Kapitel 19

Kirja?« Vikirnoff ließ das Foto in seine Brusttasche gleiten und fuhr herum. »Er ist der Vampir?« Seine Stimme klang nachdenklich. »Kein Wunder, dass er schwer zu finden ist! Kirja war ein großartiger Krieger.«

»Ich fürchte, er ist an einer Verschwörung beteiligt, unseren Prinzen zu töten.«

»Ich habe vor Kurzem mit Gregori gesprochen, und wir haben alle den Verdacht, dass sich eine große Armee zusammenrottet. Was ist mit Kirjas vier Brüdern?«

»Vermutlich stecken sie alle mit drin, doch ich weiß es nicht mit Sicherheit. Als Kirja mit mir sprach, deutete er etwas in der Richtung an.«

Vikirnoff begutachtete eine eigenartige Anhäufung von Felsblöcken, die leicht verschoben wirkten. »Was liegt in dieser Richtung?«

Rafael studierte die Umgebung. »Die Minen.« Seine dunklen Augen funkelten bedrohlich. »Vikirnoff, er hat sich in dem alten Bergwerk versteckt! Colby hat mir erzählt, dass die Eingänge vor Jahren versperrt wurden, weil es da drinnen gefährlich ist. Niemand geht dorthin.«

»Er hätte also keinen leichten Zugang zu menschlicher Beute?«

Rafael schüttelte den Kopf. »Nein, doch er könnte arglose Opfer dort hinlocken. Er ist unglaublich mächtig.«

Vikirnoff nickte. »Ich erinnere mich gut an die Brüder Mali-nov. Schon in ihrer Jugend waren sie alle sehr mächtig.« Seine kühlen Augen ruhten auf Rafael. »Genauso wie deine Familie.«

»Wir waren gute Freunde, und ja, wir haben die Gesetze bis an ihre Grenzen strapaziert, aber wir waren alle einverstanden, meine Brüder ebenso wie Kirjas Brüder, zu unserem Prinzen zu stehen und ein Leben in Ehre zu führen. Ich weiß nicht, warum die Malinovs den dunklen Weg gewählt haben.« Ein Hauch von Trauer schwang in seiner Stimme mit.

Vikirnoff sah ihn scharf an. »Er ist nicht mehr dein Freund aus der Kindheit. Lass uns den Untoten jagen und die Bedrohung für dich und deine Gefährtin beseitigen, bevor die Sonne zu hoch am Himmel steht und uns zwingt, uns in die Erde zurückzuziehen.«

Sie nahmen gleichzeitig eine andere Gestalt an, Vikirnoff die der Eule, Rafael die der Harpyie. Beide flogen dicht über dem Boden und nahmen den direkten Weg zum Bergwerk. Kirja musste unter der Erde sein. Mit welchem Mittel es ihm auch gelungen sein mochte, nach dem ersten Licht der Morgendämmerung wach zu bleiben, die Wirkung konnte nicht lange anhalten, davon war Rafael überzeugt. Mit Sicherheit hatte Kirja seinen Fluchtweg vorbereitet, bevor er den Anschlag auf Colbys Leben unternahm.

Vikirnoff? Findest du es nicht merkwürdig, dass Rhiannons Sohn starb und nichts über das Schicksal ihrer Töchter bekannt ist ? Colby sagt, sie hätte erfahren, dass ihr Vater gestorben wäre, aber nicht, wie oder wann. Rafael klang nachdenklich.

Magier waren nicht unsterblich. Sie hatten ein sehr langes Leben, doch irgendwann fanden auch sie den Tod. Das ist einer der Gründe für ihre Abneigung gegen uns. Trotz all ihrer

Fähigkeiten und all ihrer Macht konnten sie ihr Leben nicht unendlich verlängern. Der Prinz hielt dies für den Grund, warum Rhiannon entführt wurde. Xavier wollte mit ihr Kinder zeugen, die unsterblich waren. Er wollte ihr Blut für sich und seine Nachfahren.

Mit den scharfen Augen der Harpyie entdeckte Rafael etwas frisch aufgeschüttete Erde, als wäre dort ein Maulwurf am Werk gewesen. Er kreiste über der Stelle. Was, wenn es Xavier gelungen ist? Rhiannon hätte ihn sicher nicht freiwillig umgewandelt, doch er mag Mittel und Wege gefunden haben, ihr Blut zu benutzen, um die Umwandlung selbst herbeizuführen. Colby ist der Beweis dafür, dass das Blut der Drachensucher an jemanden weitergegeben wurde, der allem Anschein nach ein Mensch ist. Wir können nicht mit absoluter Gewissheit sagen, dass Xavier oder sein Sohn und sein Enkel tot sind. Das wurde zwar behauptet, aber es gibt keine näheren Informationen.

Vikirnoff erwog die Möglichkeiten. Du hältst es also für möglich, dass unser größter Feind am Leben ist und erwachsene Kinder hat, die ihm helfen könnten, sein Werk fortzuführen?

Rafael entdeckte die Minen, die jetzt direkt vor ihm lagen, und stieg höher auf, um einen weiten Bogen zu ziehen. Kirja würde sich nicht in das Bergwerk zurückziehen, ohne Schutzbarrieren und zahlreiche Fallen zu errichten. Sorgfältig studierte er den Untergrund und die Eingänge zu den zwei Schächten, die beide mit massiven Felsblöcken versperrt waren. Ich halte es für denkbar, ja. Ich glaube nicht, dass ein Kind von Xavier so ohne Weiteres zu töten wäre. Und wenn seine Sprösslinge das Blut der Drachensucher in sich haben, wäre es noch schwieriger.

Nicht weit vom Eingang entfernt landete Rafael in den Ästen einer hohen Tanne. Vikirnoff ließ sich neben ihm nieder. Mit scharfen Augen suchten sie die Umgebung ab, bevor sie sich auf den Boden gleiten ließen und wieder zu Karpatia-nern wurden. Dann untersuchten sie mit ihren scharfen Sinnen jede Richtung, wobei sie der Position der Felsblöcke, die den Eingang versperrten, besondere Aufmerksamkeit schenkten.

