7

Von weitem wirkte die Frau gefaßt, doch als Hollander näher kam, bemerkte er ein Zucken in ihrem rechten Augenwinkel. Sie hatte ein ovales Gesicht, die Haut war fleckig, und unter ihren blaßblauen Augen befanden sich deutlich hervortretende Tränensäcke. Ihre Lippen schienen fast blutleer, das gelbbraune Haar fiel schlaff auf die Schultern. Neben ihr stand ein Mann Mitte Fünfzig, mittelgroß mit grauen, welligen Haaren und braunen Augen. Bartstoppeln sprossen auf seinen fleischigen Wangen und seinem breiten Kinn. Das muß der Kopfgeldjäger sein, dachte Hollander. Er führte die beiden in das Dienstzimmer.

»Charlie Benko«, sagte der Mann und streckte eine Hand aus.

Hollander schüttelte ihm die Hand und lächelte der Frau zu. Sie hatte Tränen in den Augen. »Möchten Sie ’nen Kaffee?« fragte Hollander die beiden. »Sie müssen nach diesem späten Flug doch müde sein.«

»Nein danke, für mich nicht«, sagte Benko. »Ich bin schon reichlich mit Koffein vollgepumpt. Dotty?«

Die Frau schüttelte den Kopf.

»Tee? Oder vielleicht einen heißen Kakao, Mrs. Miller?« bot Hollander an.

»Nein, gar nichts, danke«, flüsterte sie.

»Setzen Sie sich doch bitte«, sagte Hollander.

»Ach übrigens, Detective«, sagte Benko. »Ihr Name ist nicht Miller. Sie hat wieder geheiratet. Heißt jetzt Palmer.«

»Entschuldigung«, sagte Hollander. »Haben Sie ihr das – äh – Verfahren erklärt?«

»Yeah, sie weiß, daß sie nicht einfach da reinspazieren und das Kind mitnehmen kann. Erst muß der Papierkram erledigt werden, nicht wahr, Dotty?« Benko tätschelte ihr die Hand. »Wir haben diesmal große Hoffnungen. Das Schwein von Exmann wurde schon ein paarmal in der Gegend gesehen. Leider hab’ ich ihn immer noch nicht gefunden, aber das bedeutet nicht, daß der Scheißkerl sich nicht irgendwo hier versteckt.«

»Wie ist sein Name?« fragte Hollander.

»Douglas Miller«, sagte Benko, öffnete seinen Aktenkoffer und nahm ein Foto heraus. »Wär’ Ihnen sehr dankbar, wenn Sie das herumreichen könnten. Das Schwein wird wegen überfälliger Unterhaltszahlungen für die anderen drei Kinder gesucht.«

Hollander starrte auf das Foto und sagte dann: »Er hat nur ein Kind mitgenommen?«

»Yeah, die anderen Kinder sind älter und wollen mit dem Drecksack nichts zu tun haben«, sagte Benko und legte einen Arm um Dotty. »Man muß auch schon für Kleinigkeiten dankbar sein, was?«

Dotty versuchte zu lächeln, doch ihr Gesicht verzog sich zu einem Weinen, und sie begrub es in ihren Händen.

»Na, komm schon, Dotty.« Benko nahm sie in die Arme. »Es wird alles wieder gut, das versprech’ ich dir.«

Dotty hörte nicht auf zu weinen. Benko sah Hollander an und zuckte mit den Schultern. »Wann können wir das Kind sehen?«

»Ich warte auf Detective Dunn. Sie wird mit Ihnen zum Pflegeheim fahren.«

Dotty trocknete sich die Tränen am Ärmel und fragte dann: »Geht’s ihr gut?«

»Dem Kind? O yeah«, sagte Hollander. »Alles prima.«

»Ich meine, sie wurde nicht mißhandelt?« fragte Dotty.

»Nein, ganz bestimmt nicht.«

»Doug trinkt nämlich«, sagte Dotty, »und hat sich nicht unter Kontrolle, wenn er betrunken ist. Deshalb hab’ ich ihn verlassen.«

»Sehr vernünftig, Dotty«, sagte Benko. »Sehr vernünftig.«

»O Gott, ich will mein kleines Mädchen wiederhaben!« Sie fing an zu schluchzen. »Er hat das extra gemacht. Nicht weil er sie liebt, er hat’s getan, um mir eins auszuwischen, der Dreckskerl.«

»Wir kriegen ihn«, sagte Benko. »Ich werd’ ihn finden, Dotty, das schaff ich allemal. Irgendwas wird sich schon ergeben.«

»Wie hat er sie entführt?« fragte Hollander.

