21

Die fünfzehnhundert Dollar brannten Abel ein Loch in die Tasche. Er mußte an all die Dinge denken, die er damit machen könnte – was Neues zum Anziehen, ein Paar neue Reifen für sein Motorrad, eine Nacht im Sündenbabel Las Vegas. Er könnte sich ein Zimmer im Caesar’s Palace mieten oder vielleicht im MGM Grand – Montag nachts war das Geschäft im allgemeinen mau – und sich zwei Nutten aufgabeln. Manche Dinge mußte man einfach zu dritt machen. Mit fünfzehn Riesen könnte er sich einen wahrhaft unvergeßlichen Abend kaufen.

Als er sich Deckers Ranch näherte, riß er sich widerwillig aus seinen Träumen. Er parkte in der Einfahrt und hoffte, daß Doc zu Hause wäre, damit das Mädchen nicht glaubte, er versuche mit ihr allein zu sein. Allerdings wäre es auch nicht gerade die schlimmste Strafe der Welt für ihn, wenn er noch einmal mit dem Mädchen sprechen müßte. Beim Gedanken an sie bekam er Gänsehaut – trotz achtunddreißig Grad im Schatten. Er humpelte zur Tür, schlug heftig gegen den Türklopfer und wartete. Sein Glückstag. Das Mädchen antwortete mit einem süßen »Wer ist da?« Abel saugte ihre Stimme in sich auf.

»Abel Atwater, Ma’am«, antwortete er. »Sie müssen die Tür nicht aufmachen, ich schiebe bloß einen Umschlag mit Geld für Peter unter die Fußmatte. Den sollten Sie allerdings reinholen, sobald ich weg bin, da sind nämlich fünfzehnhundert …«

Die Tür ging auf. Diese Augen, die ihn ansahen, dieses Haar – schwarz, lang und offen getragen. Er bekam weiche Knie. Alles, was er herausbringen konnte, war ein vorpubertäres Hi.

»Hallo«, antwortete Rina. Der arme Kerl. Er war so nervös und wurde ganz rot. Oder vielleicht lag das nur an der Hitze. Heute hatte er sich fein gemacht; er trug ein Hemd. Doch so harmlos er auch aussehen konnte, Rina konnte nicht über die Tatsache hinwegsehen, daß er angeblich ein Vergewaltiger war. Sie beschloß, höflich zu sein, und nichts weiter.

»Äh, könnten Sie das für mich Peter geben?« sagte Abel.

Er hielt ihr den Umschlag hin. »Sie können ihm das Geld selbst geben, Abel. Er ist hinten bei den Pferden.«

»Sie können es doch für ihn annehmen. Schließlich sind Sie quasi seine Frau.«

»Das ist doch eine Sache zwischen Ihnen und Peter«, sagte Rina. »Damit habe ich nichts zu tun.«

»Jaaa, Ma’am.«

Rina entspannte sich und schenkte ihm ein vages Lächeln. »Sie können mich ruhig Rina nennen, Abel. Bei ›Ma’am‹ komm’ ich mir wie sechzig vor. Wie dem auch sei, gehen Sie einfach nach hinten und machen Sie sich bemerkbar. Er ist nicht zu übersehen. Er trägt eine Baseballkappe.«

Abel lachte, und sie schloß die Tür ohne ein weiteres Wort zu sagen. Er schlug den Umschlag mehrere Male gegen die Handfläche, dann nahm er den Seitenweg zum angrenzenden Feld. Plötzlich bemerkte er, wie heftig sein Herz klopfte.

Er wartete eine Weile, bevor er sich Decker zeigte, und beobachtete, wie Cowboy Pete in Shorts und T-Shirt und einer Dos-Equis-Kappe auf dem Kopf einen Apfelschimmel um den Korral ritt. Doc trug immer ein T-Shirt. Abel hatte ihn häufig wegen seiner hellen Haut aufgezogen und ihn Lobster-Boy genannt, weil er in der Sonne so rot wie ein Hummer wurde.

Als Abel ins offene Feld trat, sah er, daß Deckers Blick in seine Richtung ging. Decker wendete sofort und ritt auf ihn zu. Noch bevor das Pferd richtig stehen geblieben war, sprang er herunter, schlang die Zügel um einen Pfosten und legte schwungvoll einen Arm um Abels knochige Schulter.