»Die Frau, der ich folge«, begann Vikirnoff, »wird von Vampiren gejagt. Wissen sie vielleicht, dass sie das Blut der Drachensucher in sich trägt?«

»Ich weiß es nicht. Durch Colbys Adern fließt auch Drachensucher-Blut, doch davon schien Kirja nichts zu ahnen.« Rafael betrachtete Vikirnoffs scharfe Gesichtszüge. »Mittlerweile stoßen wir so oft auf Verrat, dass es oft unmöglich ist, Freund und Feind voneinander zu unterscheiden. Diese Frau, der du folgst, könnte dich direkt in eine Falle locken.«

Vikirnoff zuckte die Schultern. »Und wenn schon. Ich bin schon lange auf dieser Welt und kein Anfänger. Ich habe im Lauf der Zeit einige Kenntnisse erworben.« Seine Züge verhärteten sich, und ein dunkler Schatten tauchte in seinen schwarzen Augen auf. »Mich bringt keiner so leicht um.« Er schüttelte den Kopf. »Irgendetwas stimmt hier nicht.«

»Ganz deiner Meinung. Es scheint irgendwie verkehrt, auch wenn ich nicht sagen kann, inwiefern.«

»Es geht ein kräftiger Wind, aber die Blätter an den Sträuchern beim Eingang beben nicht einmal. Sie sind völlig starr, obwohl alle anderen Blätter flattern. Der Wind müsste sie alle in Bewegung bringen, nicht nur die in unserer Nähe«, erklärte Vikirnoff.

Rafael beobachtete das Phänomen. »Ist das, was wir sehen, vielleicht ein Trugbild? Eine Szenerie, die Kirja als Schutzbarriere gestaltet hat?«

»Wenn es ein Trugbild ist, dann eines, wie ich es in all den Jahrhunderten der Jagd noch nie gesehen habe. Es wäre sehr schwierig, eine so groß angelegte Täuschung aufrechtzuerhalten, während er in der Erde liegt und schläft.«

»Kirja ist kein gewöhnlicher Vampir«, sagte Rafael. »Auch als Jäger verfügte er über außerordentliche Fähigkeiten, genauso wie alle anderen Mitglieder seiner Familie. Wenn einer der Untoten so etwas bewerkstelligen kann, dann Kirja. Und ich bezweifle, dass er schläft.«

Vikirnoff nahm erneut die vertraute Gestalt der Eule an, breitete die Schwingen weit aus, erhob sich in die Lüfte und flog in immer kleiner werdenden Kreisen über die Minen. Wenn es ein Trugbild ist, dann ein sehr gutes.

»Das ist es«, antwortete Rafael laut. Wieder in der Gestalt des Adlers verließ er den Schutz der Bäume und flog über die massiven Felsbrocken vor dem Eingang. Sie wirkten echt, doch Rafael traute dem äußeren Anschein nicht mehr.

Die Eule flog mit ausgestreckten Krallen, als wollte sie landen, auf den größten Felsen zu. Im letzten Moment schwenkte sie um. Dort ist nichts. Ich wäre auf dem Boden aufgeschlagen.

Rafael landete ein Stück vom Eingang entfernt auf der Erde. »Wir müssen das, was wir sehen, außer Acht lassen und unsere anderen Sinne gebrauchen, um den eigentlichen Zugang zu finden.«

Vikirnoff wechselte neben ihm die Gestalt. »Wir könnten es unterirdisch versuchen. Kirja hat bereits einen Tunnel gegraben.«

Rafael schüttelte den Kopf. »Nicht durch seinen Tunnel. Er ist ein Meister im unterirdischen Kampf. Die Öffnung muss hier irgendwo sein. Ich werde sie finden.« Er wurde zu einer kleinen, unauffälligen Fledermaus.

Vikirnoff beobachtete das Kreisen und Flattern des Nachttieres. Es würde in der Lage sein, jedes Hindernis sofort wahrzunehmen und die exakte Entfernung zu bestimmen. Sehr simpel und sehr clever.

Es ist ein Trugbild. Der richtige Eingang befindet sich etwa drei Meter weiter links. Wir können in Form von Nebel durch die Spalten eindringen. Wenigstens wissen wir jetzt, dass wir am richtigen Ort sind. Wenn Kirja eine so starke Barriere errichtet hat, muss er da drinnen sein. Er konnte nicht erwarten, diese Illusion bei hellem Tageslicht aufrechtzuerhalten.

Vikirnoff folgte Rafaels Beispiel und nutzte das innere Radarsystem der Fledermaus, um die Entfernung von den Felsblöcken zum richtigen Eingang in die Minen abzuschätzen. Vorsichtig ließen sie sich in Form von Dunstschleiern durch eine große Felsspalte in den dunklen Tunnel gleiten. Es war sicherer, diese Form beizubehalten und nicht den Boden oder die Wände zu berühren, wo sie jederzeit eine Falle auslösen konnten. Alles ging gut, bis sie um eine Ecke bogen und sich einem riesigen Spinnennetz gegenübersahen. Die Fäden waren so dicht gewebt, dass selbst ein dünner Dunststreifen nicht hindurchgelangen konnte, ohne die seidigen Fäden zu zerstören. In einer Ecke des Netzes kauerte eine sehr kleine Spinne.

Die Jäger wurden wieder zu Karpatianern und studierten das Gewebe des dichten Spinnennetzes. Es sah zart und seidig aus, ein fragiles Kunstwerk, aber Rafael spürte, wie sich ihm die Nackenhaare sträubten.

»Hast du so etwas schon einmal gesehen?«, fragte Vikirnoff mit einem wachsamen Blick auf die harmlos wirkende Spinne.

Rafael trat näher und bückte sich, um die Fasern näher zu begutachten. Sie schienen zu einem normalen Netz zu gehören, aber es gab keine Löcher, und das Gebilde erinnerte nicht an durchbrochene Spitze. Die Struktur war fest und engmaschig. Er schaute die kleine Spinne an, um die Gattung zu bestimmen. Sie starrte zurück. Ihre Blasenaugen zwinkerten, und plötzlich entdeckte Rafael in ihnen abgrundtiefe Bosheit und Intelligenz. Es war Kirja, der ihn hasserfüllt anstarrte.

Rafael sprang zurück und riss Vikirnoff mit sich, als die winzige Spinne zu Tausenden Spinnen zerbarst, die alle mit gebleckten Giftzähnen auf sie zurasten. Rafael setzte die Tiere schnell in Brand, jedoch nicht bevor es einigen von ihnen gelang, ihre giftigen Hauer in seine und Vikirnoffs Arme und Beine zu schlagen. Die Bisse ließen geschwollene, blutige Wunden zurück, von denen sich das Gift rasend schnell ausbreitete und sich durch Fleisch und Muskelgewebe fraß.

»Er weiß eindeutig, dass wir Jagd auf ihn machen«, sagte Rafael, während er das Gift durch seine Hautporen austreten ließ. Vikirnoff tat dasselbe. »Jeder Schritt, den wir jetzt machen, ist gefährlich. Kirja ist nicht nur gut im Erschaffen von Trugbildern, sondern auch ein Meister im Mutieren von Arten.« Er verbrannte die letzten verbliebenen Spinnen.

