie eine verdorrte Unkrautfläche von hundertfünfzig Quadratmetern voller Ölflecken und Reifenspuren. Dort parkten die Darcys vermutlich ihre Autos. Man konnte allerdings nie genug Beweise haben. Er würde die Mordkommission des Sheriffs daraufhin weisen und darum bitten, daß man Reifenabdrücke nahm und das Öl im Labor untersuchte.
Ganz automatisch nahm Decker ein Taschentuch, legte es über den Türknauf und versuchte, die Scheune zu öffnen. Sie war abgeschlossen, aber zumindest schien kein unangenehmer Geruch herauszuströmen. Er warf einen Blick durch das Fenster. Obwohl nur wenige Sonnenstrahlen ins Innere drangen, konnte Decker auf der linken Seite eine mit Seilen abgesperrte Fläche erkennen, die mit Heu bedeckt war. Ansonsten standen überall Maschinen herum – große Metallzylinder und weitere Teile aus gebürstetem Stahl und Chrom, die er nicht identifizieren konnte.
Er sah Tommy Chin um das Haus kommen.
»Arnie echt sauer wegen Bienen«, sagte Chin.
»Machen Sie ’ne Pause«, sagte Decker. »Es kann nicht mehr lange dauern. Ich versuche jemand zu kriegen, der uns hilft, die Viecher loszuwerden. Wir wollen versuchen, sie einzuräuchern. Könnte dadurch Beweismaterial zerstört werden?«
Tommy dachte kurz nach, rieb sich ein Auge an der Schulter – seine Hände steckten in Handschuhen –, dann antwortete er, daß der Rauch sich eventuell mit einigen Körpergasen vermischen könnte, aber die Bienen müßten weg. Kein Mensch könne arbeiten, wenn Tausende von den Dingern um einen herumsummten. Arnie sei bereits zweimal durch den Plastikhandschuh in die rechte Hand gestochen worden und wär’ kurz davor, sich für arbeitsunfähig zu erklären. Decker fragte, ob Arnie noch drinnen sei.
»Arnie ist ein Arbeitstier«, sagte Tommy. »Wir tun, soviel wir können, bevor Sie die Viecher ausräuchern. Nehmen jede Menge Proben … überall, wo der Rauch was verändern könnte. Was die Insekten betrifft, ich hab’ ein paar Maden aufgesammelt und sie in Spezialbehälter getan. Ich les’ auch noch Bienen, Ameisen und Käfer auf. Auch ein paar lebendige zur Kontrolle. Mehr brauch’ ich nicht. Sie beseitigen den Rest, damit wir arbeiten können, ohne gestochen zu werden.«
Decker nickte. »Haben Sie Detective Crandal irgendwo gesehn?«
»Er war im Haus, dann ist er raus. Ich glaub’, jetzt ist er im Auto.«
Super, dachte Decker. Das hat uns gerade noch gefehlt. Ein Drückeberger im Team. Er zwang sich, zu Crandals Auto rüberzugehen. Der alte Mann saß auf dem Fahrersitz, die Fenster waren geschlossen, der Motor lief. Bestimmt hatte er die Klimaanlage auf volle Touren laufen. Decker klopfte an das Fenster auf der Fahrerseite, der Motor erstarb, und Crandal stieg aus seinem Kokon.
»Ich mach’ nur gerade ’ne Pause«, erklärte Crandal.
Klar doch, dachte Decker. Laut sagte er: »Hören Sie, wenn wir die Sache gemeinsam machen, sollten wir uns vielleicht mal über die Arbeitsteilung unterhalten.«
Crandal antwortete nicht.
»Ich mach’ die Aufräumarbeiten da drüben«, sagte Decker. »Und ich kümmer’ mich auch um den Background der Opfer. Eine Leiche konnte bisher noch nicht identifiziert werden. Wie wär’s, wenn Sie runter nach Palm Falls fahren würden, die überlebende Familie verständigten und sich mit ihnen unterhielten? Das würde mir gewiß eine Last von den Schultern nehmen.«
»Gott behüte, daß Ihre Schultern zu schwer beladen werden«, antwortete Crandal.