»Komm mit ins Haus«, sagte er. »Laß uns zusammen ein Bier trinken.«

Abel stopfte Decker den Umschlag in die Shortstasche. »Da. Wir sind quitt.«

Decker zog den Umschlag heraus, befühlte den Inhalt und drückte ihn Abel wieder in die Hand. »Ich hab’ dir doch gesagt, daß das Geld ein Geschenk war.«

»Und ich hab’ gesagt, daß ich’s dir zurückzahl’.«

»Aber ich will es nicht zurück.«

»Es ist mir ehrlich gesagt egal, was du willst.« Abel warf Decker den Umschlag vor die Füße. »Jetzt steh’ ich nicht mehr bei dir in der Kreide. Und keine Sorge, Sergeant. Das Geld gehört mir. Ich hab’s selbst verdient. Und das verdammt hart!«

Abel drehte sich um und humpelte so schnell er konnte zurück.

»Scheiße, ich kann doch nicht …« Decker hob den Umschlag auf und lief Abel hinterher. Er packte ihn an der Schulter. »Hey, wart doch einen Augenblick, ja?«

»Nimm die Pfoten weg«, sagte Abel.

»Beruhige dich doch …«

»Ich hab’ gesagt, du sollst die Pfoten wegnehmen.«

»Mach’ ich, sobald du dich beruhigt hast.«

Abel schlug Deckers Arm von seiner Schulter. Dieser plötzliche Stoß brachte Decker aus dem Gleichgewicht. Abel ging zwei Schritte zurück und machte einen Buckel wie eine bedrohte Katze. »Wenn ich sage, du sollst deine verdammten Pfoten wegnehmen, dann meine ich sofort, Kumpel. Ich mag zwar ein Krüppel sein, aber dir bin ich immer noch gewachsen.«

Decker wurde rot. »Ich meinte ja bloß …«

»Du meintest ja bloß, du meintest ja bloß …«, äffte Abel ihn nach.

»Ach, verpiß dich«, sagte Decker. »Ich hab’ es verdammt nicht nötig, meine Absichten zu verteidigen. Yeah, du bist ein Krüppel. Aber nicht nur ein körperlicher Krüppel, viel schlimmer, du bist ein emotionaler Krüppel …«

»Ach du lieber Gott!« Abel warf die Hände in die Luft. »Da hast du mir aber eine tolle Einsicht verschafft!«

Decker hatte das Gefühl, als würde er gleich explodieren, sprach jedoch mit ruhiger Stimme. »Ich hab’ die Schnauze voll von dir, von deinem Gerede und deinen Problemen. Such dir doch ’nen anderen Idioten, der dich rauspaukt. Laß dich nie wieder blicken.«

Er schleuderte Abel den Umschlag gegen die Brust. »Ich brauch’ die Knete nicht. Verpraß sie doch mit deinen verdammten Nutten.«

Abel ließ das Geld auf die Erde fallen, strich über seinen Bart und zeigte ein seltsames Lächeln. Er schob eine Hüfte vor und sagte: »Du solltest dich mal lieber an die eigene Nase packen. Soweit ich mich erinnere, mußte ich immer deinen Arsch aus den Hütten zerren.«

»Bloß weil du meinen Arsch in die Hütten gezerrt hast.«

»Du hast dich aber nie darüber beklagt, Decker.«

»Du hast zu eifrig nach Fotzen geschnuppert, um das zu hören.«

»Eifersüchtig auf meine Erfolgsquote?«

»Leck mich am Arsch, Atwater. Bloß weil wir zusammen auf Tour waren, brauchst du dich und mich nicht in einen Topf zu werfen.«

»Hey, Decker, dein Gedächtnis muß wohl mal ’n bißchen geölt werden. Ich kann mich erinnern, daß du’s in Bangkok richtig Klasse fandst …«

»Mann, ich wollte überhaupt nicht nach Bangkok. Du wolltest nach Bangkok!« Decker brüllte mittlerweile. »Ich wollte nach Hawaii! Ich wollte nur am Strand sitzen, ohne daß man mir den Arsch wegschießt. Aber das war ja nicht gut genug für den Obergefreiten Atwater. Honest Abe wollte Aufregung. Vietnam war ihm nicht aufregend genug, er wollte noch mehr. Bangkok war ganz bestimmt nicht meine Idee. Bangkok war deine Idee!«

»Wenn du unbedingt nach Hawaii wolltest, warum bist du denn dann nicht nach Hawaii gefahren, verdammt noch mal?«

»Soll ich dir sagen, warum?« schrie Decker.