Vikirnoff nickte grimmig. »In all den Jahrhunderten des Kampfes gegen die Untoten ist mir noch nie ein so mächtiger Vampir begegnet. Ich glaube, er ist stark genug, jeden von uns zu töten, wenn wir einzeln gegen ihn antreten.«

»Ich fürchte, du hast recht«, erwiderte Rafael.

Sie begannen, dem Tunnel zu folgen, der in einem schrägen Winkel verlief und sie immer tiefer unter die Erde führte. Vorsichtig machten sie einen Schritt nach dem anderen und setzten alle ihre Sinne ein, um drohende Gefahren rechtzeitig zu erkennen. Die Holzbalken über ihren Köpfen waren morsch und verrottet. Auch die Träger, die die Deckenbalken stützten, zeigten gefährliche Zeichen des Alters. Ein alter Karren lag halb verschüttet auf der Seite, und überall auf dem Boden waren vergessene, staubige Werkzeuge verstreut.

»Warum habe ich das Gefühl, in die Hölle hinabzusteigen?«, fragte Rafael mit gesenkter Stimme.

»Weil wir genau das tun«, antwortete Vikirnoff. »Was ist das für ein Geräusch?«

Rafael schaute den anderen Jäger an. »Klingt nach Bergarbeitern.«

Als sie um eine Ecke bogen, sahen sie ein Dutzend Männer mit Spitzhacken die Wände des Schachts bearbeiten. Mehrere Laternen hingen am Deckenbalken und warfen ein schwaches, gelbliches Licht auf die Arbeiter. Vikirnoff und Rafael beobachteten, wie zwei Männer eine schwere, mit Erz gefüllte Lore auf die brüchigen Schienen schoben. Niemand schien die beiden Karpatianer zur Kenntnis zu nehmen.

Die Jäger sahen einander an. »Es muss ein Trugbild sein«, sagte Vikirnoff.

Keiner der Bergarbeiter drehte sich beim Klang seiner Stimme um. Die Männer arbeiteten beharrlich weiter, und das Geräusch ihrer Hacken hallte im Schacht wider.

»Sie tragen moderne Kleidung«, machte Rafael seinen Begleiter aufmerksam. Er betrachtete die Szene, die er vor sich sah, und suchte nach der verborgenen Falle, von der er wusste, dass sie irgendwo sein musste.

»Möglicherweise will er uns aufhalten, indem er dafür sorgt, dass wir unseren Sinnesorganen nicht mehr trauen.«

»Wie hat er sie in Bewegung gesetzt?«, wollte Rafael wissen. »Wenn sein Trugbild imstande ist, Felsen zu zerschlagen, kann es auch uns zerschlagen.«

Immer noch schlugen die Spitzhacken stetig auf das Gestein. Vikirnoff griff den Rhythmus auf und trommelte ihn mit einem Finger auf seinem Bein. »Hörst du das? Hat es irgendetwas mit dem Rhythmus auf sich?«

Rafael duckte sich und studierte die Szene aus jedem Blickwinkel. »Könnte sein. Er trickst mehr als nur einen der Sinne aus. Sehkraft, Geruchssinn, Gehör. Er hat seine Sache fantastisch gemacht.« Bewunderung schwang in seiner Stimme mit. »Schau dir den Boden an. Es sind keine Fußspuren zu sehen. Sie hinterlassen keine Hinweise auf ihre Existenz. Siehst du, wo die Hacke auf den Felsen trifft?«

»Die Szene wiederholt sich, als würde sie immer wieder abgespult«, stellte Vikirnoff fest. »Wird es eine Falle auslösen oder das Ganze zerstören, wenn wir in die Szene eintreten?«

»Er hätte sich all die Mühe nicht gemacht, ohne uns irgendeine Falle gestellt zu haben.« Rafael rieb sich das Kinn. »Es sei denn, es ist eine Verzögerungstaktik.«

»Wenn es so ist, dann ist es eine verdammt gute. Bleib hinter mir, falls ich eine Falle aktiviere.« Vikirnoff ging vorsichtig zu den Arbeitern. Keiner von ihnen blickte auf. Keiner sprach. Sie fuhren in ihrer Arbeit fort, als wäre der Karpatia-ner nicht mitten unter ihnen. Vikirnoff drehte sich zu Rafael um. »Irgendeine Idee?«

»Nimm einem die Hacke aus der Hand«, schlug Rafael vor. »Mal sehen, ob das den Ablauf unterbricht.«

Vikirnoff trat neben einen der Arbeiter und nahm dem Mann das Werkzeug mühelos aus der Hand. Das Hämmern der Hacken hörte abrupt auf, und einen Moment lang herrschte gespenstische Stille. Dann fielen alle Werkzeuge zu Boden, und die Männer lösten sich zu Skeletten auf, deren Knochen nun den Boden des Minenschachts bedeckten. Verrottete Kleidungsstücke lagen herum, und ein starker Verwesungsgeruch schwängerte die ohnehin schon übel riechende Luft.

»Also jetzt wissen wir jedenfalls, was aus den Personen geworden ist, die aus der Stadt und von den umliegenden Farmen verschwunden sind«, stellte Rafael grimmig fest. »Wir haben Kirjas Versteck gefunden.« Indem er darauf achtete, die Knochen nicht durcheinanderzubringen, ging er an der grotesken Szenerie vorbei.

Sie folgten dem Tunnel in tiefste Finsternis. Fast sofort war hinter ihnen ein Scharren zu hören, gefolgt von dem klappernden Geräusch von Knochen auf Knochen. Als die Jäger herumfuhren, sahen sie sich einer Armee von Skeletten gegenüber, die sich vom Boden erhoben. Die Knochen setzten sich zu den Gestalten von Kriegern zusammen, die bedrohlich die Spitzhacken schwangen und sie aus leeren Augenhöhlen anstarrten.

»Das Geräusch der Spitzhacken auf die Felsen muss der Auslöser gewesen sein«, sagte Rafael verärgert. »Wenn wir die Szene nicht gestört hätten, wäre die Falle nicht aktiviert worden.« Er trat ein Stück von Vikirnoff fort, damit sie mehr Bewegungsfreiheit zum Kämpfen hatten.

Es war bizarr, mit anzusehen, wie die Toten aufstanden, um genau die Kreatur zu verteidigen, die sie brutal ermordet hatte. Es wirkte so falsch, so obszön, dass Rafael sich innerlich wand, als er einen glühenden Feuerball entstehen ließ und ihn mitten in die Armee der Toten schleuderte. Die Explosion erschütterte die ganze Mine, ließ morsche Balken splittern und Erde und Felsen auf die Skelette regnen.

