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Die Bewegung war so flüchtig, daß Decker sie bestimmt nicht wahrgenommen hätte, wäre er kein Profi. Er riß das Lenkrad nach links und trat voll auf die Bremse. Das braune Zivilfahrzeug quietschte und bockte und wechselte dann eigensinnig mitten auf der leeren Kreuzung die Richtung. In der Hoffnung, genauer feststellen zu können, was seine Aufmerksamkeit erregt hatte, fuhr Peter Decker die menschenleere Straße zurück.
Der Plymouth war schon wieder falsch eingestellt. Diesmal zog er nach rechts. Wenn er ein bißchen Zeit hätte, würde Decker sich selbst darum kümmern, den Wagen aufbocken und mal durchchecken. Die Polizeiwerkstatt war ein Witz. Überarbeitet und unterbezahlt, wie die Mechaniker waren, schufen sie meist ein neues Problem, wenn sie gerade eins behoben hatten. Unter den Kollegen wurden gern Wetten abgeschlossen, was als erstes kaputtgehen würde, wenn ein Fahrzeug aus der Werkstatt zurückkam – sechs zu eins war es ein leckender Kühler, vier zu eins ein verstopfter Vergaser, drei zu eins eine defekte Klimaanlage, wobei sich hier im Sommer die Chancen auf zwei zu eins erhöhten.
Decker fuhr sich mit den Fingern durch sein dichtes rotes Haar. Die Gegend war wie ausgestorben. Was auch immer er gesehen hatte, es war wohl nichts Wichtiges gewesen. Um ein Uhr morgens spielten einem die Augen schon mal einen Streich. Parkende Autos wirkten in der Dunkelheit wie riesige Schildkröten, aus dünnen Zweigen wurden hängende Skelette. Selbst eine größere Wohnsiedlung wie diese verwandelte sich in eine Geisterstadt. Die Reihen hellbraun verputzter Häuser waren zu Hafermehlklumpen erstarrt, beleuchtet vom Mondschein und dem bläulichweißen Licht der Straßenlaternen an den Ecken.
Er ging auf Kriechtempo herunter und schaltete das Fernlicht ein. Vielleicht war es nur eine Katze gewesen, in deren Augen sich das Licht widergespiegelt hatte. Doch das Leuchten hatte sich nicht auf eine bestimmte Stelle konzentriert, sondern war eher eine Welle winziger Blitze gewesen, wie von silbernen Fingernägeln, die über die Tastatur eines Klaviers gleiten. Aber als er nun hinausspähte, konnte er nichts Ungewöhnliches entdecken.
Die auf dem Reißbrett entworfene Siedlung war noch ganz neu, die Straßen rochen nach frischem Teer, die Bäume am Straßenrand waren gerade erst gepflanzt. Es handelte sich um einen dieser Kompromisse zwischen Umweltschützern und Baufirma, mit dessen Ergebnis keine der beiden Parteien zufrieden war. Seit den Schiebungen im Wahlkreis Northeast Valley sprangen sie sich ständig gegenseitig an die Gurgel. Dieses Projekt hier war rasch hochgezogen worden, um die Wogen zu glätten, doch der Krieg zwischen den Parteien war keineswegs vorbei. Dazu gab es noch viel zu viel unerschlossenes Land, über das man sich streiten konnte.
Decker kurbelte die Scheibe herunter, lehnte sich zurück und versuchte, sich zu strecken. Irgendwann würde die Stadt vielleicht auch mal ein Zivilfahrzeug anschaffen, in dem jemand von seiner Statur genügend Platz hatte, doch bis dahin hing er immer mit den Knien unterm Lenkrad. Die Nacht war mild, und bis jetzt gab es auch noch keinen Nebel. Die Sicht war gut.
Was, zum Teufel, hatte er gesehen?
Wenn er am nächsten Tag arbeiten müßte, hätte er längst aufgegeben und wäre nach Hause gefahren. Doch an seinem freien Tag erwartete ihn nichts weiter als eine Verabredung zum Mittagessen mit einem Geist. Bei dem Gedanken drehte sich ihm der Magen um, und er versuchte, die Sache zu vergessen – ihn zu vergessen. Mit der Vergangenheit sollte man sich lieber bei Tageslicht auseinandersetzen.
