Kapitel 12

Paul saß still in einer Ecke, dicht neben ihm sein Onkel Julio. Colby konnte nicht umhin, seine schützende Haltung zu bemerken. In diesem Augenblick sah Julio Chevez ihrem Stiefvater so ähnlich, dass es ihr beinahe das Herz brach. Unruhig spähte sie zum Haus. »Ich will lieber noch mal nach Ginny sehen.«

»Dem Mädchen geht es gut. Sie schläft tief und fest«, sagte Nicolas. »Wenn du es wirklich so haben willst, erledigen wir es besser gleich.«

Sie bemühte sich, sich von seiner schroffen Art nicht irritieren zu lassen. »Ich wollte nicht Zeit schinden. Zufällig mache ich mir wirklich Sorgen. Das war bis jetzt nicht unbedingt die beste Nacht meines Lebens. Für dich ist der Umgang mit Vampiren vielleicht ganz alltäglich, doch uns ist es neu, dass sie überhaupt existieren.« Sie lächelte ihren Bruder ermutigend an.

Er versuchte zu grinsen, senkte den Kopf und erhaschte einen Blick auf ihren pfirsichfarbenen BH, der immer noch um seinen Arm geschlungen war. Sofort veränderte sich sein Gesichtsausdruck und wurde düster und hässlich. Paul löste das zarte Dessous von seinem Arm und hielt es mit zwei Fingern hoch, sodass es jeder sehen konnte. Erst jetzt wurde Colby peinlich bewusst, dass sie nichts unter ihrer dünnen Bluse trug und dass sämtliche Knöpfe fehlten. Auch in diesem Augenblick äußerster Demütigung versuchte sie, Rafael zu erreichen. Als ihr klar wurde, dass sie es nicht konnte, fühlte sie nur Leere und Schmerz – und Angst.

Sie folgte mit den Augen dem Weg, den ihr BH nahm, als Paul ihn von sich schleuderte, als wäre das Wäschestück etwas so Widerwärtiges, dass er nicht einmal den Anblick ertragen könnte. Plötzlich machte er einen Satz, griff nach einer Heugabel und stürzte sich auf Colby.

Sie sah nicht, wie Nicolas sich bewegte, aber auf einmal stand er vor ihr, nahm Paul die Waffe ab und zog den Jungen an sich. Ihr Bruder erstarrte sofort unter dem Einfluss von Nicolas' unbeugsamem Willen. Colby stockte der Atem, als sie beobachtete, wie seine Eckzähne länger wurden und er sie ohne Vorwarnung tief in Pauls Hals schlug. Sie fühlte sich, als bohrten sich diese scharfen Fänge in ihren eigenen Hals, und erschauerte. In diesem Moment hasste sie Nicolas ... und sich selbst. Sie hasste sogar Rafael. Wie konnte sie einfach zuschauen, wie ein Geschöpf, das sie kaum kannte, das Blut ihres Bruders trank?

Was macht er? Rafael war schwach, zu schwach. Sie konnte seinen flachen Puls spüren, als er sich in ihrem Bewusstsein regte.

Seine Sorge galt nicht Paul, sondern seinem eigenen Bruder, Nicolas. Colby fühlte es, als wäre es ihre eigene Sorge. Sie spürte die Woge von Liebe und Wärme, die Jahrhunderte umfasste. Sie strömte in ihren Körper und erfüllte ihr Herz und ihre Seele, sodass sie am liebsten die Hand nach Nicolas ausgestreckt hätte, um ihn aufzuhalten. Was er tat, war gefährlich für ihn, nicht für Paul. Nicolas nahm freiwillig Vampirblut zu sich, obwohl er jede Minute eines jeden Tages gegen den Dämon kämpfte, der seine Seele bereits berührt hatte und um die Oberhand rang.

»Warte!« Colby konnte sich nicht zwischen Nicolas und Paul entscheiden – der eine war Rafaels Bruder, der andere ihr eigener. Sie schienen in ihrem Inneren miteinander zu verschmelzen. Pauls Leben gegen Nicolas' Seele. Es war eine furchtbare Entscheidung.

Macht euch keine Sorgen um mich, keiner von euch. Nicolas' Stimme strich durch ihren Kopf. Dir zuliebe werde ich durchhalten und zu unseren Brüdern zurückkehren, Rafael. Du teilst mit mir die Empfindungen, die du für diese Frau und diesen Jungen hast. Das wird mir Halt geben, bis ich in unserer Heimat bin. Schlaf jetzt, Rafael, und lass dich von der Erde heilen.

Durch ihre Verbindung zu Rafael konnte sie Nicolas' Liebe zu seinem Bruder fühlen. Es war ein eigenartiger Weg, den sie gemeinsam benutzten. Zum ersten Mal konnte sie in ihm etwas anderes als das herzlose Monster sehen, das versuchte, ihr ihre Geschwister zu entreißen. Nicolas war auf einmal real für sie, weil sie ihn mit Rafaels Augen sah. Erinnerungen an Nicolas tauchten auf, und sie wusste, dass Rafael sie absichtlich heraufbeschwor.