Vikirnoff und Rafael flüchteten vor dem Geröllschauer. Die drei verbliebenen Skelette, die von der Wucht der Explosion nicht getroffen worden waren, stürzten sich mit ihren Hacken auf die Jäger. Ihre Knochen klapperten und knirschten schaurig, und ihre Münder klafften weit auf. Ihre Augenhöhlen, schwarze Löcher in leeren Schädeln, starrten unablässig nach vorn. Lichter flammten an den Wänden auf, Laternen, wie von einer unsichtbaren Hand bewegt, schwangen hin und her. Wind rauschte durch die Röhren und weckte die Wächter des Untoten.

»Nicht gut«, murmelte Rafael.

Ein grauenhaftes Heulen ertönte vor ihnen, das allmählich zu einer Sinfonie gellender Schreie anschwoll. Dunkle Schatten glitten durch die Spalten im Gestein. Vikirnoff drehte sich zu den Skeletten um, während Rafael sich den unheimlichen Schatten zuwandte. Rücken an Rücken warteten die beiden Karpatianer auf den Angriff.

Er kam mit dem ohrenbetäubenden Rauschen des Windes und dem Klappern von Knochen. Dunkle Schatten krochen über die Balken und Felsen und langten mit ausgestreckten Armen und gekrümmten Nägeln nach den Jägern. Rafael antwortete mit einem grellen, weiß glühenden Lichtbündel. Die Schatten kreischten vor Angst und Entsetzen und wichen vor der unerträglichen Helligkeit in die tieferen Bereiche des Bergwerks zurück.

Vikirnoff schleuderte mehrere Laternen auf die Skelette und überzog sie mit Flammen. Die Spitzhacken fielen auf den Boden, aber die brennenden Knochen krochen weiter, wild entschlossen, die Jäger zu töten. »Nebel«, befahl er.

Rafael wechselte gleichzeitig mit Vikirnoff die Form, sodass die Skelette an ihnen vorbei ins gleißende Licht stürmten. Die Knochen zersetzten sich und zerbarsten zu kleinen Splittern. Die Flammen flackerten und erloschen. Wieder herrschte eine unheimliche Stille.

Vorsichtig gingen die Jäger weiter, jetzt wieder als Karpatianer, um alle ihre Sinne nutzen zu können. Rafael verarbeitete jeden Geruch und jedes Geräusch, das ihn erreichte. »Uns läuft die Zeit davon. Wenn wir ihn nicht bald finden, bleibt uns keine andere Wahl, als einen Ruheplatz aufzusuchen, und das können wir hier nicht. Dieses Bergwerk ist Kirjas Versteck, und es wird gut bewacht.«

»Genau damit rechnet er. Er braucht nur zu verhindern, dass wir seinen Ruheplatz finden, bevor die Sonne zu hoch steht«, stimmte Vikirnoff ihm zu. »Noch nie habe ich gegen einen Vampir mit solchen Fähigkeiten gekämpft.«

»Er hatte Jahrhunderte Zeit, sie zu perfektionieren.« Rafael wandte den Kopf und lauschte auf ein leises Scharren in ihrem Rücken. »Hörst du das?«

»Die Skelette versuchen, sich für einen weiteren Angriff neu zu formieren.«

Sie befanden sich in einem Labyrinth von Tunneln und verharrten einen Moment lang regungslos, um einen Hinweis auf Kirjas Ruheplatz zu finden. »Er versteht es auch sehr gut, keine Spuren zu hinterlassen«, fügte Rafael hinzu. Er zeigte auf den Pilzbefall an den Wänden eines Tunnels. »Das dort scheint mir am ehesten infrage zu kommen. Diesen Pilzbefall gibt es sonst nirgends, und ich nehme an, es handelt sich dabei um eine weitere Sicherheitsmaßnahme.«

Vikirnoff betrachtete eingehend den seltsamen Auswuchs. »Wie das aussieht, gefällt mir gar nicht. Außerdem krabbeln Millionen Tausendfüßler auf dem Roden herum, und die Stützbalken sind fast völlig verrottet. Ich denke, wir fassen lieber nichts an, wenn wir da entlanggehen.«

Rafael warf einen Blick auf den Teppich aus Tausendfüßlern und fluchte leise. »Kirja weiß sehr gut, dass wir ihm dicht auf den Fersen sind. Ich fühle seine Nähe. Er kann seinen Hass auf mich nicht verbergen. Kirja nimmt es viel zu persönlich, dass ich ihn jage.«

Vikirnoff zog eine Augenbraue hoch. »Wie kommst du denn darauf?«

Rafael grinste kurz. »Er kennt meine Aversion gegen Tausendfüßler. Kindisch, ich weiß, doch natürlich muss er genau das ausnutzen.«

Vikirnoffs Augenbraue wanderte noch weiter nach oben. »Wir sind ein Volk der Erde. Wie kann ein Tausendfüßler jemanden wie dich irritieren? Du hast die Herrschaft über diese Tierchen.«

»Ich hatte vier Brüder, Vikirnoff«, erinnerte Rafael ihn. Sein Körper flimmerte, wurde durchsichtig und verwandelte sich in eine sehr kleine Fledermaus.

Vikirnoff folgte seinem Beispiel. Aber zuerst warf er noch einen Blick zurück in den Tunnel. Die Knochen machten dort laute, knirschende Geräusche, als sie versuchten, sich wieder zu Skeletten zusammenzufügen, um die Befehle ihres Herrn auszuführen. Wirmüssen auch darauf achten, was hinter unserem Rücken passiert.

Nur wenn wir nicht zu ihm gelangen. Wenn er erst einmal fort ist, werden alle seine Diener verschwinden. Beeilen wir uns. Pass auf den Pilzbefall rechts vom Eingang auf. Da ist etwas faul. Rafael benutzte das Radarsystem der Fledermaus, um die Entfernung zu dem Bewuchs abzuschätzen, aber die Position der Pilze veränderte sich ständig, als bewegten sie sich.

Plötzlich schnappte etwas nach der Fledermaus und schleuderte sie auf den Boden. Die Tausendfüßler rückten sofort an. Vikirnoff ließ einen seiner Flügel rasch zu einem Arm werden und langte nach unten, um die kleine Fledermaus vor den gierigen Insekten zu bewahren. Ihr Körper war mit Bisswunden übersät, Blut tropfte aus mehreren Wunden.

Rafael schlug mit den Flügeln, um an Höhe zu gewinnen, und schüttelte die Tausendfüßler ab. Danke. Jetzt wissen wir, was es mit diesem Pilz auf sich hat. Er hat Zähne.

Vermutlich Gift.

Ich konnte spüren, wie es eindringt. Brennt höllisch. Er ist ganz nahe. Halt dich rechts, Vikirnoff. Pass gut auf! Der Pilzbefall ist überall.

Hier ist irgendwo Gas.