»Yeah, sag mir, warum!« schrie Abel zurück.

»Ich werd’s dir sagen!«

»Dann sag’s doch endlich, du Arschloch!«

»Ich bin nach Bangkok gefahren, weil du Weiber wolltest und Weiber in Bangkok billiger waren!«

»In der Hinsicht ist es dir ja in Bangkok auch nicht so schlecht ergangen!«

»Woher willst du denn wissen, was ich gemacht hab’? Du hast doch die ganze Zeit rumgebumst wie ein geiler Köter.«

»Hab’ aber trotzdem mitgekriegt, daß du ’ne schlitzäugige Fotze mit auf dein Zimmer genommen hast. Ich meine mich zu erinnern, daß drei Tage vergingen, bevor du das arme Ding mal wieder an die frische Luft gelassen hast!«

Aus den Augenwinkeln heraus sah Decker Rina in der Tür stehen. Sie hatte eine Hand auf den Mund gelegt, und ihre Augen starrten ihn an.

Wieviel hatte sie gehört?

Er spürte, daß er vor Scham glühte und ihm vor Wut ganz heiß wurde. In blindwütigem Zorn sprang er Abel an, und sie landeten beide auf der Erde.

»Du hast anständig zu reden, wenn meine Frau in der Nähe ist!« brüllte Decker, während er gleichzeitig versuchte, Abel zu Boden zu drücken. Doch Abel war stärker, als er aussah. Er nahm seinen Stock und rammte ihn Decker in die Magengrube. Decker krümmte sich, aber schaffte es trotzdem, Abel den Ellbogen voll in den Bauch zu stoßen. Der Schlag nahm Abel den Atem, beeinträchtigte aber nicht seine Reflexe. Er sah, wie Decker mit der Faust auf ihn zukam, rollte herum und hörte Decker schreien, als er mit den Fingern auf die Erde schlug. Er zog Decker den Stock über den Rücken, während dieser ihn gleichzeitig an den Haaren packte.

Decker riß Abels Kopf an den Haarwurzeln hoch und wollte ihn gerade auf den Boden knallen, als er ein leichtes Trommeln auf dem Rücken spürte, als ob ihn jemand sanft abfrottierte. Was, zum Teufel, ist das? dachte er. Dann hörte er, wie Rina ihn anbrüllte.

»Hört auf!« kreischte sie. »Alle beide! Hört sofort auf!«

Decker ließ Abels Haare los.

»Bist du verrückt geworden, Peter!« Rina war außer sich. Decker spürte, wie sie ihn am T-Shirt packte. »Runter von ihm! Runter!« Sie zog so fest an einem Shirt, daß es riß und sie rückwärts strauchelte.

Abel fing an zu lachen. Decker versuchte, sich zu beherrschen, doch es gelang ihm nicht. Er ließ sich auf den Rücken rollen und brach ebenfalls in schallendes Gelächter aus.

Rina starrte sie wütend an. Sie hielt ein Stück Stoff in der Hand und schnaufte von der Anstrengung. Zwei Idioten, die sich die Bäuche hielten, vor Vergnügen brüllten und sich auf dem Boden wanden wie die kleinen Kinder. Nein, kleine Kinder hatten mehr Verstand. Sie waren zwei ungezogene Jungs, so wie ihre Söhne, wenn sie ihr einen Streich gespielt hatten.

Die gute Mom. Zielscheibe aller Späße. Ein Teil von ihr wäre am liebsten davonstolziert, während ein anderer gern mit ihnen herumgealbert hätte. Doch sie wußte von ihren Kindern, daß es ihnen den Spaß verderben würde, wenn sie mitlachte. Also hielt sie ihre strenge Miene aufrecht.

»Ihr solltet euch schämen«, sagte sie, so ernst sie konnte.

Wie Rina geahnt hatte, lachten sie noch lauter. Sie schüttelte den Kopf. »So ein unglaublich kindisches Verhalten!« Dann drehte sie sich auf dem Absatz um, wartete aber, bis sie im Haus war, bevor sie sich ein Grinsen erlaubte.