Wie oft hatte er sich zwischen Menschen und den Tod gestellt und dabei sein Leben und seine Seele aufs Spiel gesetzt? Wie oft hatte er versucht, Rafael und seine anderen Brüder vor den Auswirkungen seiner furchtbaren Kämpfe abzuschirmen? Unzählige Male war er verwundet worden; unzählige Male hatte er getötet und dabei einen Teil seiner Seele verloren.

Colby schloss die Augen. Sie wollte das alles nicht sehen, sie wollte ihn weiter für das gefühllose Raubtier halten, das sie zuerst in ihm gesehen hatte. Sie war ohnehin schon völlig durcheinander. Und da war Paul, der von Nicolas mit eisernem Griff gehalten und ausgesaugt wurde, bis Pauls Gesicht blass wurde und er in den Armen des Jägers zusammenbrach, schwindelig und geschwächt, aber immer noch so unnatürlich gefügig, wie Nicolas es von ihm erzwang.

Sie spürte es genau, als Rafael seinem Bedürfnis nach Ruhe und Heilung nachgab. Er zog sich aus ihrem Bewusstsein zurück und hinterließ eine schreckliche Leere in ihr. Colby ließ sich auf einen Ballen Heu sinken und presste beide Hände an ihren brennenden Magen, bevor sie wieder zu Nicolas und Paul schaute. Rafaels Bruder fuhr mit seiner Zunge über Pauls Hals und verschloss die Bisswunden, als wären sie nie da gewesen. Kein Mal war zu sehen. Überhaupt nichts. Ihre Hand stahl sich zu dem Mal an ihrem Hals, das nie zu verblassen schien.

Wir können ein Mal hinterlassen, wenn wir wollen, aber auch jede Spur verschwinden lassen. Nicolas las ihre Gedanken genauso mühelos wie Rafael, doch während es bei Letzterem eine intime Geste war, wirkte es bei Nicolas zudringlich. Seine kalten, schwarzen Augen, die ganz anders als Rafaels waren, glitten über sie. Wie einsam er wirkte und wie völlig isoliert von allem, was ihn umgab ! Rafael hat sein Mal sowohl als Zeichen seiner Bindung als auch als Warnung hinterlassen. Er wird dich beschützen, auch wenn er in der Erde ruhen sollte.

Sie erkannte den milden Tadel, doch zum ersten Mal war sie imstande, darüber hinaus die furchtbare Last zu sehen, die Nicolas trug. »Was musst du jetzt machen?«, fragte sie.

»Das Gift durch meine Poren austreten lassen und meinen Körper vom Schmutz des Vampirs befreien.« Paul stand immer noch unter seinem Bann. Nicolas half ihm, sich auf den Boden zu setzen. »Vampirblut brennt wie Säure. Der Junge hätte nicht lange durchgehalten. Doch da ist noch etwas, das mir noch nie begegnet ist.« Nicolas schloss die Augen und suchte in seinem Körper nach dem Mittel, das Paul infiziert hatte und sich jetzt in seinen eigenen Adern ausbreitete. »Hier ist noch etwas anderes, ein kleiner Parasit, der nicht da sein sollte. Er ist mutiert, ähnlich wie die Schlangen, die der Vampir benutzt hat, um Rafael anzugreifen.«

»Woher kam der Vampir?«, wollte Colby wissen. Ihr wurde übel, als Blutstropfen aus Nicolas' Poren zu dringen begannen. Es war ein Anblick, den sie nie vergessen würde. Sie versuchte, an etwas anderes zu denken, an irgendetwas, um nicht laut zu schreien, als das Blut auf den Boden der Scheune tropfte und das Heu dunkelrot färbte. Sie war nicht zimperlich – immerhin war sie auf einer Ranch aufgewachsen –, aber ihr Magen rebellierte trotzdem.

»Schau nicht hin«, sagte Nicolas barsch. »Du wirst Rafael wieder wecken, und seine Wunden sind tief. Er braucht Zeit zum Genesen.«

»Tut mir leid. Ich habe so etwas noch nie gesehen.« Es war nicht einfach so, dass sie sich Rafaels Nähe wünschte, sie brauchte sie. Alles in ihr rief nach ihm, doch sie fand nur Leere. Sie war sich nicht sicher, wie lange sie es aushalten würde, von ihm getrennt zu sein, und das war erschreckend, vor allem, da Nicolas ihr gerade erklärt hatte, dass seine Verwundung schwer war und Zeit zum Verheilen brauchte. Sie war kein egoistischer Mensch, doch das Verlangen, Rafael nahe zu sein, war überwältigend.