Er ist hinter diesen Felsblöcken. Ich spüre ihn. Die Tausendfüßler rasen vor Wut, und der Pilz fletscht die Zähne wie ein tollwütiger Hund. Kirja muss in der Kammer sein.

Rafael. Ich versuche, dir zu sagen, dass in diesem Tunnel Gas austritt.

Ein Trick. Er spielt gern mit dem Feuer.

Ich will hier drinnen nicht gebraten werden. Vikirnoff klang sehr entschieden.

Es wird Zeit, dass er etwas für uns tut. Ich habe eine Idee. Geh zum Tunneleingang zurück. Rafael folgte Vikirnoff und nahm wieder seine normale Gestalt an.

»Was hast du vor?«, wollte Vikirnoff wissen.

Rafael zeigte auf die schweren Felsen, die den Eingang zu der Kammer am Ende des Tunnels versperrten. »Das da.«

Kurz darauf standen Klone der zwei Jäger in der Nähe der Kammer. Tausendfüßler schwärmten um ihre Körper herum, und der Pilz schnappte immer wieder nach ihnen, während Rafael von den beiden Klonen den komplizierten Schutzmechanismus auflösen ließ, den der Vampir vor seinem Versteck errichtet hatte.

Während die Klone arbeiteten, befreite Rafael seinen Körper von den restlichen Giftstoffen. Der Reinigungsprozess dauerte länger als sonst, da Rafael einen Großteil seiner Macht für die Trugbilder brauchte, die er geschaffen hatte.

»Ich hoffe, er beeilt sich. Ich kann die Skelett-Krieger schon kommen hören«, sagte Vikirnoff grimmig. »Ich würde empfehlen, in die Luft aufzusteigen, um den Kriegern zu entkommen, aber daran hat er sicher gedacht.« Er sprach nicht aus, was sie beide wussten. Ihnen ging die Zeit aus. Draußen stieg die Sonne immer höher, und bald würden sie beide von der schrecklichen Lethargie ihrer Spezies befallen werden. In der Mine, wo Kirja ganz nahe war, konnten sie nicht ruhen. Es wäre viel zu gefährlich.

»Ich kann nicht das Trugbild aufrechterhalten und gleichzeitig an den Schutzbarrieren arbeiten. Darum wirst du dich kümmern müssen. Geh nicht zu nahe heran«, warnte Rafael ihn.

Vikirnoff machte sich an die komplizierte Arbeit, den Schutzzauber aufzuheben, der das Versteck des Vampirs absicherte. Hinter ihnen wurde das Klappern und Rasseln von Knochen immer lauter. Auf dem Boden wimmelte es von bösartigen Insekten, und die Schatten heulten schauerlich. Sie wurden nur durch das glühend heiße Licht in Schach gehalten, das Rafael nach wie vor aufrechterhielt.

Die Explosion kam ohne Vorwarnung und erschütterte das gesamte Bergwerk. Der in die Enge getriebene Vampir hatte das Gas entzündet. Ein orangeroter Feuerball raste den Tunnel hinunter und steckte alles in Brand, was in seinem Weg war. Er riss alles innerhalb des langen Tunnels mit, tötete die fleischfressenden Pflanzen und verbrannte die unzähligen Tausendfüßler. Die Röhre war völlig ausgebrannt und roch faulig, war aber für die beiden Jäger frei.

Während sich die Jäger vorsichtig zum Eingang der Kammer bewegten, zeichnete Vikirnoff mit den Händen komplizierte Muster in die Luft, um den unsichtbaren Schutzschild des Vampirs aufzuheben. Rafael nährte weiter das weiße Licht, das sie umgab, um die Schatten zurückzudrängen. Mehr als einmal gingen die dunklen, formlosen Gestalten auf die Karpatianer los, nur um schreiend zurückzuweichen, wenn Rafael den gebündelten Lichtstrahl gegen sie richtete.

»Die letzte Barriere ist gefallen«, sagte Vikirnoff.

»Geh zur Seite. Sicher erwartet uns da drinnen eine Überraschung.« Rafael presste sich an die rauchgeschwärzte Tunnelwand und wartete, dass Vikirnoff dasselbe tat, ehe er mit einer Handbewegung die Felsblöcke vom Eingang wegrollen ließ.

Gas und Dampf strömten aus dem Inneren der Kammer, begleitet von einem widerwärtigen, fauligen Gestank. Eine düstere Wolke von Fledermäusen mit scharfen Fängen folgte und schwärmte sofort um die Jäger. Vikirnoff errichtete blitzschnell einen Schutzschild um sich und Rafael, als sie in die Kammer spähten. Immer wieder prallten die Fledermäuse an die unsichtbare Barriere. In ihrer Besessenheit, den Befehl des Vampirs zu befolgen, zerschmetterten sie ihre Körper. Die Jäger traten auf den dampfenden Boden von Kirjas Versteck.

In der Kammer war es heiß, und das Gas in der Luft enthielt Spuren von Schwefel und Gift. Die Karpatianer schwebten nach oben, als die Säure im Boden ihre Stiefel zerfraß und zu ihrer Haut durchzudringen versuchte. »Gut gemacht, Kirja«, knurrte Rafael und schüttelte den Kopf, um sich von der Lethargie zu befreien, die seinen Körper und seinen Geist befiel und ihn schwerfällig machte.

Sie begannen den Boden Stück für Stück zu untersuchen, um die Stelle zu finden, wo der Vampir unter dem giftigen Gebräu aus Säure und verschmutzter Erde lag. »Hier, Vikirnoff«, sagte Rafael und zeigte auf eine Stelle, die sich direkt unter ihm befand. »Er ist hier.«

Die beiden hoben die letzten Schutzvorkehrungen auf, schnell, aber sorgfältig darauf bedacht, nicht in ihrer Wachsamkeit nachzulassen. Eine schwache Bewegung erregte Ra-faels Aufmerksamkeit, ein kurzes Aufwirbeln von Erde links von der Stelle, wo der Vampir lag. Noch während er hinschaute, passierte dasselbe an einem halben Dutzend anderer Stellen, bis er und Vikirnoff von einem losen Kreis umgeben waren. Der Boden brach an etlichen Stellen auf, und Ghoule strömten hervor.

»Mach weiter, Rafael«, sagte Vikirnoff. »Ich halte sie in Schach.« Schon ließ er sich nach unten fallen und stieß mit rasender Geschwindigkeit auf einen Ghoul hinab. Er packte ihn am Kopf und warf die Kreatur um, sodass sie auf die vergiftete Erde krachte.