»Hat sie einfach an seinem Besuchstag nicht zurückgebracht. Irgendein Arschloch von Richter hatte darauf bestanden, daß er Besuchsrechte kriegte. Wie bereits gesagt, die anderen wollten nicht mit ihm gehen. Aber ein kleines Mädchen von zwei Jahren, was weiß das schon? Scheißrichter. Gibt so einem Drecksack wie dem Besuchsrechte. Dotty hat versucht, ihm klarzumachen, was mit Doug los ist, aber der Mistkerl wollte nicht auf sie hören.«

Hollander starrte immer noch auf das Foto. Dann fragte er: »Wie alt ist dieses Bild?«

»Wieso? Kennen Sie den Dreckskerl?« Benko lächelte Dotty an. »Siehst du? Hab’ dir doch gesagt, es wird sich irgendwas ergeben. Diese Leute hier haben was drauf. Woher kennen Sie den, Detective?«

»Ich kenn’ ihn nicht unter dem Namen Doug Miller«, sagte Hollander. »Aber der Kerl kommt mir bekannt vor. Ich muß mal in Ruhe darüber brüten.«

»Klar, lassen Sie sich ruhig Zeit!« Benko sah auf seine Uhr und begann dann, auf und ab zu gehen. »Ich hab’ einen ganzen Haufen Fotos. Ich werd’ sie hier noch mal rumzeigen, wenn Sie sagen, daß er Ihnen bekannt vorkommt. Wann kommt denn das Mädchen?«

»Wer?« fragte Hollander.

»Das Mädchen, das uns zum Pflegeheim bringt.«

Hollander lächelte. »Detective Dunn ist fast einsachtzig groß und wiegt achtzig Kilo. Sie ist zwar weiblichen Geschlechts, aber ganz bestimmt kein Mädchen. Sie müßte jeden Augenblick da sein.« Er starrte immer noch gebannt auf das Foto und schüttelte den Kopf.

»Gucken Sie nur, Detective«, sagte Benko. »Es fällt Ihnen bestimmt ein.«

»Was hat Ihr Exmann beruflich gemacht, Mrs. Palmer?«

Benko antwortete. »Ich weiß nicht, was er jetzt tut, aber als Dotty noch mit ihm verheiratet war, hat er als Dachdecker gearbeitet, stimmt’s?«

Dotty nickte.

»Hier in der Gegend wohnen viele Arbeiter«, sagte Hollander. »Da würde er gar nicht auffallen. Ah, Detective Dunn naht.«

Marge winkte zur Begrüßung. Benko und Dotty standen auf, und Hollander machte sie alle miteinander bekannt. Marge hielt Dottys Hand fest und sagte: »Es tut mir sehr leid, daß Sie so viel durchmachen mußten, und ich hoffe wirklich, daß wir Ihre kleine Tochter gefunden haben. Aber ich möchte noch mal wiederholen, was ich Ihnen schon am Telefon gesagt habe. Das Mädchen, das wir gefunden haben, sieht jünger aus als zweieinhalb.«

»Heather ist sehr klein. Sie sieht jünger aus«, brachte Dotty mühsam heraus und strich sich die Haare aus dem Gesicht.

»Ich hoffe, es ist Ihre Heather«, sagte Marge. »Ist Sergeant Decker schon da?«

»Er wurde dringend per Code sieben abberufen«, sagte Hollander. »Du kannst ihn anpiepsen, wenn du ihn brauchst.«

Marge schüttelte den Kopf und lächelte in sich hinein. Code sieben bedeutete normalerweise Pause, aber wenn sie es in Gegenwart von Zivilisten benutzten, hieß es, daß etwas Privates dazwischengekommen war. Vermutlich war Pete nur nach Hause gefahren, um ein bißchen Schlaf nachzuholen. Egal. Gönn dem Mann seine wohlverdiente Ruhe.

»Detective Dunn«, sagte Hollander, »könntest du mal einen Blick auf dieses Foto werfen.«

Marge betrachtete Douglas Miller.

»Kommt er dir bekannt vor?« fragte Hollander.

»Yeah, laß mich mal nachdenken.« Nach einigem Überlegen gab Marge ihm das Foto zurück. »Ich bin im Moment blockiert. Fällt mir vermutlich unter der Dusche wieder ein.« Dann wandte sie sich an Dotty. »Sind Sie bereit?«

»Ich kann’s kaum erwarten.«

Es war fast drei Uhr morgens, als sie bei Sophi Rawlings ankamen. Sophi trug ein kurzärmeliges weißes T-Shirt-Kleid und hatte ein leichtes Umhängetuch übergeworfen. Sie stand bereits in der Tür, als Marge das Zivilfahrzeug in der Kurve parkte. Ein dünner Nebelstreifen hing in der frühmorgendlichen Luft. Als sie aus dem Auto stiegen, war Dottys Atem deutlich zu hören.

»Ich bin Detective Dunn, Ms. Rawlings«, sagte Marge. »Wir haben miteinander telefoniert. Das hier ist Mrs. Palmer aus der Bay-Gegend, möglicherweise die Mutter von Baby Sally, und das ist Mr. Benko. Er hat sie hierher begleitet.«

»Kommen Sie rein«, sagte Sophi. »Die Kleine schläft, aber ich hab’ das Nachtlicht am Bettchen angelassen.«

»Gehn wir«, sagte Marge.

Dotty legte den Arm um Benkos Schultern.

»Können Sie wirklich gehen, Dotty?« fragte Marge.

Dotty wollte ja sagen, aber das Wort schien ihr in der Kehle stecken zu bleiben. Also nickte sie statt dessen. Marge nahm sie trotzdem an der Hand. Gestützt von Marge und Benko machte sich Dotty ganz langsam auf Richtung Kinderzimmer. Der Weg schien endlos.

