Kapitel 4
Sieht nicht gut aus, Colby«, bemerkte Ben und schlenderte zu dem großen, runden Felsen, auf dem sie kauerte. »Tut mir leid, Süße, ich weiß, wie lieb du den alten Mann gehabt hast. Ich hätte auf dich hören sollen.« In dem unbeholfenen Versuch, sie zu trösten, legte er eine Hand auf ihre schmalen Schultern.
»Es ist nicht deine Schuld, Ben. Er muss schon tot gewesen sein, als ich ihn als vermisst meldete.« Colby rieb sich die pochenden Schläfen und blickte zum Sheriff auf. »Es war kein Unfall, nicht wahr?«
Ben stieß einen tiefen Seufzer aus. Colby war schon immer sehr leicht zu durchschauen gewesen. Er konnte ihre Trauer erkennen und eine Müdigkeit, als lastete das Gewicht der ganzen Welt auf ihr. »Bevor wir nicht mehr wissen, behandeln wir die Sache als Totschlag. Ich habe Fotos vom Tatort gemacht; mit der Spurensicherung sind wir inzwischen fertig. Ich weiß, dass es ein langer Vormittag für dich war, aber wir mussten das erledigen, bevor wir die Leiche wegbringen konnten.«
»Ich kann auch Spuren lesen, Ben. Pete ist nicht von dieser Klippe gestürzt. Er wurde von hinten angegriffen. Die Blutspritzer passen nicht zu einem Sturz. Und sein Körper ist nicht zerschlagen genug. Seine Knie sind zuerst auf dem Boden aufgeschlagen, als hätte es ihm die Beine weggezogen.« Ein Schluchzen stieg ihr in die Kehle, und sie wandte den Blick ab und presste eine Hand auf ihren weichen, bebenden Mund.
Ben fluchte leise. »Es schaut schlimm aus. Ihr müsst vorsichtig sein, du und deine Geschwister, Colby. Ich weiß nicht, was hier vorgeht, aber es gefällt mir nicht.«
Ohne seine ausgestreckte Hand zu beachten, sprang Colby von dem Felsen und lief ein paar Schritte weg, um sich die Tränen abzuwischen, die ihr unaufhaltsam übers Gesicht liefen. »Wer hat ihm das angetan, Ben? Er war in den Siebzigern. Er konnte keiner Fliege etwas zuleide tun. Er hatte kein Geld. Warum sollte jemand so etwas machen?«
»Geh nach Hause, Süße, und überlass das mir. Du musst zu deinen Geschwistern.« Ben ließ sich nicht anmerken, wie aufgebracht er war. Die Sache ging ihm sehr nahe. Irgendjemand hatte Pete umgebracht, daran bestand kein Zweifel. Ben hatte jeden Zentimeter der Klippe abgesucht. Jemand war dort oben gewesen und hatte absichtlich einen kleinen Erdrutsch ausgelöst, um den Eindruck zu erwecken, Pete wäre ausgerutscht und nach unten gefallen. Tatsächlich lag er jedoch genau an der Stelle, an der er getötet worden war. Darauf hätte Ben seinen guten Ruf verwettet. Colby war eine hervorragende Fährtenleserin, und sie hatte recht mit ihrer Annahme, dass Pete in die Knie gegangen war, bevor er nach hinten gekippt war.
Ben hatte die Fingernägel des alten Mannes untersucht. Nicht der kleinste Erdkrümel wies darauf hin, dass Pete sich an die Felswand geklammert hatte, was er mit Sicherheit getan hätte, wenn er abgestürzt wäre. Und die Blutspuren stimmten nicht mit einer tödlichen Kopfverletzung infolge eines Sturzes überein. Der Leichnam war von Raubvögeln zerrissen worden, was bei der Spurensicherung keine Hilfe war, aber Ben hatte an Petes Körper andere, sehr beunruhigende Verletzungen festgestellt, die er Colby gegenüber nicht erwähnt hatte. Es waren Bisswunden- Bisse von menschlichen Zähnen, als hätte jemand versucht, Pete nach seinem Tod auszuschlachten. Ben war überzeugt, dass die Bisse dem alten Mann nach Eintreten des Todes beigebracht worden waren. Insgesamt ein bizarrer und sehr beängstigender Vorfall in einer Gegend, in der es kaum jemals Schwerverbrechen gab. Colby musste die Bisswunden ebenfalls gesehen haben, doch er würde sie nicht zwingen, darüber zu sprechen. Wieder fluchte Ben leise, während er Colbys zierliche Gestalt betrachtete. »Geh heim, Süße! Ich rufe dich an, wenn ich mehr weiß.«
Colby nickte. Ihr war auf einmal sehr kalt. Was hatten Tony Harris und der andere Arbeiter wirklich auf ihrem Grund und Boden gemacht? Was hatten Everetts Reiter und einer der Chevez-Brüder so weit von der Everett-Ranch verloren ? Hatte einer ihrer Nachbarn Pete ermordet? Wer würde von einem so brutalen Gewaltakt profitieren? Sie fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. Ihr graute davor, es Ginny und Paul zu sagen.
»Du kannst nichts mehr für ihn tun, Colby. Sieh zu, dass du nach Hause kommst. Du quälst dich nur selbst, wenn du noch länger hierbleibst.« Ben war unnachgiebig. »Es wird einige Tage dauern, bis die Leiche freigegeben wird. Ich rufe dich an und helfe dir bei allen Formalitäten, das verspreche ich dir. Bleib inzwischen in der Nähe des Hauses – keine einsamen Ritte mehr in die Einöde.«
Colby nickte langsam und drehte sich mit hängenden Schultern um. Ben hatte recht; sie konnte Pete nicht zurückholen, und es hatte keinen Sinn, noch länger damit zu warten, es den Kindern zu erzählen. Paul wusste wahrscheinlich schon Bescheid. Er besaß ein Fernglas und hatte die Ankunft des Sheriffs und seines Teams vermutlich verfolgt. Sie schwang sich in den Sattel und ritt entschlossen nach Hause.