Während um ihn herum ein erbitterter Kampf zwischen Vikirnoff und den Handlangern des Vampirs tobte, konzentrierte Rafael sich darauf, die letzte Barriere aufzuheben, um an Kirja heranzukommen. Mehrmals hörte er Vikirnoff grunzen, wenn er einen besonders hässlichen Hieb einstecken musste, aber Rafael konzentrierte sich ausschließlich auf seine Aufgabe. In dem Moment, als die Barriere fiel, heulten und kreischten die Ghoule vor Zorn und verdoppelten ihre Anstrengungen, die Jäger zu vernichten. Vikirnoff hielt Rafael das Dutzend der von Kirja geschaffenen Kreaturen vom Leib, um ihm die Zeit zu verschaffen, die er brauchte, um die Erdschichten über dem Ruheplatz des Vampirs zu entfernen.

Und dann verschwand endlich der letzte Rest Erde, und Rafael starrte in Kirjas hasserfüllte Augen.

Einen Moment lang herrschte eine unheimliche Stille. Der Vampir war durch die schreckliche Lethargie seiner Art in der Erde gefangen und konnte sich nicht rühren. Du kannst nicht gewinnen, Rafael. Du bist zum Untergang verurteilt. Seine Stimme schnarrte vor Hass, als Rafael seine Faust in die Brusthöhle des Vampirs stieß und das geschwärzte, verrottete Herz seines Freundes aus Kindertagen herausriss.

Kirja schrie auf, und Rafael zischte. Die Säure des Vampirbluts fraß sich durch Haut und Muskeln bis zu seinen Knochen hindurch. Er schleuderte Kirjas Herz auf den Boden, doch bevor er das Organ in Brand stecken konnte, wühlte es sich tief in die Erde, um zu seinem Besitzer zurückzukehren. Finsterer Hass vibrierte in der Luft, gefolgt von Triumph, als das Herz wieder mit seinem Besitzer vereint war. Fluchend stieß Rafael seine Faust ein zweites Mal in die Brust des Vampirs und starrte in die blutunterlaufenen Augen.

Aber es war nicht mehr Kirja, der hilflos in der Erde lag. Rafael starrte Colby an, ihr schönes Gesicht, ihr üppiges Haar, ihre unglaublich weiche Haut, und hielt inne.

»Rafael«, rief sie leise. »Hilf mir!«

»Colby?« Rafael blinzelte, schüttelte verwirrt den Kopf und zögerte einen entscheidenden Moment lang.

Kirja schlug zu. Rafael schrie, und Colbys Trugbild löste sich auf, als die messerscharfen Krallen des Vampirs sich durch Ra-faels Brust bohrten. Atemlos vor Schmerz konnte er fühlen, wie die Hand des Untoten Muskeln und Sehnen zerriss und nach seinem Herzen langte. Kirja stieß einen triumphierenden Schrei aus, und auch Rafael schrie noch einmal, als die scharfen Nägel des Vampirs an sein Herz stießen.

Schmerzen überfluteten Rafael, entsetzliche Schmerzen, wie er sie in all den Jahrhunderten seines Daseins nie erlebt hatte. Einen qualvollen Augenblick lang verkrampften sich seine Muskeln, und dann schrie er wieder, als Kirjas Krallen an seiner Herzwand rissen.

Blut schoss aus Rafaels Brust. Ihm blieb nicht viel Zeit. Er musste es zu Ende bringen, und zwar schnell.

Entschlossen warf er sich auf Kirja. Der Vampir hatte wieder Colbys Gestalt angenommen, aber diesmal zögerte Rafael nicht. Noch einmal rammte er seine Faust tief in Kirjas verrottende Brust. Das säurehaltige Blut fraß sich durch das Fleisch seiner bereits verwundeten Hand, und er schrie auf. Seine Brust brannte, als die scharfen Krallen des Vampirs seine Herzmuskeln zerfetzten. Blut schoss in einem dichten Schwall hervor, doch Rafael konnte es sich nicht leisten, sein Herz stillstehen zu lassen und seine Körperfunktionen einzustellen, um sich zu retten. Kirja musste vernichtet werden.

Noch mit seinem letzten Atemzug würde Rafael Colby und die Menschen, die sie liebte, verteidigen. Solange Kirja lebte, würde er Macht über Paul haben und Colbys Familie in Gefahr bringen. Es musste ein Ende gemacht werden, hier und jetzt. Diesmal würde er sie nicht mit einer weiteren von vielen egoistischen Entscheidungen enttäuschen. Dieses eine Geschenk würde er ihr machen, auch wenn es ihn das Leben kostete. Sie war eine von der Linie der Drachensucher, und sie war stark, sie konnte es ohne ihren Gefährten schaffen, so wie Rhiannon es geschafft hatte. Einen Moment lang schwankte er. War es ein Zauber von Xavier gewesen, der verhindert hatte, dass Rhiannon ihrem Gefährten folgte ? Würde Colby seinen Tod überleben? Er musste daran glauben.

Rafael spürte, wie sich Kirjas Finger um sein Herz schlossen, wie seine Nägel tiefe Wunden schlugen. Er hörte seine eigenen Schreie durch die Kammer hallen, aber er hielt durch. Er würde Colby nicht im Stich lassen. Sein Tod war das Einzige, was er ihr noch geben konnte.

Nein! Nicolas brüllte den Befehl.

Schwach, wie aus weiter Ferne, hörte Rafael seine anderen Brüder, doch vielleicht bildete er es sich auch nur ein. Die Stimmen von Karpatianern von nah und fern schienen zu einem einzigen Protest zu verschmelzen.

Rafael hielt eisern durch und zog das schwarze Vampirherz aus Kirjas Brust. Der Blutverlust schwächte Rafael sehr, und Kirjas Herz wehrte sich heftig und versuchte, zu seinem Herrn zurückzugelangen. Es kostete ihn Mühe, das verdorrte Organ in der Hand zu behalten. Säure brannte sich durch seine Haut bis in seine Knochen, aber dieser Schmerz war nichts im Vergleich zu den Qualen, die Kirjas Finger hervorriefen, als sie Rafaels Herz buchstäblich in Stücke rissen.

Tief unter der Erde spürte Colby Rafaels Qualen. Ihre Augen öffneten sich, ihr Herz erschauerte und schlug in namenlosem Grauen gegen ihre Brust. Die Schmerzen brachten sie beinahe um. Rafael!

Der Untote wird deinen Bruder nicht bekommen!

Rafaels Stimme war gebrochen vor Schmerzen. In diesem Augenblick sah sie ihn im Dunkel des Bergwerks, belagert von Vampirkriegern, Arm und Hand vom Blut des Untoten zerfressen. Und sie sah die Faust des Vampirs tief in Rafaels Brust. Colby fühlte die Krallen, die sich in Rafaels Herz bohrten, um ihn zu töten. Die Zeit blieb stehen. Und die Erde hörte auf sich zu drehen. In diesem Moment traf die Erkenntnis sie wie ein Schlag ins Gesicht.