»Sally« schlief mit drei anderen Kindern in einem Zimmer. Das erste war ein vierjähriges schwarzes Mädchen. Es trug ein Snoopy-Nachthemd und hatte sich bloßgestrampelt. Gegenüber standen zwei Metallbetten. Darin schliefen zwei Mädchen im Alter von vier und sechs in ihrer Unterwäsche. Beide hatten langes, dichtes Haar, das fast bis zur Hüfte reichte. Das Kinderbettchen stand ganz am Ende des Zimmers. Benko führte Dotty dorthin. Sie mußte all ihren Mut zusammennehmen, bis sie endlich wagte hineinzusehen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, während sie mit den Fingerspitzen dem schlafenden Kind die Locken aus der Stirn strich.

Dotty starrte das Baby lange an. Als sich Benko schließlich räusperte, reagierte sie immer noch nicht.

Nach einigen Minuten Schweigen flüsterte Sophi: »Das ist nicht Ihre Tochter, nicht wahr, Mrs. Palmer?«

Dotty zögerte, dann schüttelte sie den Kopf.

»Laß dir Zeit«, sagte Benko. »Überstürz nichts. Sieh noch mal genau …«

»Das ist sie nicht, Charlie«, sagte Dotty. »O Charlie, sie hat nicht Heathers Grübchen, und Heather hat einen kleinen Leberfleck oben am linken Ohr. Und Heather hat dünnere Augenbrauen … und längere Wimpern … und – o Charlie, was soll ich bloß tun?«

Dottys Augenlider flatterten, und sie taumelte nach vorn. Marge fing sie an den Schultern auf und trug dann zusammen mit Benko ihren schlaffen Körper ins Wohnzimmer. Dort legten sie sie auf ein altes Plaidsofa.

»Ich hol’ was Wasser«, sagte Sophi.

»Und ein Handtuch, bitte«, sagte Marge und flüsterte leise »Scheiße« vor sich hin. »Was nun?« sagte sie zu Benko.

»Ich werd’ weitersuchen.« Er bohrte seinen Finger in Marges Schulter. »Und Sie denken weiter darüber nach, wem der Scheißkerl ähnlich sieht, Lady.«

Marge stieß seinen Finger weg. »Pfoten weg, Junge.«

Benko hob die Hände. »Du lieber Gott! Tut mir leid.«

Marge seufzte. »Schon gut. Ich hab’ ’ne lange Nacht hinter mir.«

Sophi kam mit Wasser, Riechsalz und einem feuchten Handtuch zurück. Sie brach die Riechsalzkapsel auf und hielt sie Dotty unter die Nase. Dotty regte sich und öffnete die Augen.

»Es ist alles in Ordnung, Baby«, sagte Sophi. »Alles okay.« Sanft betupfte sie Dottys Stirn.

»Hi, Dotty«, sagte Benko. »Du hast dich großartig gehalten, Honey.«

»Sie ist es nicht«, stöhnte Dotty.

»Tut mir leid, Dotty«, sagte Benko. »Tut mir wirklich leid. Ich dachte, wir hätten vielleicht ’ne Chance … Tut mir leid. Das ist nur ein kleiner Rückschlag. Wir finden den Dreckskerl und deine Heather.«

»O Gott«, jammerte Dotty.

»Nicht aufregen, Honey«, sagte Sophi. »Trinken Sie das.« Sie hielt ihr das Glas Wasser an die Lippen. Dotty nippte zunächst ganz vorsichtig, dann stürzte sie das Wasser hinunter.

»Ich muß hier raus«, flüsterte Dotty.

»Du solltest dich erst ein bißchen ausruhen, Dotty«, sagte Benko.

»Bitte, Charlie«, flehte sie. »Bring mich bitte hier raus!«

»Okay, okay«, sagte Benko. »Ich will bloß nicht, daß du dich überanstrengst. Na dann los, Dot. Ich helf dir beim Aufstehen.«

»Vielen Dank, Ms. Rawlings«, sagte Marge. »Ich weiß Ihre Hilfe wirklich zu schätzen.«

»Richten Sie Detective Decker aus, daß ich morgen mit Baby Sally zum Arzt gehe«, sagte Sophi. »Und ich werd’ ihn wegen dem Ausschlag fragen.«

»Mach’ ich«, sagte Marge. »Kommen Sie, Mrs. Palmer, ich helfe Ihnen. Stützen Sie sich auf mich.«

»Bitte, Detective. Bitte! Finden Sie diesen Scheißkerl!« flüsterte Benko Marge ins Ohr.

Decker wachte um sechs Uhr auf, ließ den Hund raus, duschte und rasierte sich, zog sich an und sagte dann eine verkürzte Version der Schacharit – der Morgengebete. Früher hatte er die Gebete komplett gesprochen und sogar Phylakterien getragen, doch das schien ihm in letzter Zeit sehr viel Aufwand für nur ein bißchen geistige Erhöhung. Deshalb beschränkte er sich nun auf das Schema – den Kern des Judaismus – sowie auf achtzehn Verse stiller Andacht. Als er fertig war, legte er seinen Siddur hin und betrachtete sich im Spiegel. Er klopfte auf seinen flachen Bauch und spannte den Bizeps. Der Körper war nicht das Problem, sondern das Gesicht. Diese Tränensäcke! Damit sah er aus, als hätte die große Vier schon vor Jahren ihre Spuren in sein Gesicht gegraben. Eine Sauerei, wo er doch erst vor einem Jahr die fünfte Dekade seines Lebens begonnen hatte. Was würde Rina denken?