Unterdessen lag Rafael hilflos tief in der Erde, eingeschlossen in dem schweren, gehaltvollen Boden und außerstande, Colby zu trösten. Das Blutsband zwischen ihnen bewirkte, dass er beliebig an ihr Bewusstsein rühren und ihre Gedanken lesen konnte. Sie brauchte ihn, brauchte seinen Halt und seinen Trost. Ihrem Bruder und ihrer Schwester zuliebe bemühte sie sich, tapfer zu sein, doch sie weinte. Tief in ihrem Herzen und in ihrer Seele weinte sie. Ihr Schmerz war so groß, dass er in Rafaels verjüngenden Schlaf eingedrungen war und ihn geweckt hatte, um ihn an ihrem Leid teilhaben zu lassen. Seine Brust tat weh, so schwer lasteten ihre seelischen Qualen auf seinem Herzen. Er sehnte sich schmerzhaft nach ihr, sehnte sich danach, sie in die Arme zu nehmen und zu trösten.
Es war eine völlig neue Erfahrung für ihn, etwas für ein anderes Wesen zu empfinden. Echte Empfindungen zu haben. Er hatte vergessen, wie es sich anfühlte. Es erfüllte ihn mit Demut, an sie und den einsamen Kampf zu denken, den sie ausfocht, um ihr Versprechen an ihren Stiefvater zu halten. Colby war allein und verängstigt. Sie kämpfte gegen einen unsichtbaren Feind und wusste nicht, was dieser Feind wollte oder warum sie angegriffen wurde, aber sie war wild entschlossen, ihre Ranch und ihre geliebten Geschwister zu verteidigen. Rafael konzentrierte sich darauf, die geistige Verbindung zwischen ihnen aufrechtzuerhalten. Ihr Geist war sehr komplex und wurde von Barrieren geschützt, die er immer noch nicht durchbrochen hatte. Aber Colby gehörte zu ihm. Sie war seine Gefährtin. Ihr Blut und ihre Seele riefen nach ihm. Rafael war Teil ihres Herzens und ihrer Seele. Es war seine Pflicht, Colbys Wohlergehen und Glück über alles andere zu stellen, auch über sein eigenes Wohl. Allmählich begriff er, was das bedeutete. Es war ein hoher Preis, den er für seine Unsterblichkeit zahlen musste: Rafael harrte wie ein Gefangener unter der Erde aus und wartete; er konnte nichts anderes tun, sosehr er es sich auch wünschte. In diesem Augenblick kam es ihm mehr darauf an, Colby zu trösten, als sie für sich zu beanspruchen. Er brauchte es, sie sicher und geborgen in seinen Armen zu halten. Während der Zeit, die er in der Erde verbrachte, lernte er von seiner ahnungslosen Gefährtin des Lebens einige bittere Lektionen. Sie sprach sanft und liebevoll mit ihren Geschwistern, mit einer Stimme, in der ungeheure Zuversicht lag, obwohl Rafael hören konnte, dass sie tief in ihrem Inneren vor Angst und Entsetzen schrie. Sie nahm sich Zeit für jeden der beiden, beantwortete Fragen und beruhigte sie, und das mit einer unendlichen Geduld, obwohl sie wusste, dass eine lange Liste von Pflichten vor ihr lag, die trotz der Tragödie erledigt werden mussten. Noch dazu fragte sie sich ständig, ob sie Petes Leben irgendwie hätte retten können, wenn sie ihn früher gefunden hätte.
Colby arbeitete hart und nahm sich jede Aufgabe mit derselben Sorgfalt vor, ob sie nun leicht war oder schwer, ob sie die Arbeit hasste oder gern verrichtete. Sie war schnell und tüchtig und plante voraus, während sie im Geist die Liste abhakte. Für Rafael waren es die längsten und schwierigsten Stunden seines Lebens. Er lag hilflos gefangen in der Erde, sein Körper geschwächt, seine ungeheure Kraft erschöpft, während Colby, müde vom Schlafmangel und dem Blutverlust, irgendwo da oben den ganzen Nachmittag hindurch schuftete.
Sie musste ihre speziellen Fälligkeiten einsetzen, um den alten Traktor zu starten und in Gang zu halten, während sie auf einem der Felder arbeitete. Es war anstrengend, geistige Kräfte zu benutzen, um die Geräte laufen zu lassen, und ihr Kopf hämmerte, als sie vom Feld zu der Koppel voller unruhiger Pferde ging. Ihr Bruder kam zu ihr, um ihr dabei zu helfen, die wild herumtobenden Tiere im Zaum zu halten.
Rafaels Stimmung schwankte zwischen uneingeschränkter Bewunderung für Colby und schwelendem Zorn. Sie war eine junge, verletzliche Frau. Warum war sie allein und schutzlos? Weshalb verrichtete sie eine Arbeit, die ihr körperlich wie geistig so viel abverlangte? Jedes Mal, wenn sie abgeworfen wurde, spürte er den Sturz bis in die Knochen. Sie spürte jede Erschütterung, wenn sie an die Umzäunung krachte. Was sie machte, war gefährlich. Unglaublich gefährlich. Das musste aufhören. Er würde ihr nicht erlauben, so weiterzumachen, wenn er ihr das Leben ungemein erleichtern konnte. Ungeduldig wartete er darauf, dass endlich die Sonne unterging.
Colby war über jede Erschöpfung hinaus, als sie im schwindenden Licht durch die Scheune taumelte und mit grimmiger Miene Sättel und Zaumzeug betrachtete. Die meisten der Sachen mussten gereinigt oder repariert werden. Das war ursprünglich Pauls Aufgabe gewesen, aber anscheinend hatte er sie irgendwann an Ginny weitergegeben und längst vergessen. Irgendjemand musste sich auch darum kümmern, oder es ging mit den Sachen bald ebenso bergab wie mit allem anderen auf der Ranch.
»Bergab«, murmelte sie laut und lehnte sich mit der Hüfte an die Tür. »Und zwar rapide.« Die gesamte Ranch ging rapide den Bach hinunter, und all die Arbeit wuchs ihr allmählich über den Kopf. Sie war nur eine Person und hatte für alles nur eine begrenzte Zeit. Colby war den ganzen Tag über nicht hungrig gewesen und hatte die Mahlzeiten ausgelassen, um die Stunden wieder aufzuholen, die sie bei Petes Leichnam verbracht hatte. Sie schien schrecklich durstig zu sein, aber Hunger hatte sie überhaupt nicht, und bei dem Gedanken an Essen wurde ihr übel.