Sie liebte ihn.

Die ganze Zeit, als sie geglaubt hatte, gegen ihn zu kämpfen, hatte sie auch mit sich selbst gekämpft. In diesem Konflikt zwischen ihrem ungeheuer starken Willen und ihrem Herzen, hatte ihr Herz begonnen, Rafael zu lieben, als er ihretwegen in ein brennendes Gebäude gelaufen war.

Rafael hatte sie befreit und ihr ermöglicht, die Person zu sein, die sie tatsächlich war. Endlich würde sie in der Lage sein, ihre außergewöhnlichen Gaben zu nutzen, statt sie wie bisher vor anderen zu verbergen. Sie würde so akzeptiert werden, wie sie war, nicht, wie sie vorgab zu sein. Und in diesem Moment der Erkenntnis wusste Colby, dass sie alles ertragen und alles und jeden opfern könnte, aber nicht Rafael.

Sag mir, was ich tun soll! Sie richtete den Befehl an Nicolas. Denn es war ein Befehl. Colby fing an, sich mit den Händen durch die Erde zu wühlen. Alles, was sie an Willenskraft besaß – einer Kraft, die ihr Geburtsrecht war –, diesen unbeugsamen Willen setzte sie jetzt ein, um ihn zu erreichen. Sie würde ihn retten. Sie hatte keine andere Wahl.

Bleib bei ihm. Lass nicht zu, dass er sich von dir entfernt. Er

wird alles gehen, was er hat, um durchzuhalten, weil er nicht riskieren will, dass du mit ihm stirbst.

Colby konzentrierte sich darauf, mit Rafael verbunden zu bleiben. Sie konnte durch seine Augen sehen und hörte das Heulen der Ghoule und die furchtbaren Schreie des Vampirs.

Tief unter der Erde, in Kirjas Versteck, setzte Vikirnoff seinen Kampf gegen die unerbittlichen Vampirkrieger fort, aber er spürte, wie nahe Rafael dem Tod war.

»Rafael«, befahl er, »wirf das Herz zu mir!« Inmitten des herrschenden Chaos blieb seine Stimme ruhig und gelassen. Er schlug einen weiteren Ghoul zurück, der sich sofort wieder erhob und zusammen mit den anderen näher rückte.

Kirjas messerscharfe Krallen mühten sich ab, Rafaels Herz aus der Brust zu ziehen, ein langsamer und extrem schmerzhafter Vorgang. Die Kräfte des Vampirs ließen nach, doch genauso rapide verließen sie Rafael. Er konnte sich kaum noch bewegen, kaum noch denken, und sein Körper schaffte es nicht mehr, die Befehle, die er vom Gehirn empfing, auszuführen. Der Blutverlust und die von der aufgehenden Sonne hervorgerufene Lethargie laugten ihn völlig aus.

Er konnte spüren, dass Colby in seinem Bewusstsein war und nach einer Möglichkeit suchte, ihm zu helfen. Sie ließ sich nicht vor seinen körperlichen Qualen abschirmen. Rafael fühlte ihren Schock, als die Schmerzen sie mit voller Wucht trafen und sie beinahe das Bewusstsein verlor; er fühlte, wie sie sich wieder fasste und den Schmerz akzeptierte. Dann meldete sich ihr starker Wille, die unerschütterliche Entschlossenheit der Drachensucher.

Du wirst nicht sterben. Sie ließ es wie eine Feststellung klingen. Nein, wie einen Befehl. Wirf dem Jäger das Herz zu. Nimm meine Kraft und befreie die Welt von dieser abstoßenden Kreatur. Jetzt, Rafael. Ich lasse dich nicht los.

Indem er seine letzten Reserven mobilisierte, gehorchte er ihr und schleuderte das widerwärtige Organ in Vikirnoffs Hände. Im nächsten Moment verließ ihn jede Kraft, und er fiel vornüber. Es war zu spät für ihn. Sein Herz war zerfetzt, sein Blutverlust zu groß. Aber Colby und Paul konnte nichts mehr zustoßen, und Vikirnoff würde lebendig aus den Minen entkommen. Rafael schloss die Augen und ließ los.

Colby hatte ihr Bewusstsein mit dem von Rafael verschmelzen lassen. Sie war schon immer sehr stark gewesen, so stark, dass sie ihre Kräfte als Mensch nicht kontrollieren konnte. Als sie spürte, wie sie nun durch ihren Körper strömten, nahm sie ein kurzes Inventar ihrer Fähigkeiten auf. Jetzt, mit den besonderen Eigenschaften des karpatianischen Blutes, das durch ihre Adern floss, war alles anders. Sie griff nach dieser Macht und umarmte sie, statt ängstlich vor ihr zurückzuschrecken. Sie würde Rafael retten, ihn mit ihrem letzten Atemzug halten, auch wenn seine Lebenskraft nicht mehr als ein schwaches, flackerndes, fast schon erlöschendes Licht war. Sie hielt ihn mit aller Kraft und hinderte seinen Körper daran, auf die brennende Säure in der Kammer zu stürzen, und seinen Geist, sich aufzugeben.

Bring ihn zu mir. Schnell! Sie übermittelte die Botschaft auf dem geistigen Pfad, den sie in Rafaels Bewusstsein gefunden hatte, an Vikirnoff. Die Erde hier ist reich an Mineralien und unsere einzige Chance.

Vikirnoff entzündete das Herz des Vampirs und ließ stoisch die Schmerzen über sich ergehen, als das Vampirblut über seine Haut lief und sich wie Säure in seine Hand und seinen Arm fraß. Kirja stieß einen entsetzlichen Schrei aus; sein Körper wurde schlaff, und seine Hand löste sich mit einem grauenhaften, schmatzenden Geräusch von Rafael. Das Blut des Kar-patianers ergoss sich über ihn. Kirjas Gesicht verzerrte sich, und in einem letzten vergeblichen Versuch, sich zu heilen, leckte er an Rafaels Blut.

Vikirnoff richtete einen zweiten glühenden Feuerball auf den Vampir.

Stinkender schwarzer Rauch stieg auf, als Kirja erneut einen markerschütternden Schrei ausstieß und sein verkommenes Dasein endlich ein Ende nahm. Vikirnoff fing Rafael mit starken Armen auf, bevor Colby ihn auf den vergifteten Boden fallen lassen konnte und er sich weitere Verbrennungen zuzog. In dem Moment, als der Vampir endgültig zerstört war, sanken auch seine Gehilfen leblos zu Boden. Das Heulen der seelenlosen Schatten verstummte jäh, und die Skelette fielen wieder auf den Boden.