Abel lachte inzwischen so heftig, daß ihm Tränen die Wangen herunterliefen. »Junge, du kriegst Ärger!«

»Großen Ärger«, sagte Decker.

»Richtig großen Ärger«, sagte Abel. »Das Bumsen kannst du dir wohl für heute abend abschminken.«

Decker runzelte die Stirn. »Nein, so schlimm ist es nun wieder auch nicht.«

»Das glaubst du. Sie war stinksauer.«

»Yeah, das war sie.« Decker hatte inzwischen aufgehört zu lachen. »Sie hat sich schon aufgeregt, aber nicht sosehr.«

»Das meinst du, weil du dir immer noch vormachst, ’ne Chance zu haben«, sagte Abel.

Decker lächelte.

Beide saßen eine Weile schweigend da und sahen in den strahlend blauen Himmel. Die Sonne brannte auf ihren Gesichtern. Plötzlich lachte Abel leise vor sich hin. »Verdammt, wenn ich ’ne Nacht mit ihr versäumen würde, würd’ mich das auch ganz schön fertigmachen.« Er sah Decker an und sagte: »Sie ist eine schöne Frau, Doc. Und außerdem unheimlich nett. Herzlichen Glückwunsch.«

»Danke.« Decker lächelte Abel erneut zu, aber diesmal fehlte die Wärme.

»Da kriegt man ganz schön Schiß, was?« sagte Abel.

»Wie meinst du das?«

»Ich meine, du mußt dich doch ständig fragen: ›Was, zum Teufel, sieht sie in mir?‹«

Decker seufzte. »Du merkst aber auch alles.«

»Ich weiß halt, wie das ist«, sagte Abel. »Es ist beängstigend, wenn sie so schön sind … so klug. Es ist fast wie … ein Fluch. Denn wenn man sie verliert, geht man kaputt.«

»Ich versuche, nicht so zu denken«, antwortete Decker.

Deckers Stimme hatte einen angespannten Unterton. Abel antwortete nicht. Wieder herrschte Schweigen. Abel schloß die Augen und ließ die Sonne sein wundes Herz wärmen. »Tu mir nur einen Gefallen, Doc.«

»Was denn?«

»Wenn Rina je nach einem billigen Vergnügen ist, schick sie zu mir.«

»Wenn ich sie dir schicke, Abel, wird sie mir zu sehr verwöhnt.«

Abel lachte.

»Also was ist, Obergefreiter Atwater?« sagte Decker.»Bist du bereit, dich wieder wie ein normaler Mensch zu verhalten?«

»Ich werd’ mich bemühen.«

Beide lachten.

»Behalt das Geld«, sagte Abel.

»Ich will das Geld nicht. Besorg dir dafür einen guten Anwalt.«

»Man hat mir ’nen neuen Pflichtverteidiger gegeben, ’ne Frau. Sie ist ganz gut, redet schon vor Urteilsabsprache. Kauf deiner Frau was Hübsches. Ein Blumenstrauß kann schon Wunder wirken.«

»Ich glaube nicht, daß Rina so leicht käuflich ist.«

»Du würdest dich wundern«, sagte Abel. »Ich mach’ dir ’nen Vorschlag, Doc. Ich kauf’ ihr Blumen, und du sagst, sie wären von uns beiden.«

»Einverstanden.« Decker stand auf und hielt Abel die Hand hin. Dann zog er ihn hoch. »Sag deiner Pflichtverteidigerin, sie soll mich anrufen. Zu Hause.«

»Was ist los?« Abel versuchte, die Erregung aus seiner Stimme zu halten, doch an Deckers Gesichtsausdruck konnte er ablesen, daß ihm das nicht gelungen war.

»Abe, ich bin in einer prekären Lage mit dem, was ich da für dich tue«, antwortete Decker ganz ruhig. Prekär war noch stark untertrieben. Er unternahm einen gefährlichen Balanceakt, indem er Cop spielte, um Informationen für die Verteidigung zu kriegen. Pete, der Spion. Das hörte sich nicht gut an. Er atmete heftig aus und sagte: »Je weniger du weißt, desto besser. Sag ihr nur, Sie möchte mich anrufen, okay?«

»Wie du meinst, Pete. Und setz dich wegen mir nicht in die Scheiße, hörst du …«

»Schnauze, Atwater!« Decker rieb sich die Schulter. »Für ’nen Kumpel hast du ’nen ganz guten Schlag.«

»Weißt du, was ich jetzt am liebsten machen würde?«

»Was denn?«

»Ein Mann-gegen-Mann-Spielchen.«

Decker brach wieder in sein neu entdecktes Lachen aus.