Scheiße.

Die hinreißende Rina. Die hinreißende junge Rina. Noch keine dreißig, und wenn sie sich einfach anzog, konnte sie immer noch für eine High-School-Schülerin durchgehen. Während Decker sein Gesicht anstarrte, wurde ihm bewußt, daß er alt genug aussah, um ihr Vater sein zu können.

»Scheiß drauf«, sagte er.

Er ging in die Küche, schob vier Scheiben Brot in den Toaster und nahm einen Viertelliter Milch aus dem Kühlschrank. Das Küchenfenster ging nach hinten hinaus – auf flache unbebaute Felder, die sich am Fuß der Berge verloren. Die morgendliche Sommersonne war bereits sehr stark und sandte ihre honiggelben Strahlen auf Felsen und in Spalten. Das Fenster stand auf, und die Luft fühlte sich trocken und staubig an. Während Decker aus der Milchtüte trank, hörte er Ginger aufgeregt kläffen. Das Bellen war begleitet von regelmäßigen Hammerschlägen, und dieses Geräusch kam von seinem Grundstück. Aus seiner Scheune.

»Was, zum Teufel, ist das denn?« sagte Decker laut. Er ging durch die Hintertür hinaus und blieb abrupt am Eingang der Scheune stehen. Mitten im Raum kniete Abel auf seiner Prothese und war gerade dabei, ein morsches Brett aus dem Fußboden zu reißen. Neben ihm standen ein Werkzeugkasten und eine Schachtel mit Nägeln.

Ginger bellte den Fremden an. Decker beruhigte sie und sagte: »Abel, was machst du da?«

»Deine Scheune und dein Stall sind die reinsten Bruchbuden, Doc«, sagte Abel. »Die Dielen sind verzogen, die Boxen gehen aus den Nähten, und die Balken wurden stümperhaft eingepaßt. Hast du das alles selbst gebaut?«

»Zufällig ja«, sagte Decker.

»Wirst offenbar ’n bißchen nachlässig, Doc.«

»Abel …«

»Und deine Scheunenwand sieht aus wie Schweizer Käse«, sagte Abel. »Voller Einschußlöcher. Duell am O. K. Corral, Pete?«

Decker ignorierte die Bemerkung. »Wie bist du überhaupt hierhergekommen?«

Abel zeigte auf ein Motorrad, das an der Wand lehnte.

»Du bist mit diesem Motorrad hierher gefahren?«

»Nein, Doc. Ich hab’s über der Schulter getragen.«

»Werd’ nicht frech«, sagte Decker. Er streichelte Ginger, ging dann zu Abel rüber und baute sich vor ihm auf. »Zeig mir mal deinen Führerschein.«

Abel sah auf. »Was?«

»Zeig mir deinen Führerschein.«

»Willst du mich verarschen?«

»Den Führerschein!«

Abel zögerte. Dann griff er in seine Tasche und warf den Führerschein auf den Boden. Decker hob ihn auf, warf einen Blick darauf und gab ihn zurück. Abel steckte die Karte wieder ein.

»Weißt du, ich hatte mal ’nen guten Freund, aber der ist ein Cop geworden.«

»Yeah, aber gestern hast du nicht den Freund, sondern den Cop angerufen.«

»Vielleicht war’s ein Fehler von mir, ihn überhaupt anzurufen.«

Eine Zeitlang sagte keiner von beiden etwas. Abel zog weiter an dem Brett.

»Deine Decke sieht auch nicht so toll aus«, sagte er schließlich. »Durch die Dachsparren kann man den Himmel sehen.«

»Du willst meine Scheune neu decken, Abe?«

»Ich brauch’ bloß mein Bein an ein bewegliches Gestell zu schrauben, dann kann mich noch nicht mal ein Tornado umwerfen.«

»Abel, du brauchst das aber nicht zu tun …«

»Doch, Doc, ich muß das tun. Es ist mir wichtig.«

»Ich hab’ nie erwartet, daß du mir das Geld zurückgibst.«

»Tja, Pete«, sagte Abel, »das sehen wir beide halt anders. Ich hatte immer vor, meine Schulden bei dir in irgendeiner Form zu bezahlen. Geld hab’ ich keins, aber Zeit hab’ ich reichlich.«

»Eine Frage, Abe«, sagte Decker. »Was ist, wenn ich einen unwiderlegbaren Beweis finde, daß du das, was man dir vorwirft, tatsächlich getan hast?«

»Was ist dann?«

Decker kaute an einem Schnurrbartende, nahm eine Packung Zigaretten aus seiner Hemdtasche und knetete sie. »Dann krieg’ ich dich dran, Kumpel, das schwöre ich bei Gott, dann krieg’ ich dich dran.«

»Wenn du irgendeinen Beweis findest, daß ich der Lady weh getan hab’, dann kannst du mich mit diesem Hammer hier erschlagen. Also, tu deine Arbeit. Ich hab’ nichts zu befürchten.«

Ginger sprang Decker an und hechelte.

»Ich glaub’, der Hund hat Hunger«, sagte Abel.