Der gespenstischen Stille folgte ein unheilverkündendes Grollen, das immer lauter wurde. Das Labyrinth der Minenschächte fing an zu beben. Während er Rafael in seinen Armen hielt, raste Vikirnoff durch die Tunnel. Es regnete Erdklumpen und Geröll, und Rauch quoll aus den Spalten. Die Wände hinter ihnen stürzten ein, während Vikirnoff mit dem verwundeten Jäger an die Oberfläche kam. Ich bin unterwegs. Die Sonne steigt schnell. Er hat tödliche Wunden empfangen. Um die Wahrheit zu sagen, ich weiß nicht, wie du ihn retten kannst.

Colby brach aus dem Boden, fast blind vom Sonnenlicht. Aber nicht einmal das konnte sie aufhalten. Sie sah sich nach der gehaltvollsten Erde um. Was brauche ich, Nicolas? Sag mir, was ich tun kann, um ihn zu retten.

Er nannte ihr mehrere Pflanzen, zeigte ihr, wie sie aussahen, und erklärte ihr, wo sie zu finden waren. Ohne das furchtbare Brennen in ihrem Körper, ihre tränenden Augen und empfindliche Haut zu beachten, rannte Colby in den Wald, um die benötigten Pflanzen zu suchen. Die Bäume schützten sie vor den sengenden Sonnenstrahlen, und Vikirnoff, der zu ihr unterwegs war, sorgte für eine dichte Wolkendecke. Während Nicolas sie führte und ihr erklärte, wie sie Rafael vielleicht retten konnten, fiel eine weitere Stimme ein und dann noch eine und noch eine. Colby konnte sich nicht alle Namen merken, aber Heiler von allen Teilen der Erde fanden sich ein, um ihr bei Rafaels Heilung beizustehen.

Wenn etwas schiefgeht, musst du dich um Paul und Ginny kümmern, Nicolas. Colby war sich sehr wohl bewusst, dass sie ihr Leben aufs Spiel setzte. Sie würde alles, was sie war, Rafael geben, und wenn sie scheiterte, würde es für sie beide das Ende bedeuten.

Es wird nichts schiefgehen, verkündete Nicolas.

Und dann war Vikirnoff da, mit Rafaels geschundenem, verstümmeltem Körper in seinen Armen. Colby schloss kurz die Augen, so groß war der Schock bei seinem Anblick. Sie war auf furchtbare Verletzungen vorbereitet gewesen, nicht jedoch darauf, ihren stolzen, unbesiegbaren Rafael so grauenhaft zugerichtet zu sehen. Ihr Herz und ihre Seele formten einen stummen Protestschrei.

Sie griff auf ihren unbeugsamen Willen zurück, klammerte sich mit jeder Faser ihres Wesens an ihre Stärke und schüttelte Verzweiflung, Schmerz und Entsetzen ab. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt für Gefühle. Sie lauschte den leisen Stimmen, die ihr Anweisungen gaben, und spürte, wie die Macht dieser anderen Karpatianer in sie hineinfloss. Entschlossen kniete sie neben Rafael nieder, der nun in der gehaltvollen Erde ruhte, und machte sich ans Werk. Es fiel ihr nicht schwer, auf mehreren Ebenen zu arbeiten, indem sie ihre telekine-tischen Kräfte einsetzte, um die Pflanzen mit der Erde zu vermischen, und gleichzeitig ihre äußere Hülle, ihr Selbstgefühl, aufgab und als heilende Energie in Rafaels Körper eintrat.

Die ganze Zeit hielt sie ihn mit ihrer Entschlossenheit fest und ließ nicht zu, dass er in eine andere Welt überging. Sein Herz, von den Krallen des Vampirs aufgerissen und zerfetzt, war fast ganz zerstört. Sie hielt betroffen inne.

Es ist möglich. Die Stimme kam von einem der Heiler, einem Mann namens Gregori. Ich werde dich bei jedem Schritt begleiten.

Ich bin auch da. Eine Frauenstimme. Sie gehörte Shea, einer Heilerin.

Eine dritte Stimme, sehr fern und sehr weiblich, gab ihr Zuversicht. Ich bin Francesca. Du gehörst zum Clan der Drachensucher. Nur wenige haben deine Fähigkeiten. Du kannst es schaffen.

Sie hörte ermutigende Worte von Nicolas und seinen Brüdern. Die Stimmen schwollen an und stimmten einen uralten Heilungsgesang an. Entschlossen machte sich Colby an ihre Aufgabe. Es schien nicht mehr unmöglich – es war nur eine Frage der Willenskraft, und davon hatte sie mehr als genug. Langsam und gründlich reparierte sie Rafaels zerfetztes Herz. Ihre physische Kraft ließ manchmal nach, aber Rafaels Brüder gaben ihr alles, was sie an Energie besaßen. Sie konnte über die Verbindung zu Nicolas sogar Pauls Unterstützung spüren.

Colby verlangte Rafael genauso viel ab wie sich selbst, indem sie ihn zwang, die Schmerzen zu ertragen, als sie erst sein Herz reparierte und sich dann seinen anderen zahlreichen schweren Verletzungen zuwandte. Sie blieb mit den anderen Heilern in Verbindung und folgte genau ihren Anweisungen, während sie eine Wunde nach der anderen schloss und auch noch den letzten Rest Gift beseitigte. Sie würde nicht zulassen, dass Rafael Kirjas Macht unterlag. Die Sonne stieg beharrlich höher, und die Auswirkungen für die Karpatianer waren verheerend, doch Colby trieb sich selbst und die anderen erbarmungslos an, allen Widrigkeiten zu trotzen.

Vikirnoff legte sich auf Geheiß der Heiler neben seinen Mitstreiter in die schwere Erde. Er gab Rafael so viel Blut, wie er entbehren konnte, und half Colby, die furchtbaren Wunden mit einer Mischung aus Pflanzen, mineralreicher Erde und Speichel zu bedecken. Colby, die von der Sonne verbrannt war und vor Müdigkeit taumelte, sackte auf dem Boden in sich zusammen, als sie endlich fertig war.

So lange bin ich noch nie wach geblieben. Vikirnoff sah sie überrascht an. Du hast uns alle zusammengehalten und sogar den Mächtigsten von uns nicht erlaubt, der Lethargie nachzugeben. Ruh dich jetzt aus. Wenn du uns aufrechterhalten kannst, wirst du auch ihm nicht erlauben zu sterben.

»Verdammt richtig«, murmelte Colby und ließ sich auf Rafael sinken.

Vikirnoff hatte gerade noch genug Kraft, die heilende Erde über sich und den beiden anderen völlig zu schließen, bevor sie alle ihrem Verlangen nach Schlaf nachgaben.