Einen Moment lang lauschte sie dem Klang junger, fröhlicher Stimmen draußen auf der Veranda. Sie war versucht, ihren Geschwistern zuzurufen, sie sollten ihr helfen, aber sie klangen so jung und unschuldig, dass sie es nicht übers Herz brachte. Heute war für sie alle ein schrecklicher Tag gewesen. Die Kinder trauerten um Pete, und wenn sie ein paar Augenblicke miteinander lachen konnten, würde sie ihnen dieses harmlose Vergnügen nicht nehmen. Der Gedanke an Petes Tod ließ Colby nicht los und nagte ständig an ihr, und sie musste den plötzlichen überwältigenden Drang unterdrücken, zu ihren Geschwistern zu laufen und sich einen Moment lang, so kurz er auch sein mochte, jung und unbeschwert zu fühlen.
Mit einem kleinen Seufzer ging sie durch die große Scheune zu dem winzigen Raum am hinteren Ende. Es war sehr dunkel in der Sattelkammer, die keine Fenster hatte, um die letzten Sonnenstrahlen des Tages hereinzulassen. Das Gewicht der ganzen Welt schien auf Colbys Schultern zu lasten, und sie stellte fest, dass sie leicht vornübergebeugt ging. Verärgert über sich selbst und ihr Selbstmitleid straffte Colby energisch die Schultern und machte einen Schritt in Richtung Lichtschalter.
Eine Hand schoss an ihrem Kopf vorbei und drückte auf den Schalter. Helles Licht überflutete den Raum. Colby schnappte nach Luft und fuhr schnell herum, um den Eindringling zu sehen, obwohl ihr Körper bereits genau wusste, wer es war. Rafael. Sie hatte die Tür hinter sich geschlossen und war bei ihrem Eintreten überzeugt gewesen, dass niemand in der kleinen Kammer war.
»Was schleichen Sie in meiner Scheune herum?«, fuhr sie ihn an und hoffte dabei inständig, dass er das laute Klopfen ihres Herzens nicht hören konnte. Aus irgendeinem Grund fing das Mal an ihrem Hals an zu pochen und zu brennen.
Schützend legte sie eine Hand darüber, während sie zu Rafael De La Cruz aufblickte.
Er wirkte sehr beeindruckend und beängstigend. Seine große, muskulöse Gestalt mit den breiten Schultern schien den kleinen Raum auszufüllen, bis es nur noch Rafael gab. Darüber hinaus strahlte er eine dunkle Sinnlichkeit aus, der sie sich nicht ganz entziehen konnte. Seine Augen waren voller Verheißung, voller Verlangen und Hunger. Einen Moment lang ruhte dieser heiße Blick nachdenklich auf ihrer Hand, die das Mal an ihrem Hals verbarg. Ein träges Lächeln milderte den grausamen Zug um seinen Mund, als seine schwarzen Augen auf der Pulsader verharrten, die in ihrer verletzlichen Halsbeuge hektisch pochte.
»Ich trainiere meine Fähigkeiten«, erwiderte er leise und sanft, beinahe neckend, um ihr keine Angst zu machen. »Sie erinnern an ein wildes Tier, das im Begriff ist, die Flucht zu ergreifen.« Sie reckte ihr Kinn, eine Geste, auf die er inzwischen schon wartete.
»Welche Fähigkeiten?«, fragte Colby argwöhnisch. Sie zitterte so stark, dass sie ihre Hände hinter dem Rücken verstecken musste, damit Rafael, dem nichts zu entgehen schien, es nicht sah. Colby verschlang ihre Finger ineinander, um sie ruhig zu halten. Es ging ihr auf die Nerven, dass sie sich immer wie das sprichwörtliche Landei benahm, wenn er in der Nähe war.
Rafael kam einen Schritt näher, indem er leichtfüßig über den mit Stroh übersäten Boden glitt. Colby hatte unwillkürlich das Gefühl, eine riesige Dschungelkatze zu sehen, die sich lautlos anschlich. Seine schwarzen Augen wanderten besitzergreifend über ihre kleine, zierliche Gestalt. Sie wich vor ihm zurück, bis sie fast an die Wand stieß, und starrte ihn beinahe hilflos an. Ihn nur zu sehen weckte in ihr das Bedürfnis, in Tränen auszubrechen. Sie war seiner stählernen Härte nicht gewachsen. Nicht jetzt, nicht an diesem Abend. Er war überwältigend, und sie war seelisch nicht in der Verfassung, ihm Paroli zu bieten.
»Mr. De La Cruz«, sagte sie, als sie ihre Stimme wiedergefunden hatte, »ich hatte heute einen extrem schlechten Tag. Ich habe wirklich keine Lust, mit Ihnen zu streiten.«
Sie wollte energisch klingen, das las er in ihrem Inneren. Stattdessen klang sie so unendlich müde, dass es ihm das Herz brach. Am liebsten hätte er sie sofort in seine Arme genommen und sie an seine Brust gezogen. »Das habe ich gehört«, erwiderte er mit seiner sanftesten Stimme. »Ich habe nicht die Absicht, mit Ihnen zu streiten, querida.«
Seine Augen waren nicht länger eiskalt und hart, sondern heiß und so eindringlich, dass sie das Gefühl hatte, körperlich von ihm berührt zu werden, als er seinen Blick auf sie richtete. Sein Akzent drang direkt in ihre Sinne, so tief, dass sie ihn zusammen mit ihrem Atem in ihre Lungen zog. Die Art, wie sie körperlich auf ihn reagierte, war erschreckend. Auf sein Aussehen und den Klang seiner Stimme. »Welche Fähigkeiten genau?«, wiederholte sie, einfach nur, weil sie etwas sagen musste, um die beunruhigende Elektrizität zu zerstören, die sich in der Enge der Sattelkammer aufbaute. Funken schienen zwischen ihnen zu sprühen und zu knistern und von seiner Haut auf ihre zu springen.
Er schien sie tatsächlich zu berühren, schien mit seinen kräftigen Fingern ihre Haut zu streicheln. Seine Hände hingen entspannt herab und wirkten völlig unschuldig, aber das Gefühl war so real, dass sie sich dabei ertappte, heftig zu erröten. »Ihre Fähigkeit, sich heimlich an Frauen anzuschleichen?« Colby versuchte, die Stirn in strenge Falten zu ziehen. Ihr verräterischer Mund war bereits trocken. Sie rieb sich die Handflächen an ihren verwaschenen Jeans ab und stieß mit der Stiefelspitze einen Ballen Heu an, um Rafael nicht anschauen zu müssen. Es wäre ein fabelhafter Zeitpunkt für ein Erdbeben gewesen, bei dem sich unter ihr die Erde auftat und sie verschlang.