»Yeah. Komm, Mädchen. Laß uns frühstücken. Hast du Hunger, Abe?«

»Nope.«

»Zier dich doch nicht …«

»Ich habe keinen Hunger.«

»Möchtest du ’nen Kaffee? Ich mach’ immer reichlich.«

»Wenn du noch mal rauskommst, kannst du mir ’ne Tasse mitbringen.« Abe sah auf Deckers Zigaretten. »Willst du die rauchen oder massierst du bloß das Zellophan?«

»Behalt das ganze Scheißpäckchen«, sagte Decker und warf es ihm zu.

»Kein Grund, ausfallend zu werden«, sagte Abel. »Hast du auch Streichhölzer, oder soll ich die roh fressen?«

Decker gab ihm ein Heftchen. »Brenn die Bude nicht ab.«

»Kommt drauf an, wie hoch sie versichert ist.«

»Nicht hoch genug.« Decker ging ins Haus und fütterte den Hund. Dann machte er noch zwei Scheiben Toast und brachte sie mit zwei Tassen schwarzem Kaffee nach draußen. »Nur falls du plötzlich doch Hunger bekommen hast.«

»Hab’ doch gesagt, ich will nichts.« Eine Zigarette baumelte aus Abels Mundwinkel.

»Na schön.« Decker nippte an seinem Kaffee. »Dann schmeiß ich sie eben weg.«

»Okay, ich nehm’ sie«, sagte Abel. »Man soll kein Essen wegschmeißen.« Er drückte seine Zigarette aus und verschlang die erste Scheibe Toast in drei Bissen.

»Also, was genau willst du für mich tun, Abe?«

»Am besten bau’ ich alles von Grund auf neu. Wenn ich mit der Scheune fertig bin, mache ich beim Stall weiter. Das Ganze sollte nicht mehr als ein paar hundert für Holz und vielleicht noch mal hundert für alles andere kosten.«

»Ich zahl’ das Material«, sagte Decker.

»Okay«, sagte Abel. »Wenn du willst, füttere ich auch deine Tiere und verschaff’ ihnen Auslauf.«

»Prima, das spart mir eine Stunde pro Tag. Wenn du mal Lust hast zu reiten, ich hab’ nichts dagegen. Aber bitte nur am Morgen oder am späten Nachmittag. Sonst ist es zu heiß.«

»Hab’ verstanden.«

»Abe, wie wär’s, wenn du erst in einer Woche mit der Arbeit anfängst? Ich krieg’ nämlich heute nachmittag für ein paar Tage Besuch. Da wär’ ich gern ungestört.«

»Ich halt’ mich im Hintergrund.«

»Nimm’s mir nicht übel, aber ich möchte dich nicht hier haben«, sagte Decker. »Ich möchte jetzt überhaupt niemanden hier haben. Die Scheune kann warten.«

Abel biß sich auf die Lippen und nickte.

»Es hat nichts mit dir zu tun«, sagte Decker.

»Ich weiß.«

»Mach gegen Mittag Schluß. Dann wird’s hier sowieso ziemlich heiß.«

»Ich bin auf jeden Fall weg.«

Decker seufzte und klopfte Abel fest auf die Schulter. »Wir reden noch darüber. Möchtest du übrigens ein Bier oder sonst was für später?«

»Nur wenn’s dunkel und importiert ist«, sagte Abel. »Da bin ich ziemlich pingelig.«

»Dos Equis hab’ ich da. Ich bring’ dir ’ne Flasche raus.«

»Danke.«

Decker zögerte, weil er hoffte, daß ihm noch irgendwas einfallen würde, was er sagen könnte. Früher waren die Gespräche mit Abel so selbstverständlich wie Atemholen gewesen. Doch das war lange her.

Er ging ins Haus, um das Bier zu holen.

Marge zeigte MacPherson das Foto von Douglas Miller.

»Kennst du den, Paulie?«

MacPherson sah ihr über die Schulter. »Nein. Was hat der Pisser gemacht?«

»Seine Tochter gekidnappt«, sagte Marge. »Kommt er dir nicht irgendwie bekannt vor? Michael und mir tut er das.«

»Nie gesehn«, sagte MacPherson.

Marge klopfte sich mit den Knöcheln an den Kopf. »Die Verbrecheralben! Scheiße, ich muß gestern abend Matsch im Gehirn gehabt haben. Ich hätte mit dem Kopfgeldjäger einen Termin abmachen sollen, damit er sich die Fotos ansieht. Ich hoffe, er ist noch in der Stadt.« Sie steckte das Foto ein und ging zum Telefon. In diesem Moment kam Decker ins Büro.

»Ah, heute ist der große Tag«, sagte MacPherson mit anzüglichem Grinsen.

»Mit wem redest du?« fragte Decker.

»Ich glaub’ mit dir, Rabbi. Verbessere mich, wenn’s nicht stimmt, aber ist heut’ nicht der große Tag, an dem die schöne Rina kommt?«

Decker starrte ihn an. »Hast du etwa meine Telefongespräche mitgehört, Paul?«

MacPherson zuckte die Achseln. »Ich kann doch nichts dafür, wenn du die Amtsleitung blockierst.«

»Du überraschst mich, Paul«, sagte Decker. »Du erweist dich von Tag zu Tag als größeres Arschloch.«

»Gib’s doch zu, Pete«, sagte MacPherson. »Wir sind doch alle Voyeure und Lauscher. Es ist schließlich unser Job herumzuschnüffeln.«

»Du hast meine privaten Telefongespräche belauscht, Paul. Das ist wirklich … pubertär.«

»Hoffentlich findest du heraus, was dein Mädel bedrückt.«

Decker warf ihm einen mörderischen Blick zu. MacPherson zwinkerte und wandte sich wieder seiner Schreibarbeit zu.