Sicherheitshalber noch einmal um den Block herum. Wenn sich nichts rührte, würde er nach Hause fahren.
Er war ein hartnäckiger Kerl, auch das machte ihn zu einem guten Cop. Außerdem war er nicht müde. Er hatte am frühen Abend ein Nickerchen gemacht, kurz vor seiner wöchentlichen Bibelstunde bei Rabbi Schulman. Der alte Mann war bereits Mitte Siebzig, trotzdem hatte er mehr Energie als manche Leute, die nur halb so alt waren. Drei Stunden lang hatten sie zusammen studiert. Um Mitternacht, als der Rabbi immer noch keine Anzeichen von Müdigkeit zeigte, hatte Decker erklärt, er könne nicht mehr.
Der alte Mann hatte lächelnd seinen Talmud-Band zugeklappt. Sie beschäftigten sich gerade mit dem Zivilrecht über verlorene und gefundene Gegenstände. Nach dem Unterricht hatten sie sich noch ein bißchen unterhalten und ein paar Zigaretten geraucht – für Decker die erste Ladung Nikotin an diesem Tag. Eine halbe Stunde später war er mit einem Stapel Papiere losgezogen, die er bis nächste Woche lesen sollte.
Doch er war zu aufgedreht gewesen, um nach Hause zu fahren und zu schlafen. Seine übliche Methode gegen Schlaflosigkeit waren lange Fahrten in die Ausläufer der San Gabriel Mountains – um die Schönheit der unverdorbenen Landschaft in sich aufzunehmen mit ihren Hügeln voller Wildblumen und buschigem Gras, den knorrigen Eichen und den honigfarbenen Ahornbäumen. Die Ruhe und Einsamkeit dort legten sich wie eine wohlige Decke über ihn, und schon nach kurzer Zeit war er normalerweise entspannt genug, um schlafen zu können. Er war gerade auf dem Heimweg, als er dieses Aufblitzen bemerkt hatte. Obwohl er sich einzureden versuchte, daß es keine Bedeutung hatte, sagte ihm irgend etwas in seinem Inneren, er solle nicht lockerlassen.
Nachdem er noch einmal um den Block gefahren war, hielt er zögernd am Straßenrand an und stellte den Motor aus. Er saß einen Augenblick still da und strich über seinen Schnurrbart, dann schlug er auf das Lenkrad und öffnete die Autotür.
Was sollte es, der Spaziergang würde ihm guttun. Da könnte er sich ein wenig die Beine vertreten. Auf der Ranch wartete sowieso niemand auf ihn. Das heimelige Kaminfeuer war seit langem verlöscht. Decker mußte an sein Telefongespräch mit Rina am frühen Abend denken. Sie hatte sich wirklich einsam angehört und angedeutet, daß sie zu Besuch nach Los Angeles kommen wollte – sie allein, ohne ihre beiden Söhne. Mann, hatte er sich begierig angehört – viel zu begierig. Er war so erregt gewesen, daß sie vermutlich seinen Ständer über die Telefonleitung hinweg gesehen hatte. Decker fragte sich, ob er sie womöglich abgeschreckt hatte und nahm sich vor, sie morgen früh anzurufen.
Er befestigte sein tragbares Funksprechgerät am Gürtel, schloß den Wagen ab und öffnete den Kofferraum. Die Kofferraumbeleuchtung war kaputt, aber er konnte genug sehen, um sich in dem Chaos zurechtzufinden – Erste-Hilfe-Ausrüstung, ein Päckchen Plastikhandschuhe, Beutel für Beweismaterial, Seil, eine Decke, Feuerlöscher – wo hatte er bloß die Taschenlampe hingetan? Er hob die Decke hoch. Da war sie! Und erstaunlicherweise hatten die Batterien sogar noch Saft.
Eine rasche Suche zu Fuß.
Die frühe Morgenluft war angenehm auf seinem Gesicht. Er hörte, wie seine eigenen Schritte in der Stille der Nacht widerhallten, und hatte das Gefühl, als ob er in jemandes Privatsphäre eindringen würde. Irgendwas huschte an seinen Füßen vorbei. Ein kleines Tier – eine Ratte oder eine Eidechse. Hunderte davon irrten in der Siedlung herum und waren stinksauer darüber, daß sie durch die Fundamente der Häuser verdrängt worden waren. Aber das war’s nicht, was er gesehen hatte. Es war größer gewesen, mindestens so groß wie ein Hund oder eine Katze. Und es hatte einen merkwürdigen Gang gehabt – irgendwie schwankend, als ob es betrunken wäre.