»Hören Sie, das hier ist noch nicht mal mein Zuständigkeitsbereich. Und ich kann mir auch was Besseres vorstellen, wie ich meine Zeit verbringen könnte. Aber ich hab’ das Kind gefunden, und ich möchte die Sache gern zu Ende bringen. Dafür werde ich bezahlt.« Er beruhigte sich allmählich wieder. »Ich sag’ dem Labor, sie sollen uns beiden Kopien von ihren Ergebnissen schicken. Sie schicken mir Ihre Aufzeichnungen, ich schicke Ihnen meine.«
Crandal seufzte, dann nickte er zustimmend.
»Ich seh’ mich hier draußen zu Ende um«, sagte Decker. »Sie durchkämmen das Wohnzimmer, ich übernehm’ die Küche.«
Crandal sah ihn unglücklich an, ging dann aber ins Haus. Der Sheriff schien nicht allzu wild auf Arbeit zu sein, aber Decker wollte nicht zu streng über ihn urteilen. Wenn es nicht für Katie gewesen wäre, hätte Decker diesen Fall weitergegeben. Und das wär’ auch kein Problem gewesen, da er für Sexualdelikte und nicht für Mord zuständig war. Außerdem stapelten sich noch bergeweise unerledigte Fälle auf seinem Schreibtisch. Aber aus irgendeinem Grund fühlte er sich dem kleinen Mädchen verpflichtet. Man braucht einem Kind nur mal die Windel zu wechseln, und schon läßt es einen nicht mehr los. Er schmunzelte in sich hinein. Ach, zum Teufel, die Kleine hatte ein Recht darauf zu erfahren, was mit ihren Eltern geschehen war. Dinge, die sie dem unvermeidlichen Seelenklempner erzählen konnte, wenn sie älter war. Außerdem hatte Decker vor ewigen Zeiten mal sechs Jahre bei der Mordkommission gearbeitet. Es war nicht so, als ob ihm Leichen fremd wären.
Lautes Motorengeräusch erfüllte die flimmernde Luft. Zwei Autos – Byron in einem Ford Pick-up mit hölzerner Pritsche, Marge im Plymouth. Auf der Ladefläche des Fords standen drei Plastiktüten, ein großes tragbares Räuchergerät, aus dem Holzkohlenrauch aufstieg, und über ein Dutzend Holzkisten. Decker wies Marge an, Crandal bei der Durchsuchung des Wohnzimmers zu helfen, er selbst würde Byron beim Abladen helfen. Das Räuchergerät war heiß und schwer, Decker verbrannte sich fast die Arme. In den Plastiktüten waren Schutzkleidung sowie drei Blasebälge aus Stahl.
»Ich hab’ einige Maschinen in der Scheune stehen sehen«, sagte Decker zu Byron. »Wofür ist das ganze Zeug da drin?«
Byron hielt eine Hand hoch und zählte an den Fingern ab. »Pressen, Trommeln, Zentrifugen und Siebe …« Er hielt inne. »Geräte zur Honigverarbeitung.«
»Um den Honig hier zu verarbeiten?«
»Ja, Sir, das ist kein Problem.« Byron nahm eine Holzkiste von der Ladefläche. »Wär ’ne Schande, all die Bienen da drinnen umkommen zu lassen. Dann können wir sie auch gleich in den Stock bringen. Ich geb’ sie den Darcys zurück, falls sie sie noch wollen, wenn sie wiederkommen.«
Er sah Decker an. Seine Haut hatte eine grünliche Farbe angenommen. »Sie wissen’s noch nicht, oder?«
»Ich hab’ bisher nicht mit ihnen gesprochen«, sagte Decker. Dann bat er Byron, ihm den Gebrauch der Schutzkleidung zu erklären. Byron brauchte einen Moment, um wieder Farbe zu bekommen und seine Stimme wiederzufinden. Schließlich erklärte er die Prozedur und ermahnte Decker insbesondere, keine plötzlichen Bewegungen zu machen. Bienen würden leicht nervös, genau wie Menschen, dozierte er.
Mit dem breitkrempigen Hut, dem langen Schleier aus Metall, den dicken Handschuhen und Gummistiefeln war Decker schweißgebadet, bevor er auch nur einen Schritt gemacht hatte. Durch den Blick durch das Drahtgeflecht fühlte er sich, als ob er im Gefängnis wäre.
Byron übernahm die Führung, und Decker folgte ihm. Drinnen kratzte Arnie gerade Blut vom Wohnzimmerboden. Marge kritzelte in ihr Notizbuch, Ozzie Crandal untersuchte einen Fußabdruck auf dem Boden.