Sein Lachen war leise und einladend. Er trat einen Schritt näher und zwang Colby damit, erneut den Rückzug anzutreten. »Bis jetzt sind Sie die einzige Frau, an die ich mich je heimlich angeschlichen habe.« Colby wich noch weiter zurück, bis sie mit dem Rücken förmlich an der Wand klebte. Rafael streckte nachlässig eine Hand aus und brachte sie vor den Metallhaken in Sicherheit.
»Wollten Sie etwas Bestimmtes, oder sind Sie einfach nur gekommen, um mich in Rage zu bringen?« Sie funkelte ihn an und gab sich dabei große Mühe, möglichst furchteinflößend auszusehen. Dass er sich noch nie an Frauen angeschlichen hatte, glaubte sie gern. Wahrscheinlich warfen sie sich Rafael De La Cruz bereitwillig an den Hals.
Sein Lächeln vertiefte sich und zeigte erstaunlich weiße Zähne. »Glauben Sie das von mir, pequena? Dass ich Sie in Rage bringen will?« Er beugte sich zu ihr vor, stemmte eine Hand neben ihrem Kopf an die Wand und hielt sie buchstäblich gefangen. »Als Rage hätte ich Ihre Reaktion auf mich eher nicht bezeichnet.«
Colby hielt den Atem an, als seine muskulöse Gestalt sie streifte. Ihre Beine waren wackelig, ihre Brüste schmerzten, und jeder Nerv erwachte prickelnd zum Leben. Die Hitze seines Körpers war unglaublich, und sie hatte das Gefühl, dass die Raumtemperatur beträchtlich gestiegen war.
Seine Hand langte nach einem Zaumzeug und zog es aus dem Wandregal. Colby hätte schwören können, dass er leise lachte, als er sich umdrehte, um sich auf einen Ballen Heu zu setzen. Aber als er aufblickte, verriet Rafaels ausdruckslose Miene keine wie auch immer geartete Emotion. »Wollen Sie da stehen bleiben, oder helfen Sie mir?«, fragte er und klopfte einladend neben sich auf das Heu.
Sie starrte ihn an, als wäre ihm ein zweiter Kopf gewachsen. Seine Hände machten sich mit sicheren und geschickten Bewegungen an dem Zaumzeug zu schaffen. Während sie ihn beobachtete, zählte sie ihre Herzschläge. Schließlich ging sie widerwillig die zwei Schritte, die sie von ihm trennten, auf ihn zu. »Sie wollen mir dabei helfen? Okay, was ist der Haken, De La Cruz?«
»Ich denke, es wäre ein guter Zeitpunkt, mich Rafael zu nennen«, sagte er ruhig.
Colby zögerte einen Moment, bevor sie sich neben ihn setzte, wobei sie darauf achtete, seinen Körper nicht einmal zu streifen. Trotzdem konnte sie die Hitze spüren, die er ausstrahlte. »Meinetwegen«, erwiderte sie mit einem Seufzer. »Was ist der Haken bei der Sache, Rafael?«
»Ist das Ihre Lebensphilosophie?«, gab er freundlich zurück. »Dass es immer ein Haar in der Suppe gibt? Interessante Anschauungsweise. Ist das eine amerikanische Tradition?«
Sie warf ihm unter ihren langen Wimpern einen tadelnden Blick zu. »Sie wissen genau, dass es nichts dergleichen ist. Mir ist nur im Lauf der Jahre mehr als ein Mal klar geworden, dass fast alles seinen Preis hat.«
Er zog seine dunklen Augenbrauen hoch. »Einschließlich schlichter Freundschaft?«
Sie sah ihn nicht an, sondern konzentrierte sich auf ihre Arbeit. »Ich glaube nicht, dass Sie wissen, was schlicht ist. Was wollen Sie von mir, De La Cruz?«
»Fällt es Ihnen so schwer, mich beim Vornamen zu nennen?«, fragte er leise. Der Klang seiner Stimme überspülte sie, streichelte ihr Inneres und brachte etwas in ihrem Unterleib zum Schmelzen.
»Ich halte nichts davon, mich mit dem Feind zu verbrüdern.« Sie warf einen Blick auf seine makellos geschnittenen Züge und schaute schnell wieder weg. »Sie sind der Feind, Rafael.« Sie benutzte absichtlich seinen Vornamen, um ihm zu beweisen, dass sie keine Angst vor ihm hatte. Es erwies sich als Fehler. Es schuf in der kleinen Kammer eine unerwünschte Intimität. »Sie wollen meine Geschwister ... und die Ranch.« Colby hob unvermittelt den Kopf und sah ihm in die Augen. »Vor allem aber wollen Sie nach Hause, und ich bin Ihnen im Weg.« Sie starrte ihn so unverwandt an, als wollte sie etwas entdecken, das er ihr verheimlichte.
Rafael spürte die plötzlichen Schwingungen von Macht, einer Macht, die stark und zielgerichtet war. Er wusste, dass Colby versuchte, an die Informationen in seinem Bewusstsein heranzukommen und eine Erklärung für seine plötzliche Veränderung zu finden. Freude stieg in ihm auf, aber er drängte seinen Triumph tief in sein Inneres zurück. Als er scheinbar beiläufig nach dem nächsten Lederstück griff, streifte er mit seinem Arm ihren Körper. »Vor ein paar Tagen war es so. Jetzt nicht mehr.«
»Was hat sich geändert?« Ihre Stimme klang mehr als skeptisch.
»Ich habe Sie getroffen.« Er sagte es leise, aber eindringlich. Alles hatte sich verändert. Er würde nach Hause zurückgehen, doch Colby Jansen würde ihn begleiten. Nichts anderes war von Bedeutung. Er musste sie haben, koste es, was es wolle. Im Grunde sollte er sie einfach mitnehmen. Er hatte genug Macht, um sie zu entführen und in sein ureigenstes Territorium zu bringen, aber seine Gefühle für sie hinderten ihn daran. Sie sah so traurig und müde aus ! Am liebsten hätte er sie in die Arme genommen, sie an sich gezogen und getröstet. Rafael war ein Vampirjäger, ein Mann der Tat und der schnellen Entscheidungen. Nach den weit mehr als tausend Jahren seines Daseins fand er sich jetzt auf einem völlig neuen Territorium wieder. »Was Ihrem Freund passiert ist, tut mir sehr leid. Sean hat mir erzählt, dass Sie sehr gut zu dem Mann waren. Tut mir leid, ich weiß seinen Namen nicht.«
»Pete. Pete Jessup.« Ihre Kehle war wie zugeschnürt, aber sie würgte ihre Empfindungen hinunter und fuhr fort: »Er war mir ein sehr guter Freund. Ich weiß nicht, ob ich die Ranch ohne ihn führen kann. Er konnte nicht alle Arbeit machen, doch er hat mir wertvolle Ratschläge gegeben. Jeder glaubte, Pete wäre ein Fall für die Wohlfahrt, aber er wusste unglaublich viel über die Leitung einer Ranch; er hat sein Leben lang auf der einen oder anderen Ranch gearbeitet und war bereit, mir alles beizubringen.« Und außer guten Ratschlägen hatte er ihr Freundschaft geschenkt.