Er ging einen halben Block Richtung Norden und leuchtete mit seiner Taschenlampe zwischen die beinah identischen Häuser. Da gab’s nicht viel zu beleuchten. Die Häuser stießen fast aneinander und wurden nur durch frisch gepflanzte Eugenienhecken getrennt. Die Häuser waren billig gebaut. Der Putz war kaum trocken, da bekam er schon Risse. Vor den Häusern waren nur kleine Stücke Rasen. Auf vielen standen Hollywoodschaukeln und Gartenmöbel aus Aluminium. Einige Einfahrten dienten als Abstellplatz für Spielsachen, Fahrräder, Laufstühle, Schläger und Bälle. In den ordentlicheren Einfahrten standen Vans oder Kombiwagen sowie kleine Motorboote. Lake Castaic war nur fünfzehn Minuten entfernt. Damit hatte die Baufirma geworben, und es war ihr auf diese Weise gelungen, junge Familien anzulocken. Zehn Prozent Ermäßigung und eine günstige Finanzierung waren auch nicht gerade von der Hand zu weisen gewesen.
Er schlenderte bis ans Ende der Straße – sie hieß Pine Road – und ging auf der anderen Seite zum Wagen zurück. Da hörte er ein Stück entfernt ein leises Pfeifen. Ein vertrauter Laut, den er schon oft gehört hatte, aber im Augenblick nicht einordnen konnte.
Er lief in die Richtung, aus der das Pfeifen kam. Der Ton wurde ein bißchen lauter, dann verstummte er. Er wartete eine Minute.
Nichts.
Frustriert beschloß er, nach Hause zu fahren, da hörte er das Pfeifen wieder, diesmal von etwas weiter her. Was auch immer die Laute von sich gab, es bewegte sich, und das verdammt fix.
Er rannte zwei Blocks die Pine Road entlang und bog dann in die Ohio Avenue. Die Baufirma hatte sich bei den Straßennamen als besonders phantasievoll erwiesen. Die von Norden nach Süden hießen nach Bäumen, die von Osten nach Westen nach Staaten.
Der Ton wurde schriller, einer, der Decker nur allzu vertraut war. Sein Herz begann zu rasen. Er spürte einen Adrenalinstoß. Die Laute waren jetzt ganz deutlich wahrnehmbar – ein helles jammern. Verdammt seltsam, daß nicht die ganze Gegend davon wach geworden war.
Er lief in die Richtung, aus der das Gejammer kam, und forderte dabei per Funk Unterstützung an – Schreie Ecke Ohio und Sycamore gehört. Dann zog er seine Waffe.
»Polizei!« rief er. »Keine Bewegung!«
Seine Stimme hallte durch die Dunkelheit. Das Weinen hielt an, war allerdings etwas leiser geworden.
»Polizei!« brüllte Decker erneut.
Eine Tür ging auf.
»Was machen Sie da draußen?« fragte eine tiefe Männerstimme schlaftrunken.
»Polizei«, antwortete Decker. »Bleiben Sie im Haus, Sir.«
Die Tür knallte zu.
Auf der anderen Straßenseite leuchtete im Obergeschoß ein Fenster auf. Ein Gesicht erschien zwischen den Gardinen.
Erneut verstummte das Weinen. Stille, dann ertönte der Gesang einer Spottdrossel begleitet von einem Grillenchor.
Das Gejammer begann von neuem, diesmal waren es heftige Schluchzer, zwischen denen immer wieder nach Luft geschnappt wurde. Offenbar eine Frau, möglicherweise ein Vergewaltigungsopfer.
Er wäre also ohnehin gerufen worden.
»Polizei!« rief Decker in die Richtung, aus der das Weinen kam. »Bleiben Sie, wo Sie sind, Ma’am. Ich möchte Ihnen helfen.«
Das Schluchzen hörte auf, doch er hörte deutlich Schritte, die durch die Eugenien stapften, gefolgt von dem Quietschen ungeölten Metalls. Decker spürte, wie seine Finger den Griff der Beretta umklammerten. Die Wolken am Himmel hatten die Farbe von Austern, das Gesicht des Mannes im Mond lächelte. Es war hell genug, um auch ohne Taschenlampe ganz gut sehen zu können.