Marge legte den Hörer auf. »Kommt dir dieser Drecksack bekannt vor?« Sie warf Decker das Foto zu. Decker betrachtete es kurz, dann schüttelte er den Kopf. »Wer ist das?«

»Der arschige Ehemann von der Frau von gestern abend.«

»Oh.« Decker konzentrierte sich längere Zeit auf das Foto. »Nein, den kenne ich nicht. Wie geht’s der Frau? Als du mich gestern abend anriefst, meintest du, sie sei ziemlich aufgelöst.«

»Ich hab’ grad mit ihrem Kopfgeldjäger gesprochen. Er hat gesagt, sie hätte sich beruhigt. Er schickt sie heute morgen nach Hause. Er selbst bleibt noch in Los Angeles und kommt vorbei, um sich unsere Verbrecheralben anzusehen. Ich weiß, daß dieser Kerl hier in der Gegend lebt.«

»Ich halte die Augen offen«, sagte Decker.

»Was machst du heute morgen?« fragte Marge.

»Ich hab’ um halb zwei einen Gerichtstermin. Ich muß tatsächlich in die Innenstadt. Kannst du dir das Theater vorstellen? Der Fall Lessing.«

»Warum wird die Anklage nicht in Van Nuys erhoben?«

»Weil sie ihn in der Innenstadt eingesperrt hatten. Er kam gegen eine Kaution frei und hat in Wiltshire ein Mädchen vergewaltigt. Scheiße, was ist bloß mit diesen Richtern los. Ich glaub’, die Kaution für Lessing war nur zehn Riesen.«

»Vermutlich genauso hoch wie bei deinem Kumpel«, sagte Marge.

»Dunn, nerv mich nicht.«

»Ich weise ja nur auf eine gewisse Ironie hin.«

»Vielen Dank, Detective Dunn, für diese kleine Lektion«, sagte Decker. »Ich glaube, ich tu’ jetzt was Sinnvolles und fahr noch mal in die Manfred-Siedlung, um mit Patty Bingham zu reden – die Frau, von der du glaubst, daß sie was verschweigen würde. Vielleicht erwische ich auch ein paar von den Leuten, die gestern nicht da waren. Willst du mitkommen?«

»Ich hab’ ein Rendezvous mit einem Zwölfjährigen, der jemanden mit dem Auto totgefahren haben soll«, sagte Marge.

»Oh, là, là!« MacPherson blickte von seinen Papieren auf. »Wohin soll das alles noch führen?«

»Bis später«, sagte Decker zu Marge.

»Viel Spaß heute abend, Peter«, sagte MacPherson.

»Du bist ja nur neidisch, Paulie.«

Eine Wasserstoffblondine öffnete die Tür so weit, wie die Sicherheitskette es erlaubte. Ihr Gesicht war blaß, und die Augen hatten einen eigenartigen seegrünen Ton. Im Hintergrund schrien Kinder.

»Ja?« sagte sie.

»Polizei, Mrs. Bingham.« Decker zeigte ihr seine Dienstmarke. »Könnte ich Sie kurz sprechen?«

Die grünen Augen bewegten sich hektisch in ihren Höhlen.

»Was wollen Sie?«

»Es geht um ein aufgefundenes Kind.« Decker nahm das Foto von Baby Sally aus der Tasche und schob es durch den Türspalt. »Wir versuchen die Eltern von diesem kleinen Mädchen zu finden.«

»Ich hab’ bereits gestern mit der Polizei gesprochen«, sagte die Frau. »Ich weiß nicht, wer das Kind ist.«

»Mommy …«, rief ein weinerliches Stimmchen.

»Ich komme gleich!« blaffte die Frau zurück.

»Wenn Sie noch mal genau nachdenken …«, sagte Decker.

»Ich hab’ doch gesagt, ich weiß nicht, wer sie ist!«

»Aber eine Nachbarin weiter unten in der Straße hat mir erzählt, daß Sie vielleicht was wüßten«, log Decker.

»Wer hat Ihnen das gesagt?«

»Eine Ihrer Nachbarinnen.«

»Welche?«

»Da muß ich mal in meinen Notizen nachsehen«, sagte Decker und blätterte in seinem leeren Block herum.

»War das etwa Jane?« kam es wie aus der Pistole geschossen. »Hat Jane Ihnen erzählt, ich würde dieses Kind kennen?«

Ein anderes Kind fing an zu schreien. »Mommy, Andrea hat mich geschlagen!«

»Ich hab’ gesagt, ich komme gleich!«

Decker blinzelte und versuchte, einen deutlicheren Eindruck von Patty Bingham zu bekommen. Sie redeten nämlich immer noch durch die Kette.

»Yeah, es war Jane«, sagte Decker.