Colby hängte das Zaumzeug, an dem sie gearbeitet hatte, auf und suchte nach dem nächsten reparaturbedürftigen Stück, um Rafael nicht anschauen zu müssen. Sie war verlegen und leicht beschämt, weil sie so private Informationen weitergegeben hatte. Rafael De La Cruz war eine Gefahr für sie. Auf so engem Raum wie hier konnte sie sein Bedürfnis spüren, sie zu trösten und zu beschützen, und das war sehr gefährlich für ihren Seelenfrieden.
»Sie sind eine Frau, Colby. Sie sollten nicht dazu gezwungen sein, eine Ranch zu führen.« Er sagte es so leise und sanft, dass sie es zunächst kaum wahrnahm.
Einen Moment lang saß sie still neben ihm, bis seine Worte in ihr Bewusstsein sickerten. Wieder spürte Rafael das rasche Anschwellen einer Macht, die den ganzen Raum erfüllte, bis sich die Wände fast nach außen bogen. Colby bemühte sich, ihr Temperament im Zaum zu halten. Sie fuhr sich mit einer Hand durch ihr dichtes Haar und holte mehrmals tief Luft, während sie einen inneren Kampf ausfocht. »Ich denke, es ist besser, wenn Sie jetzt gehen, Rafael«, erklärte sie schließlich. »Ich weiß Ihren Versuch, Freundschaft zu schließen, wirklich zu schätzen, aber wir werden nie Freunde sein.«
Seine dunklen, unergründlichen Augen, die tausend Geheimnisse zu verbergen schienen, glitzerten sie an. »Ich glaube, wir werden lernen, sehr gute Freunde zu sein.« Sein Lächeln war unverhohlen sexy, seine Zähne sehr weiß. »Aber zuerst müssen Sie aufhören, so kratzbürstig zu sein.«
Trotz des schrecklichen Tages, den sie hinter sich hatte, trotz ihrer Sorgen um die Ranch und der Tatsache, wer Rafael De La Cruz war, hätte Colby beinahe über seine Wortwahl gelächelt. Ihr Bruder und Ben Lassiter warfen ihr genau dasselbe vor. »Ich bin keine Kratzbürste.« Als seine Augen weiterhin unverwandt auf ihr ruhten, zuckte sie die Schultern. »Okay, ein bisschen vielleicht, wenn es um Sie geht. Ich mag Sie nicht.«
Er beugte sich so dicht zu ihr, dass sein Oberschenkel ihren streifte. »Schmeicheln Sie allen Männern so, oder genieße nur ich dieses Privileg?«
»Tut mir leid, das war ziemlich unhöflich. So bin ich normalerweise nicht.« Sie rieb sich die Stirn. »Das hoffe ich wenigstens. Okay, manchmal vielleicht. Was wollen Sie hier?«
»Ihnen den Hof machen.« Das klang reichlich altmodisch.
Ihre grünen Augen hefteten sich auf sein Gesicht. »Wie bitte? Wozu, in aller Welt?«
Er konzentrierte die ganze Kraft seiner schwarzen Augen auf sie, Augen, die ausgesprochen faszinierend waren. Hypnotisch. Verboten sexy. »Warum bemühen sich Männer im Allgemeinen um Frauen, Colby? Ich denke, das können Sie selbst herausfinden.« Seine Stimme war samtweich und rau zugleich, und sein Akzent machte eindeutig einen Teil seines Charmes aus.
Colby konnte fühlen, wie ihre Haut brannte. Kleine Flammen schienen an all ihren Nervenenden zu lecken. Sie warf ihm unter ihren langen Wimpern einen strengen Blick zu. »Ich glaube, Sie sind es einfach gewohnt, dass Ihnen die Frauen zu Füßen liegen, und ertragen es nicht, wenn eine es nicht tut. Ich bin ein praktischer Mensch, Rafael. Männer wie Sie bemühen sich nicht um Frauen wie mich.«
Sein Blick glitt wie ein Hauch von Samt über sie, vom Kopf bis zu den Zehenspitzen, und bewirkte, dass ihre Haut in Flammen stand und tiefe Röte ihr Gesicht überzog.
»Sehen Sie, genau das meine ich«, warf sie ihm vor. »Sie haben Ihr Leben lang nichts anderes gemacht, als Frauen zu verführen, und ich betrachte Männer als Freunde oder Kollegen. Sie wissen doch gar nicht, wie man eine freundschaftliche Beziehung zu einer Frau aufbaut. Und ich weiß nicht, was ich mit einem Mann anfangen soll, der mich verführen will.«
Seine Zähne waren weißer denn je, sein Lächeln ein wenig spöttisch. »Ich glaube nicht, dass Sie die Situation, in der Sie sich befinden, ganz erfassen. Ich werbe um Sie, wie ein Mann um seine Braut wirbt. An einer Geliebten, die ein paar Nächte mein Bett mit mir teilt, bin ich nicht interessiert. Sie brauchen nicht zu wissen, wie man mit Verführung umgeht. Ich weiß darüber genug für uns beide.«
Colby schnappte hörbar nach Luft und starrte ihn mit offenem Mund an. »Hören Sie sich eigentlich noch selbst zu, wenn Sie diesen Mist verzapfen?« Sie sprang auf und entfernte sich hastig ein paar Schritte von ihm, um ihn nicht mi dem Zügel zu erwürgen. »Soll es etwa ein Kompliment sein dass Sie mich als Braut wollen und nicht als Geliebte? Wie viele hatten Sie denn schon? Gibt es nach der Hochzeit eine feste Zahl, oder überlassen Sie das dem Zufall?«
Sie war so schön, dass es ihm den Atem verschlug. In ihrer zierlichen Gestalt steckte ein eiserner Kern, ein unbezähmbarer, hart erkämpfter Stolz. Er schaute sie an und sah sich selbst mit ihren Augen. Was hatte er aus seinem Leben gemacht? Sie wusste nichts von ihm, kannte nur das von ihm und seinen Brüdern sorgfältig kultivierte Image des reichen Playboys.