»Ich mein’ das ernst«, sagte Abel.

»Na hör mal, Abe …«

»Todernst.«

»Abe, wir sind über Vierzig, und es ist heiß draußen.«

»Seit wann stellst du dich so an?«

»Seit ich Rina kenne und mir klargeworden ist, daß ich gern noch lange durchhalten möchte.«

»Ich mach’s dir ganz leicht.«

Einen Augenblick sprach keiner von beiden.

»Ich bind’ mir eine Hand auf den Rücken«, sagte Abel. »Ein Bein, eine Hand, einfacher geht’s doch wohl nicht mehr, Decker.«

»Du bist aber wirklich wild entschlossen«, sagte Decker.

»Darauf kannst du deinen Arsch verwetten.«

»Ist es eine Macho-Sache?«

»So was in der Art.«

»Okay.« Decker klopfte sich den Hosenboden ab. »Okay. Wir fahren zum MacGrady Park und leihen uns da einen Basketball. Ich hab’ keinen mehr. Laß mich nur noch schnell das Pferd striegeln und Rina Bescheid sagen.«

»Du kannst deiner Süßen Bericht erstatten«, sagte Abel. »Ich kümmere mich um das Pferd.«

Decker nickte. Auf dem Weg zum Haus fragte er sich, was Rina wohl zu ihm sagen würde. Er fand sie am Spülbecken in der Küche beim Kartoffeln schälen. Sie legte den Schäler hin, wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab und schüttelte mißbilligend den Kopf.

»Bist du sauer auf mich?« fragte er.

»Peter, um Gottes willen, er ist ein Krüppel!« sagte Rina.

»Du brauchst dir keine Sorgen um Abel zu machen. Der kann schon auf sich aufpassen.«

»Ihr habt euch absolut kindisch benommen. Alle beide. Ihr habt geredet, als ob diese Dinge erst gestern passiert wären und nicht, was weiß ich, vor zwanzig Jahren?«

»So in etwa.«

»Erstaunlich.«

»Weißt du, es ist ungefähr so, Rina«, sagte Decker. »Egal, wie alt man ist, sobald man das Haus seiner Eltern betritt, ist man wieder deren Kind. Und man macht das Spielchen mit. Mom bedient einen und schimpft einen aus, weil man die Füße auf den Tisch gelegt hat. Und egal, wie selbständig man ist, man sitzt da wie ein Trottel und läßt sich alles gefallen. So ist das auch mit Abel und mir. Wir haben uns als Jugendliche kennengelernt, und wenn wir zusammen sind, verhalten wir uns immer noch wie Jugendliche.«

Sie warf die Hände in die Luft. »Ist er fort?«

»Nein. Er möchte im MacGrady Park ein bißchen Basketball spielen …«

»Das ist doch wohl ein Witz!«

»Er meint, wir wären immer noch zwanzig.«

»Das hast du ihm doch hoffentlich ausgeredet, oder?« sagte Rina.

Decker lächelte sie an. Er wollte ihre Zustimmung, ohne sie direkt fragen zu müssen.

Sie lachte leise. »Na dann viel Spaß, Jungs.«

Decker strich sich den Schnurrbart glatt und überlegte, wie er ihr sagen sollte, was ihn bedrückte. »Weißt du, als junger Mann hab’ ich manchmal etwas unüberlegt gehandelt.«

Rina schwieg.

»Selbst unsere Vorväter waren dagegen nicht immun«, fuhr Decker fort. »In den Kommentaren steht, daß Josua Rahab, die Dirne, geheiratet …«

»O Peter, jetzt komm mir nicht mit der Bibel. Du brauchst nicht zu rechtfertigen, was du getan hast.« Sie lachte erneut. »Du meinst, ich war nicht die erste?«

»Ich sag’s dir ja nur ungern, Kleines.«

»Und ich hab’ die ganze Zeit geglaubt, Cindy wäre jungfräulich gezeugt worden.«

»Sie wurde genauso gezeugt wie deine beiden Söhne«, sagte Decker.