Dann sah Decker etwas Metallisches aufblitzen!
Er sprang hinter den Eugenien hervor und brüllte: »Keine Bewegung!«
Die Reaktion war ein überraschtes Kichern.
Das Kind war offenbar noch keine zwei Jahre alt, es hatte nämlich immer noch die runden Bäckchen eines Babys. Schwer zu sagen, ob es ein Junge oder ein Mädchen war, jedenfalls hatte es den ganzen Kopf voller Ringellocken und große runde Augen. Es saß vor einem der Häuser auf einem Schaukelpferd und wiegte sich hin und her. Kleine Händchen hielten sich an den Griffen fest, die Augen waren staunend nach oben gerichtet. Decker wurde bewußt, daß er immer noch die Waffe in der Hand hielt, einen Finger am Abzug. Zitternd steckte er die Automatik wieder in das Schulterholster und bestellte per Funk die Unterstützung ab.
»Runter«, befahl ein zartes Stimmchen.
»Um Himmels willen!« Decker hielt das Schaukelpferd an. Das Kind kletterte herunter.
»Hoch«, sagte es und streckte die Hände in die Luft.
Decker hob das Kind hoch. Sofort schmiegte es den Kopf an seine Brust. Er streichelte die seidigen Löckchen.
»Ich ruf’ die Polizei!« schrie eine verängstigte Stimme aus dem Haus.
»Ich bin die Polizei«, antwortete Decker. Er ging zur Haustür und hielt seine Dienstmarke vor den Spion. Die Tür öffnete sich einen Spalt, die Kette blieb vorgelegt. Decker konnte unrasierte Haut und ein dunkles, mißtrauisches Auge erkennen.
Decker sagte: »Ich hab’ dieses Kind auf dem Rasen vor Ihrem Haus gefunden.«
»Mein Gott!« sagte eine erstickte Frauenstimme.
»Wissen Sie, wem dieses Kind gehört?« fragte Decker.
»Kennste das Kind, Jen?« fragte der Mann schroff.
Die Tür ging ganz auf.
»Den haben sie vor meinem Haus gefunden?« sagte Jen. Sie schien Anfang Dreißig zu sein, hatte dunkelbraunes Haar, das zu einem Knoten gedreht war. »Das ist ja noch ein Baby!«
»Ja Ma’am«, sagte Decker. »Ich hab’ ihn oder sie auf Ihrem Schaukelpferd gefunden.«
»Ich hab’ das Kind noch nie im Leben gesehen«, antwortete Jen.
»In dieser Gegend hier wimmelt es von so kleinen Würmern«, sagte der unrasierte Mann. »Ich kann Ihnen nur sagen, daß er ganz bestimmt nicht von uns ist.«
»Hier leben viele junge Familien«, sagte Jen und zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Es ist schwierig, sich all die Kinder zu merken.«
»Es hat keinen Sinn, die ganze Nachbarschaft aufzuwecken. Morgen früh werden wir sicher einen Anruf von den völlig aufgelösten Eltern kriegen. Das Baby bleibt solange auf dem Polizeirevier Foothill. Könnten Sie das hier weitererzählen?«
»Klar, Officer, machen wir«, sagte Jen.
»Ich geh’ wieder rauf«, sagte ihr Mann. »Weiterschlafen.«
»Meine Güte.« Jen schüttelte den Kopf. »Dieses süße Ding war direkt vor meinem Haus?«
»Ja, Ma’am.«
Jen streichelte das Kind unterm Kinn. »Na, Schätzchen. Möchtest du ein Plätzchen?«
»Ich glaube, wir sollten dem Kind jetzt nichts zu essen geben«, meinte Decker. »Es ist ein bißchen spät.«
»Ja natürlich, da haben Sie recht«, sagte Jen. »Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten?«
»Nein danke, Ma’am.«
»Was hat ein Baby mitten in der Nacht da draußen verloren?« Jen streichelte das Kind erneut unterm Kinn.