Wen liebte er? Wer bedeutete ihm etwas? Mitglieder der Familie Chevez, die seit Jahrhunderten mit ihnen lebte und ihre Geschäfte führte? Seine Brüder, die er nur aufgrund verschwommener Erinnerungen liebte? Aber Colby kannte ihn ausschließlich kalt und unbewegt. Sie hatte gesehen, dass er kaum Interesse an anderen hatte. Menschen galten ihm ungefähr so viel wie seine Tiere und sein Besitz. Es war notwendig, sie zu beschützen, aber das war eine Frage der Ehre, mehr nicht. Frauen waren für ihn im Grunde ein Objekt der Begierde und leichte Beute für einen so attraktiven Mann wie Rafael. In Colby Jansens Augen schien er nicht mehr als ein ziemlich nutzloser Weiberheld zu sein. Sie fand ihn anziehend und sexy, aber auch kalt und grausam. Wertlos. Er entdeckte leichte Verachtung in ihrem Bewusstsein, als es ihm gelang, Colbys innere Schutzbarrieren zu überwinden. Für sie war er der Prototyp des Latin Lovers und sein Leben eine endlose Abfolge von Partys und Frauen. Rafaels Finger schlossen sich um das alte Leder.
Colby wusste, wie es war, bedingungslos und leidenschaftlich zu lieben. Sie arbeitete hart, ohne zu klagen, ohne an etwas anderes als diejenigen zu denken, die ihr am Herzen lagen. Rafael ertappte sich bei dem Wunsch, zu den Wenigen zu gehören, die für sie zählten. Sie auf seine Ländereien mitzunehmen und sie für sich zu beanspruchen würde ihm nicht ihre aufrichtige Liebe einbringen. Sie war seine Gefährtin und reagierte körperlich auch so auf ihn, aber ihr Herz und ihr Geist betrachteten ihn als eine eher nutzlose Person. Er stellte fest, dass ihm ihre Einschätzung gar nicht gefiel, mehr noch, dass ihm ihre Meinung wichtig war.
Rafael und seine Brüder waren zu einer Zeit, in der Krieg und Verwüstung herrschten, aus den Karpaten in die Welt hinausgeschickt worden. Damals hatten sie ihre Fähigkeit, Farben zu sehen und Gefühle zu haben, schon lange verloren gehabt, aber sie hatten ihrem Prinzen nach ihrem strengen Ehrenkodex gedient, so gut sie konnten. Das war alles, was ihnen in der grauen, trostlosen Welt ihres endlosen Daseins geblieben war. Aber im Lauf der langen Jahrhunderte waren allmählich alle Erinnerungen verblasst, und die Dunkelheit rückte immer näher.
Plötzlich sprühten Colbys Augen Funken. »Und haben Sie etwa meine anrüchige Herkunft vergessen? Soweit ich mich erinnere, war ich der Grund, warum die Familie Chevez es nicht über ihr sogenanntes Herz brachte, Armando wieder in den Schoß der Familie aufzunehmen. Soweit ich weiß, bin ich unehelich geboren. Ein De La Cruz sollte mit jemandem wie mir nicht verkehren, geschweige denn um mich werben. Es könnte Ihren guten Namen ruinieren.«
Seine schwarzen Augen wechselten von tiefdunkler Intensität zu einer so eisigen Kälte, dass sie erschauerte. »Wie kommen Sie denn auf die Idee?« Seine Stimme war leise und doch bedrohlich, und obwohl er sich nicht bewegte, schien er auf einmal viel zu nahe bei ihr zu sein.
Colby gab keinen Zoll nach, aber der Boden unter ihren Füßen schien plötzlich zu schwanken. »Ich habe den Brief gelesen. Den Brief des Familienpatriarchen, in dem er Armando befahl, meine Mutter und mich schleunigst wieder loszuwerden, bevor ich dem Namen De La Cruz Schande machte. Er lag in der Kommode meiner Mutter. Ich fand ihn nach ihrem Tod.«
Rafael starrte sie lange an. Er konnte in ihrer Stimme den Schmerz hören, den sie so tapfer zu verbergen versuchte. Und er konnte ihren Schmerz fühlen. »Ach, verstehe. Das erklärt einiges. Nur der Ordnung halber: Meine Brüder und ich haben selbst einen etwas fragwürdigen Ruf; es interessiert uns nicht sonderlich, was die Leute über uns oder andere sagen.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung, und Colby glaubte ihm sofort. Er war viel zu gleichgültig, zu arrogant und von sich selbst überzeugt, um sich Gedanken über das Gerede der Leute zu machen. »Der alte Chevez war ein Mann, der seine Stellung in der Gemeinde übertrieben ernst nahm. Er glaubte, wenn er Schande über uns brächte, würden wir seine Familie irgendwie dafür büßen lassen. Das war falsch.«
Rafael seufzte. »Wir haben uns nicht eingeschaltet, als wir es hätten tun sollen«, gab er zu. Er litt um ihretwillen, um das junge Mädchen, das einen Brief von einem stolzen, alten Mann gefunden hatte, der kein Verständnis für die Veränderungen der neuen Zeit aufbrachte.
Colby hätte schwören können, dass ein flüchtiger Ausdruck von Zärtlichkeit über sein Gesicht huschte, als er sie anschaute. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass der alte Mann auf Sie gehört hätte«, gestand sie ihm leicht beschämt zu. »Vielleicht auf Ihren Vater, aber bestimmt nicht auf Sie.«
Einen Moment lang hatte er vergessen, auf die Zeitabläufe zu achten. Ständig ermahnte er seine Brüder, vorsichtig zu sein, wenn Dinge, die in der Vergangenheit stattgefunden hatten, zur Sprache kamen, und nicht so darüber zu sprechen, als wären sie damals alle dabei gewesen. Seine nächsten Worte wählte er sehr sorgfältig.