»Dann lügt Jane!«

Die Tür knallte Decker vor der Nase zu. Er glaubte schon, das Gespräch sei beendet, da hörte er, wie die Kette ausgehakt wurde. Dann ging die Tür ganz auf. Patty Bingham trug abgeschnittene Jeans und ein T-Shirt. Sie sah ganz passabel aus und hatte eine straffe Figur, wirkte aber so, als hätte sie im Leben schon einiges durchgemacht. Sie schien ein aufbrausendes Temperament zu haben, doch nachdem sie Decker kurz von oben bis unten gemustert hatte, wurde ihr Ausdruck sanfter. Sie schob eine Hüfte vor.

»Hören Sie, Sir …« Sie lachte kurz auf. »Ich weiß zwar nicht, was Jane Hickey Ihnen erzählt hat, aber ich kenne dieses Kind nicht. Und ich hab’ selber fünf Stück …«

»Fünf?«

»Nun ja, drei stammen aus der ersten Ehe meines Mannes. Sie sind den Sommer über hier zu Besuch. Was für ein Chaos! Wie war noch gleich ihr Name?«

Das Telefon klingelte.

»Soll ich drangehen, Patty?« brüllte eine weitere Stimme.

»Yeah.« Sie sah Decker an. »Ihr Name?«

Er zeigte ihr noch einmal seine Dienstmarke.

»Jane hat ’ne große Klappe«, sagte Patty. »Wissen Sie, was ich meine?«

»Aber weshalb sollte Jane behaupten, Sie kennen dieses Kind, wenn das nicht stimmt?« fragte Decker. »Bitte, Mrs. Bingham, die Kleine ist in einem Heim, und wir wissen nicht, wer ihre Eltern sind. Wenn die Eltern sie nicht wollen …«

»Oh, das bezweifle ich«, sagte Patty und wurde rot.

»Warum?« fragte Decker.

»Ich meine … , wer würde denn so ein süßes Kind nicht wollen?«

»Manche Eltern sind sehr merkwürdig.«

»Das ist wohl wahr. Möchten Sie einen Kaffee? Wir könnten ihn hinterm Haus trinken. Da ist nicht so viel Krach.«

»Nein danke, Mrs. Bingham. Sie haben also keine Ahnung, wo sie hingehört?«

»Nein.«

»Sieht sie jemandem in Ihrer Nachbarschaft ähnlich.«

»Nope. Möchten Sie wirklich nicht auf eine Tasse Kaffee reinkommen?«

»Ich fürchte, ich muß passen. Ich hab’ noch ein paar Türen abzuklappern. Sehen Sie es sich doch bitte noch mal an.«

»Das bringt nichts.«

»Mir zuliebe«, sagte Decker.

Patty warf einen flüchtigen Blick auf das Foto und schüttelte den Kopf.

»Es widerstrebt mir einfach, wenn so ein süßes kleines Kind in einem Heim ist«, sagte Decker.

»Ihre Eltern tauchen ganz bestimmt auf.«

»Da bin ich mir nicht so sicher.«

Patty kaute am Daumennagel. »Nun ja, ist schließlich nicht mein Problem. Ich kann mich ja nicht um alles in dieser Welt kümmern.«

»Vielleicht möchten Sie das Foto behalten, nur für alle Fälle …«

»Reine Zeitverschwendung.«

»Bitte. Um es Ihren Nachbarn zu zeigen.«

Patty kaute erneut an ihrem Daumennagel. »Sie sind ein hartnäckiger Mensch.« Sie nahm das Foto, sah es kurz an und steckte es in ihre Gesäßtasche.

»Vielen Dank für Ihr Entgegenkommen, Mrs. Bingham.«

»Kein Problem. Und hören Sie nicht auf Jane. Sie hat ’ne große Klappe.«

Decker ging lächelnd fort. Im Wagen ließ er sich über Funk die Adresse von Mrs. Jane Hickey geben. Sie wohnte anderthalb Blocks weiter, in einem dieser Häuser, wo sie gestern niemanden angetroffen hatten. Heute morgen war sie draußen und sprengte in einem Strandanzug das kleine Stück Rasen vor dem Haus. Sie hatte ein Tuch um die Haare gebunden, ihr Gesicht war stark von der Sonne gebräunt.

»Mrs. Hickey?« sagte Decker. »Ich bin Sergeant Peter Decker, LAPD. Ich würde mich gern kurz mit Ihnen unterhalten.«

Jane sah auf seine Dienstmarke. »Was wollen Sie?«

»Ich hab’ eben mit einer Ihrer Nachbarinnen gesprochen, mit Patty Bingham.« Decker zog ein weiteres Foto von Baby Sally hervor. »Ich versuche, dieses kleine Mädchen zu identifizieren und seine Eltern zu finden. Ich hab’ Mrs. Bingham das Foto gezeigt, und sie meinte, es käme ihr bekannt vor, aber sie wußte nicht, wieso. Haben Sie eine Ahnung, wer dieses Kind sein könnte?«

Jane betrachtete das Foto und fing an zu lachen.

»Was ist?« fragte Decker.

»Sie sieht ein bißchen wie Pattys Jüngste aus.«

Decker bekam große Augen.

»Natürlich ist das nicht Andrea«, sagte Jane.

»Sehen sie sich denn sehr ähnlich?«

»Nur ein bißchen um die Augen … und die Haare.« Jane gab Decker das Foto zurück. »Alle Kinder in dem Alter sehen irgendwie gleich aus. Kleine pausbäckige Gesichter und so … Aber das da kenn’ ich nicht.«

»Nie hier in der Gegend gesehn?«

»Nein«, sagte Jane.