»Hat schon jemand einen Abdruck davon angeordnet?« fragte er.
»Noch nicht«, sagte Decker.
»Dann werde ich einen anordnen«, sagte Crandal.
»Gute Idee«, sagte Marge. Es gelang ihr fast, den scharfen Unterton aus ihrer Stimme zu halten, aber Ozzie bekam ihn trotzdem mit.
»Jemand, der vom Tatort wegging, nicht hinein. Die Zehen weisen nach vorn«, fügte er hinzu.
»Wieso ist da nur ein Abdruck?« fragte Marge.
Crandal schien überfragt. »In der Küche sind reichlich Abdrücke«, sagte Decker. »Vielleicht ist demjenigen bewußt geworden, daß er Blut ins Wohnzimmer trug, und er hat die Schuhe ausgezogen.«
»So seh’ ich das auch«, fügte Crandal hinzu.
»So seh’ ich das auch«, äffte Marge ihn nach.
»Hören Sie, Lady …«, sagte Crandal.
»Nun mal langsam, Leute«, sagte Decker. »Ich schwitz’ mich in diesen Klamotten kaputt, und mir reißt auch langsam die Geduld. Wie wär’s, wenn wir alle einfach den Mund halten?«
»Ist mir sehr recht«, sagte Marge mit zusammengebissenen Zähnen.
Crandal murmelte irgendwas, dann machte er sich wieder an die Arbeit.
Decker wußte, daß Crandal sich ziemlich blöd verhalten haben mußte, um Marge derart aus der Fassung zu bringen. Aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, sie danach zu fragen. Statt dessen schob er Byron in die Küche. Jetzt, wo er seine Arbeitskleidung anhatte und das tat, was er am besten konnte, war Byron nicht mehr der gebrochene Mann, den Decker vor einer halben Stunde erlebt hatte. Er verhielt sich absolut professionell, blies behutsam Wolken von Rauch auf einen Teil der Bienen und schob sie dann vorsichtig mit den Handschuhen in seine Holzkisten. Er arbeitete langsam und brauchte ungefähr anderthalb Stunden. Decker ermahnte ihn immer wieder, auf seine Hände und Füße zu achten, um keine Spuren zu verwischen. Als Byron fertig war, waren fast alle Bienen und Wespen in Kisten und die Leichen zum größten Teil von den geflügelten Viechern befreit. Marge hatte recht gehabt. Nachdem die Bienen fort waren, konnte Decker die ganze Abscheulichkeit des Verbrechens betrachten – Mengen blutleerer Eingeweide, riesige Löcher von Schrotkugeln im Bauch- und Brustbereich. Bei einer der Frauen hing das halbe Herz aus der Brust. Die Gesichter waren schwarz geworden. Maden krochen aus Nasenlöchern und Augenhöhlen.
Decker fühlte einen leichten Schwindel und sah einen Augenblick nach unten. Als er wieder richtig atmen konnte, war Byron bereits gegangen. Erst wollte Decker hinter ihm herlaufen, um ihn an Ort und Stelle zu befragen, dann überlegte er es sich jedoch anders. Wenn er nicht bereit war, Byron richtig in die Mangel zu nehmen und seine ganze Autorität spielen zu lassen, würde dieser nichts sagen. Es schien sinnvoller, zunächst die geschwätzigen Frauen der Familie Howard auszuhorchen und zu warten, bis man den Imker mal in einem unbedachten Augenblick erwischte.
Decker behielt den Hut auf, zog jedoch den Schleier und die dicken Handschuhe aus und stopfte sie unter sein Schulterholster. Statt dessen streifte er ein Paar dünne Plastikhandschuhe über. Dann begann die mühsame Spurensuche. Er suchte die Toten ab nach Filzpfropfen von Schrotpatronen, leeren Patronenhülsen und Spuren von anderen Waffen, die möglicherweise benutzt worden waren. Dann zog er Plastikbeutel heraus und streifte sie den Leichen über die Hände – zumindest über die, an denen die Finger noch intakt waren. Er spürte einen Aufruhr in seinem Inneren, einen Zorn, der tief in ihm kochte und brodelte. Doch das Gefühl, das ihn am meisten überwältigte, war Trauer.
Arme, arme Katie.