»Es tut mir leid, dass Ihre família wegen der prätentiösen Einstellung eines unbeugsamen Mannes leiden musste. Als Armandos Brüder den Brief nach seinem Tod entdeckten, gaben sie keine Ruhe und wollten unbedingt persönlich herkommen, um zu versuchen, dieses furchtbare Unrecht wiedergutzumachen. Man muss ihnen eines zugutehalten: Sie wussten nicht, dass Armando geheiratet und Kinder hatte. Sie wussten nicht, dass seine Frau bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen war und er selbst schwer verletzt worden war. Wenn sie oder meine Brüder und ich das geahnt hätten, wären wir sofort gekommen.« Das war wahr. Die Brüder De La Cruz betrachteten Armando als Familienmitglied. Hätten sie von seiner Notlage gewusst, wären sie ihm sofort zu Hilfe gekommen. Wir hätten es wissen müssen, hätten besser auf Armando aufpassen und ihn aus der Ferne beobachten sollen. Mit diesem Wissen musste Rafael leben.
»Das macht die Sache für mich zwar etwas besser, aber ich werde trotzdem nicht erlauben, dass sich Wildfremde mit meinen Geschwistern davonmachen.« Selbst in ihren eigenen Ohren klang sie trotzig.
»Sie haben den Brief, den der Anwalt Ihnen geschickt hat, gar nicht ganz gelesen, nicht wahr?«, fragte er freundlich, den Blick unverwandt auf ihr Gesicht gerichtet.
Colby zuckte die Schultern und reckte ihr Kinn. »Ich habe gelesen, was ich wissen musste, und den Rest überflogen. Die Ranch ist auf meinen Namen eingetragen; sie hat meiner Mutter gehört. Hat die Familie Chevez das gewusst? Sie war seit hundert Jahren im Besitz der Familie meiner Mutter. Ich werde sie ihnen nicht überlassen. Armando hat all das Land, das im Lauf der Zeit verloren ging, zurückgekauft und es geschafft, aus einem heruntergekommenen Besitz einen florierenden Betrieb zu machen. Es ist sein Vermächtnis an seine Kinder, und ich habe vor, es für sie zu erhalten. Ich habe ihn geliebt. Er hätte etwas Besseres verdient als das, was er bekommen hat.«
Rafael nickte langsam, ohne den Blick von ihrem Gesicht zu wenden. »Genau wie Sie, querida. Die Familie Chevez möchte, dass Sie Ginny und Paul begleiten. Sie sind Verwandte, Colby, und Sie und die Kinder sind für die schreckliche Tragödie, die ihr avô über die Familie brachte, nicht verantwortlich. Sie tun ihr Möglichstes, um das wiedergutzumachen.« Ein Hauch von Tadel schwang in seiner Stimme mit. »Die Chevez' brauchen diese Ranch nicht, da sie selbst sehr wohlhabend sind. Jeder von ihnen hat Grundbesitz; außerdem verwalten sie unsere Ländereien.«
Colby fuhr sich durchs Haar. »Ich bin müde, und es war ein lausiger Tag. Ich gebe gern zu, dass Sie mir eine große Hilfe waren und mich von Petes Tod abgelenkt haben, aber jetzt sollten Sie wirklich gehen, Rafael.« Sie hatte einen Punkt erreicht, wo sie im Raum nichts anderes mehr als seinen durchtrainierten männlichen Körper wahrnahm. Ihr Blut schien vor Feuer und Hitze zu brodeln, und ihr ganzer Körper kam ihr rastlos und fremd vor. Sie wollte diese Seite an Rafael nicht kennenlernen, die freundliche und gütige Seite. Es war viel leichter, ihm zu widerstehen, wenn er ein Herz aus Eis hatte.
Er war in ihrer dunkelsten Stunde zu ihr gekommen, als sie allein, müde und verletzlich gewesen war, und hatte ihr mit seiner melodischen Stimme seine Hilfe angeboten. Seine Stimme allein konnte den tiefsten Schmerz lindern. Aber sie wollte ihn oder die Familie Chevez nicht mögen. Andernfalls müsste sie ihnen gegenüber nämlich vernünftig und fair sein.
Rafael konnte Colbys Müdigkeit spüren. Ihr Körper war wund und zerschlagen; ihre Muskeln schmerzten. Sie war sehr früh aufgestanden, um nach ihrem verlorenen Freund zu suchen, und der Tag hatte sich endlos dahingezogen. Sie hielt sich mit Mühe und Not aufrecht und wartete nur darauf, sich an irgendeinen Ort zu verkriechen, wo niemand sie sehen konnte. Er stand langsam auf und legte sorgfältig jedes Stück Zaumzeug an seinen Platz zurück.
Als er sich zu ihr umwandte und sie anschaute, stockte Colby der Atem. Seine Augen waren schwarz und hungrig und glühten vor Verlangen. Fast hilflos starrte sie ihn an, unfähig, sich zu rühren. Noch nie hatte sie so lebendige Augen gesehen, so heiß und hungrig und von einer Intensität, die sie gleichzeitig erschreckte und magisch anzog. Wie hatte sie ihn je für kalt halten können? Rafael streckte einen Arm aus, packte sie am Handgelenk und zog sie langsam, aber unerbittlich an seine Seite.
Sofort war sie da, die Elektrizität, sprühend und knisternd und heiß. Colby reichte ihm kaum bis zur Brust und musste den Kopf zurücklegen, weil sie so nahe bei ihm war. Er beugte sich einfach vor, ohne den Blick von ihrem schmalen, blassen Gesicht zu wenden, und kam immer näher und näher. Sie konnte seine langen, dichten Wimpern sehen, seinen verführerischen Mund. Ihr Herz fing an, in einem ziemlich hektischen Rhythmus zu schlagen, genau wie seines. Seine Hand glitt in einer langsamen Liebkosung an ihrem Rücken hinauf. Sie sah, wie sein Mund sich ihrem näherte.
»Das kann ich nicht machen«, flüsterte sie, obwohl sie sich bereits enger an seine verlockende Wärme schmiegte. Er war Feuer, sie war Eis wie die hohen Berge, die sie umgaben. Zwei Hälften eines Ganzen. »Das kann ich nicht machen«, wiederholte sie, mehr zu sich selbst als zu ihm. Es war ein letzter Versuch der Selbstverteidigung. Ihr Körper schien mit seinem zu verschmelzen, wurde weich und nachgiebig, obwohl sie es gerade jetzt so sehr brauchte, abweisend und kühl zu bleiben, die Eisprinzessin, als die einige der Cowboys sie gern bezeichneten.