»Keine Ahnung, Ma’am.« Decker gab ihr seine Karte. »Rufen Sie mich an, wenn Sie was hören.«
»Selbstverständlich, mach’ ich. Das Viertel hier ist immer noch einigermaßen überschaubar. Es dürfte nicht allzu schwer sein, die Eltern zu finden.«
»Jennn!« brüllte der Mann von oben. »Komm endlich! Ich muß früh raus.«
»Was werden Sie mit ihm machen?« fragte Jen noch schnell. »Oder vielleicht ist es auch eine Sie. Sieht aus wie ein kleines Mädchen, meinen Sie nicht?«
Decker lächelte nichtssagend.
»Was machen Sie mit so herumirrenden Kindern? Das arme kleine Ding.«
»Es wird sich jemand darum kümmern, bis wir die Eltern ausfindig gemacht haben.«
»Kommt die Kleine in ein Heim?«
»Jennn!«
»Dieser Mann macht mich wahnsinnig!« flüsterte Jen Decker zu.
»Danke, daß Sie sich für mich Zeit genommen haben, Ma’am«, sagte Decker. Die Tür ging hinter ihm zu, und die Kette wurde wieder vorgelegt.
Decker sah das Kind an und sagte: »Wo, zum Kuckuck, kommst du bloß her, Kumpel?«
Das Kind lächelte.
»Du hast ja schon Zähne. Wie viele denn? Zehn Stück?«
Das Kind starrte ihn an und spielte an einem Knopf von seinem Hemd herum.
»Wo wir schon so spät auf sind, was hältst du davon, wenn wir noch auf ’nen Schlummertrunk zu mir gehn?«
Das Kind kuschelte seinen Kopf an Deckers Schulter.
»Willst wohl lieber schlafen, was? Dann mußt du ein Mädchen sein. Das ist mein Schicksal.«
Decker steuerte auf den Plymouth zu.
»Weiß der Himmel, wie du weggelaufen bist. Deine Mom trifft morgen früh der Schlag.«
Das Kind schob einen Arm unter sich.
»Bist aber ein anschmiegsames kleines Ding. Erstaunlich, daß ich dich überhaupt gesehn hab’. Muß wohl der glänzende Reißverschluß an deinem Pyjama …«
»Jama«, sagte das Kind.
»Yeah, Pyjama. Was hat der überhaupt für ’ne Farbe? Rot? Na ja, irgendwie rötlich. Ich wette, du bist ein Mädchen.«
»Mechen«, plapperte das Kind nach.
Decker verging das Lächeln. Irgendwas war in der Luft. Jetzt roch er es – ein unangenehmer Geruch an seinen Händen und vorn auf dem Pyjama des Kindes. Geronnenes Blut. Es war ihm zunächst nicht aufgefallen, weil es sich kaum von der Farbe des Schlafanzugs abhob.
»Jesus!« flüsterte er. Seine Hände begannen zu zittern. Er legte die Arme fester um das Kind, lief zum Wagen und schloß die Tür auf.
Wo, zum Teufel, kam das Blut her!
Er legte das Baby auf den Rücksitz und zog den Reißverschluß vom Schlafanzug auf. Dann leuchtete er mit der Taschenlampe auf den kleinen Körper. Die Haut war weich und rosig wie eine Nektarine. Nicht ein Kratzer auf Brust, Rücken oder Schultern. An Unterarmen und Handgelenken hatte das Kind einen trockenen Ausschlag, aber ansonsten war seine Haut nirgends aufgesprungen und wies keinerlei Verletzungen auf. Decker drehte das Kind um. Am Rücken war auch nichts.
Er hielt die Luft an und betete, daß er es nicht wieder mit einem üblen Fall von sexuellem Mißbrauch zu tun hatte. Er öffnete die Windel. Sie war zwar naß, aber soweit er feststellen konnte, war das Kind unversehrt. Es war tatsächlich ein Mädchen, und aus keiner Körperöffnung floß Blut. Er machte die Windel so gut es ging wieder fest, dann prüfte er Hals, Kopf, Ohren und Nase. Das Kind ließ die improvisierte Untersuchung stoisch über sich ergehen.
Keine Anzeichen für äußere oder innere Blutungen.
Decker atmete hörbar aus. Er wickelte das Kind in eine Decke und steckte den Schlafanzug in einen Plastikbeutel. Dann schnallte er die Kleine so gut wie möglich auf dem Rücksitz an und fuhr zum Revier.