»Ganz sicher?«

»Hier laufen viele Kinder rum«, sagte Jane, »und ich bin mir nicht hundertprozentig sicher, daß ich die Kleine nie gesehen hab’. Aber ich weiß nicht, wer sie ist.«

»Danke, daß Sie mir Ihre Zeit geopfert haben«, sagte Decker.

Dann fuhr er zum Haus der Binghams zurück.

»Sie schon wieder?« sagte Patty, als sie ihn vor der Tür stehen sah. Doch sie lächelte.

»Ich glaub’, ich möchte jetzt doch ’nen Kaffee«, sagte Decker.

Pattys Lächeln verwandelte sich in ein Grinsen. »Gehn Sie doch bitte schon mal außen rum. Wir treffen uns dann hinten.«

»Mich stört der Lärm nicht«, sagte Decker. »Ich mag Kinder.« Bevor Patty Einspruch erheben konnte, war er bereits drinnen.

Die Diele war als Zentrum des Hauses angelegt – links davon ging das Wohnzimmer ab, rechts davon das Eßzimmer. Das Wohnzimmer war dürftig eingerichtet und wirkte steril – ein weißes Samtsofa mit passenden Sesseln, ein Couchtisch aus Glas und ein Kamin, der noch nie benutzt worden war. Im Eßzimmer standen ein Resopaltisch mit Holzmaserung und acht Stühle. Durch das Eßzimmer sah man in eine Küche, die mit den modernsten Geräten ausgestattet war. Eine der Arbeitsplatten aus weißem Resopal war bereits durch einen Brandfleck verunziert. Die Schränke waren zwar neu, aber billig gemacht, und der Lack warf an vielen Stellen Blasen. Rechts von der Küche lag das Fernsehzimmer. Hier herrschte ein heilloses Durcheinander. Die Kinder tummelten sich zwischen schmutziger Wäsche, Spielsachen und Essensresten. Der Fernseher plärrte. Die drei älteren Kinder lümmelten sich auf einem braun-weißen Plaidsofa mit Kunstlederstreifen. Eine Vierjährige saß mit gekreuzten Beinen auf dem langflorigen Teppichboden.

»Sie wollen tatsächlich bei all dem Lärm Kaffee trinken?«

»Wo ist denn das fünfte?« fragte Decker.

»Was?«

»Das fünfte Kind. Ich zähle nur vier.«

»Oh.« Patty sah sich um. »Brian, geh das Baby suchen.«

»Ich guck’ doch grad …«

»Ich hab’ gesagt, geh das Baby suchen«, befahl Patty. »Scheiße. Einen von denen such’ ich immer.«

Ein etwa zehnjähriger Junge rutschte von der Couch. Er sah aus, als würde er fortwährend den Eingeschnappten spielen.

»Wer ist das?«, fragte eins der älteren Mädchen. Sie hatte kurz geschnittene Haare und trug eine Zahnspange.

»Ein Polizist«, sagte Patty. »Ich hab’ ihn zum Kaffee eingeladen. Nehmen Sie Milch?«

»Schwarz.«

»Dürfen denn Cops im Dienst trinken?« fragte das Mädchen skeptisch.

»Kaffee schon«, sagte Decker.

»Kümmer’ dich um deinen eigenen Kram, Karen«, sagte Patty.

»Man darf doch wohl mal fragen«, stöhnte Karen. »Mein Gott.«

Brian kam mit einer Zweijährigen auf dem Arm herein. Sie trug nur eine Windel. Decker starrte ihr ins Gesicht. Jane hatte ein gutes Auge. Es bestand eine Ähnlichkeit, keine außergewöhnlich starke oder gar unheimliche, aber die beiden Mädchen hatten etwas Gemeinsames.

»Das ist die Kleinste?« fragte Decker.

»Ja, hält mich ganz schön auf Trab«, sagte Patty. »Hier ist Ihr Kaffee.«

»Danke.« Während er trank, betrachtete Decker die ganze Zeit das Baby. Vielleicht war es der schelmische Ausdruck in seinen Augen. Sally hatte eindeutig schelmische Augen.

»Wie lange sind Sie eigentlich schon Polizist?« fragte Patty.

Decker stürzte seinen Kaffee so schnell er konnte hinunter. »Viel zu lange.«

»Da kann Sie wohl nichts mehr überraschen, was?«

»Nein, Ma’am.«

»Mich auch nicht«, sagte Patty.

»Das ist ja unerträglich«, murmelte Brian.

»Halt deinen dummen Mund«, sagte Patty.

Decker stellte den Becher auf die Anrichte. »Danke für den Kaffee, Mrs. Bingham. Ich muß jetzt gehen.«

»Sie haben aber schnell getrunken.« Patty stupste ihm in die Rippen. »Ich hoffe, Sie machen nicht alles so schnell.«

Decker stöhnte innerlich.

»Wie wär’s mit noch ’ner Tasse?« fragte Patty.

»Nein danke.«

Plötzlich blies ihm die Klimaanlage kalte Luft auf den Kopf.

»Ich muß gehen«, sagte Decker.

»Hey, vielleicht sehn wir uns ja noch mal hier in der Gegend.«

Karen verdrehte die Augen.

»Vielleicht«, sagte Decker und machte sich so schnell er konnte aus dem Staub.