Ich muss es tun. Die Worte schwebten durch ihren Kopf, schwebten zwischen ihnen, in seinem Herzen und seiner Seele genauso wie in ihrem Herzen und ihrer Seele. Er brauchte es mehr als die Luft, die sie atmeten, mehr als das Blut, das ihm Leben schenkte. Du musst es tun. Rafaels Hand schloss sich um ihren Nacken. Seine Finger waren warm, stark und fest, zogen sie unerbittlich näher an seine Brust und hoben die letzten wenigen Zentimeter auf, die sie voneinander trennten. Ich brauche es. Das war die schlichte, unverhohlene Wahrheit. Sie traute ihm nicht, ihm, dem Lebemann, dem Playboy. Schlimmer noch, sie sah in ihm den Mann, der sie zu verführen versuchte, um an ihre Geschwister und die Ranch heranzukommen. Es tat weh, das Bild zu sehen, das sie sich von ihm gemacht hatte. Es schmerzte mehr, als er zuzugeben bereit war, aber darauf kam es im Moment für keinen von ihnen an.
Es war ein Unterschied, ob man etwas wollte oder sich verzweifelt danach sehnte. Rafael sehnte sich danach, ihren seidigen Mund und ihren weichen, anschmiegsamen Körper zu spüren. Er presste seinen Mund auf ihren, eine Verschmelzung von heißem Samt und noch heißerer Seide. Was auch zwischen ihnen sein mochte, es war weit stärker als sie. Flüssige Hitze strömte durch ihr Blut und ließ ihre Herzen schneller schlagen. Die Erde unter ihren Füßen schien zu beben, und Rafael zog sie noch enger an sich, schützend und besitzergreifend zugleich.
Sie fühlte sich in seinen Armen sehr klein und zerbrechlich an und doch wie eine lebende, atmende Flamme. All seine guten Vorsätze schienen in einem Feuer aufzugehen, das so heiß loderte, dass es ihn fast um den Verstand brachte. Sein Mund strich beherrschend und erkundend über ihren und entführte sie beide in eine Welt reiner Sinnlichkeit. Er schwelgte in ihrem Liebreiz und hätte sie am liebsten verschlungen, sie in seinen Körper geholt und für alle Zeit in seiner Seele eingeschlossen, mitsamt ihrer leidenschaftlichen Natur, die sich ganz in dem rein erotischen Vergnügen verlor.
Seine Hände glitten besitzergreifend über ihren Körper; sie brauchten es, jeden Zentimeter ihrer Haut zu berühren. Er schob den Ausschnitt ihres Hemdes beiseite, um mit seinem Mund einen Pfad feuriger Küsse über ihren Hals zu ziehen. Bei ihrer Pulsader verharrte er kurz und strich leicht mit der Zunge darüber. Seine Hand wanderte unter dem dünnen Stoff ihres Hemdes an ihrem schmalen Brustkorb hinauf und schloss sich um ihre von Spitzen verhüllte Brust, während gleichzeitig sein Mund zu dieser köstlichen Verlockung fand.
Sein Mund war heiß und feucht durch die Spitze ihres BHs zu spüren, und seine Zunge liebkoste ihre Brustspitze, bis sie zu einer harten, kleinen Knospe wurde. Der Spitzenstoff ihres BHs rieb sich zusammen mit seinen Zähnen sinnlich und prickelnd an ihrer Haut und machte sie so wild, dass ihr ganzer Körper vor Verlangen vibrierte. Den Tränen nahe schlang sie ihre Arme um seinen Hals, als sie von einer Flut von Empfindungen überschwemmt wurde, von reiner Lust, heißem Verlangen und einer Feuchtigkeit, die sie nicht verhindern konnte. Für Colby war ihre Reaktion ein Schock und völlig unerwartet. Und sie war inakzeptabel ! Sie gab einen Laut wie ein verängstigtes Tier von sich, erschüttert, dass sie in Rafaels Armen kein denkendes Wesen mehr war. Er konnte alle ihre Prinzipien mühelos umstoßen. Dabei wusste sie nicht einmal, ob sie ihn mochte.
»Rafael.« Ihre Stimme schmerzte vor Verlangen; sie klang atemlos und sexy und ganz und gar nicht so, wie sie beabsichtigt hatte. »Hör auf!« Nur mit Mühe brachte sie die Worte heraus. Zwei kleine Worte. Ihr Körper wollte nicht, dass er aufhörte, sondern wünschte, er würde ewig weitermachen, die Warnungen ihres Verstandes ausschalten und sie einfach in dieses Flammenmeer mitreißen. Noch nie hatte sie eine solche Lust empfunden oder geahnt, dass irgendjemand derartige Gefühle in ihr wecken konnte.
»Du willst nicht, dass ich aufhöre.« Er flüsterte es an ihrer Brust, und seine Worte streiften ihre Haut wie ein verführerischer Hauch.
Gott steh mir bei, dachte sie. Nein, sie wollte nicht, dass er aufhörte, niemals. Colby nahm all ihre Kraft zusammen und stieß ihn von sich. »Du musst aufhören. Ich kann das nicht.« Sie packte ihr Hemd und zog es über ihre vollen, schmerzenden Brüste. Tränen glitzerten in ihren Augen und verwandelten ihre Farbe in ein tiefes Smaragdgrün. »Tut mir leid, ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. So etwas habe ich noch nie gemacht. Du musst gehen.« Sie konnte ihm nie wieder ins Gesicht sehen. Nie wieder.
»Colby.« Er sagte ganz leise ihren Namen. Seine Stimme schien in ihrem Schoß ein Feuer zu entfachen, das sich rasend schnell ausbreitete. Es machte ihr Angst, furchtbare Angst.
Colby wich vor ihm zurück, drehte sich um und rannte davon, als wäre Rafael der Teufel persönlich. Sie lief über den Hof und rettete sich in die Geborgenheit ihrer Veranda. Rafael stand im Schatten, lauschte, als sie mit ihren Geschwistern sprach, und sah zu, wie sie alle ins Haus gingen. Er stand allein in der Dunkelheit. So allein, wie er es immer gewesen war. In diesem Haus gab es Farbe und Leben, Gefühle, Leidenschaft. In diesem Haus war Leben. Seine Welt. Er stand in der Dunkelheit, wo die Dämonen hingehörten, und wusste nicht, ob er die Finsternis, die sich in seinem Inneren immer schneller ausbreitete, noch kontrollieren konnte. Colby litt; sie litt an einem inneren Schmerz, einer offenen Wunde, und war völlig verunsichert. Und er wusste, dass er sie nicht so zurücklassen konnte.