Rina lächelte und senkte den Kopf. Plötzlich schienen ihre Augen in die Ferne zu schweifen.

Decker kannte diesen Blick – süße Erinnerungen an ihren verstorbenen Mann und er beunruhigte ihn. Als er das erste Mal mit Rina geschlafen hatte, war sie extrem schüchtern gewesen. Decker hatte gewußt, daß das zum Teil aus Schamgefühl war, hatte aber irrtümlich angenommen, daß es teilweise auch an ihrer Unschuld lag. Doch nachdem sie einige Male miteinander geschlafen hatten, wurde Decker schmerzlich bewußt, daß er ihr keine neuen Finessen beibringen konnte. Plötzlich hatten sich die Rollen verkehrt, und nun war sie diejenige, die das Liebesspiel virtuos beherrschte. Sie hatte nur ein bißchen Übung gebraucht, um ihre Fingerfertigkeit wiederzuerlangen. Tatsächlich rangierte Rina für Decker unter seinen besten, ein Ehrenplatz, den sie mit so denkwürdigen Persönlichkeiten wie einem Callgirl in Las Vegas und einer fünfundzwanzigjährigen Nymphomanin namens Candy teilte, die er mal wegen öffentlicher Aufforderung zur Unzucht festgenommen hatte.

Rinas Erfahrenheit beunruhigte ihn wirklich.

Das stellte auch ihren verstorbenen Mann Yitzchak in ein völlig anderes Licht. Bevor er mit Rina geschlafen hatte, hatte Decker immer angenommen, der freundliche Talmudgelehrte hätte ein langweiliges und sittsames Leben geführt. Jetzt mußte sich Decker über die zwiespältige Persönlichkeit dieses Mannes wundern. Ein jüdischer Superman – tagsüber ein eifriger Bocher und nachts ein Sexprotz.

Rina kannte sich eindeutig mit dem Körper eines Mannes aus. Und Decker wußte, daß es nur einen Mann in ihrem Leben gegeben hatte. Er hätte brennend gern gefragt, wie Yitzchak so gewesen war, wußte jedoch, daß es ihm im Grunde nur um eine Bestätigung seines Egos ging.

Unaufgefordert hatte sie Decker erklärt, er sei wunderbar. Aber sie fand alles, was er machte, wunderbar. Decker hoffte, daß seine Liebeskünste besser waren als seine Tischlerarbeiten.

Rina hatte immer noch diesen entrückten Blick in den Augen. Jetzt reichte es Decker. Er fragte: »Willst du mitkommen?«

»Huch?«

»Huhu, aufwachen!« Er wedelte mit seiner Hand vor ihren Augen. »Willst du mit uns in den Park kommen? Ist zwar kein sehr verlockendes Angebot, aber sicher besser als Kartoffeln schälen.«

»Klar. Warum nicht?«

Abel brauchte weniger Zeit für das Pferd als Decker für sein Gespräch mit Rina. Zwanzig Minuten später sah Abel Decker und Rina aus dem Haus kommen. Er trug zwei Sechserpacks Bier, sie hielt die Autoschlüssel in der Hand. Ihre Haare hatte sie unter ein Tuch gesteckt, doch ihr Gesicht war strahlend wie immer. Sie blieb vor Abel stehen und setzte eine verärgerte Miene auf. Nur so konnte sie verhindern, daß sie laut loslachte.

»Ich komme aus zwei Gründen mit«, sagte Rina.

»Und die wären, Ma’am?« fragte Abel.

»Erstens, weil Peter Bier trinken will, und ich möchte nicht, daß er Auto fährt, wenn er was getrunken hat.«

»Das ist klar«, sagte Abel. »Und was ist der zweite Grund, Ma’am?«

»Peter hat mir gerade erst Mund-zu-Mund-Beatmung beigebracht«, sagte Rina. »Das heißt, ich bin noch ganz unerfahren, also stellt bitte mein Können nicht auf die Probe.«

»Nein, Ma’am«, sagte Abel. Doch er konnte nur noch daran denken, wie ihre Lippen an seinen klebten und ihr Atem seine Lunge füllten. Diese Vorstellung setzte ihm ganz schön zu.