Nicolas seufzte. »Er hätte dich umwandeln und dir die Höllenqualen, die du leiden wirst, ersparen sollen. Du darfst dir nichts antun.«

»Der Typ bin ich nicht«, versicherte Colby, obwohl sie sich allmählich fragte, ob das stimmte. »Tut es weh?« Sie konnte sich nicht vorstellen, wie Paul so etwas überstehen sollte.

»Ja.« Seine Stimme war völlig ausdruckslos. Er zeigte auf das blutgetränkte Heu, und Julio kehrte sofort alles weg, was unangerührt geblieben war, bis nur der blanke Holzboden mit dem blutigen Heu in der Mitte zurückblieb. Nicolas stieß die Tür auf und starrte in den Himmel. Sofort zuckte ein Blitz auf.

Zu Colbys Entsetzen raste ein feuerroter Ball auf sie zu. Er steckte das Vampirblut in Brand, loderte einen Moment lang hell auf und verschwand dann einfach, als wäre er nie da gewesen. Sie blinzelte mehrmals, um sicherzugehen, dass sie keine Halluzinationen hatte.

»Das ist einfach zu bizarr für mich.« Sie wich vor Nicolas zurück. »Ist Paul wieder in Ordnung? Kann ich ihn zu Bett bringen?«

»Ich möchte versuchen, ihn zu heilen. Der Vampir hat ihn mit seinem Blut infiziert, und seine Eingeweide werden sich anfühlen, als hätte jemand einen Lötkolben daran gehalten«, antwortete Nicolas.

Colby fiel auf, wie blass und müde er aussah. Die Furchen waren tiefer als sonst in sein Gesicht eingegraben, und seine Augen waren kalt wie Eis. Sie fröstelte. »Du brauchst Nahrung.«

»Ja.«

Colby warf Julio einen hilflosen Blick zu. Sie hatte das Gefühl, dass ihr nach allem, was Nicolas für Paul getan hatte, nichts anderes übrig blieb, als ihm ihr Blut anzubieten, aber es war so ziemlich das Letzte, was sie wollte.

Julio schüttelte den Kopf. »Ich gebe Don Nicolas Blut, während Sie Paul zu Bett bringen. Dann helfe ich Juan mit den Rindern.«

»Julio, du und Juan müsst hierbleiben«, verkündete Nicolas. »Passt gut auf den Jungen auf, vor allem tagsüber. Ich muss mich ausruhen und werde ihn nicht überwachen können.«

Colby, die sich gerade über Paul beugen wollte, hielt inne. »Was soll das heißen? Hast du nicht gerade das Vampirblut aus seinem Körper entfernt?«

»Bis der Vampir tot ist, wird Paul ständig mit ihm verbunden sein.«

Colby hätte gern noch mehr Fragen gestellt, doch Nicolas ließ Paul aus seiner Trance erwachen. Ihr Bruder kam unsicher auf die Beine, und sie war gezwungen, ihren Arm um ihn zu legen und ihm aus der Scheune zu helfen.

Paul stützte sich schwer auf sie. »Ich fühle mich lausig, Colby.«

»Ich weiß, Liebes. Du brauchst Schlaf.«

Er klammerte sich an sie, als sie ihn ins Haus und in sein Zimmer brachte. »Ich habe echt Angst, Colby. So etwas habe ich noch nie gesehen.«

»Ich auch nicht. Aber wir haben Rafael und Nicolas und Juan und Julio, die uns helfen. Uns passiert schon nichts. Ich ziehe dir deine Stiefel aus, Paul. Leg dich einfach aufs Bett und schlaf.«

Ihm fielen die Augen zu, sowie sein Kopf auf dem Kissen lag, und er rührte sich nicht einmal, als sie ihm Stiefel und Strümpfe auszog. Er war blass, und sein dunkles Haar hob sich von seiner Haut ab. Liebevoll strich sie ihm ein paar wirre Strähnen aus dem Gesicht und beugte sich vor, um ihm einen Kuss auf die Stirn zu hauchen. Paul bewegte sich im Schlaf und langte nach ihrem Handgelenk. »Ich hab dich lieb, Colby.«

So etwas hatte sie schon seit Jahren nicht mehr von ihm gehört. »Ich hab dich auch lieb, Paul«, murmelte sie.

Als sie in die Scheune zurückkam, war Nicolas gerade dabei, Julio sanft an die Wand zu lehnen. »Geht es ihm gut?«

Nicolas wandte sich um und streifte sie mit einem so kalten Blick, dass sie Mühe hatte, ein Schaudern zu unterdrücken. »Ja, natürlich. Julio ist meine família und steht unter meinem Schutz. Normalerweise trinken wir nicht das Blut unserer menschlichen Freunde. Er hat dieses großzügige Angebot gemacht, als ich es dringend brauchte.«

»Rafael kannte den Vampir, Nicolas. Und der Vampir nannte ihn bei seinem Namen. Als sie miteinander kämpften, fühlte ich Rafaels Trauer ... mehr als Trauer.«

Zum ersten Mal war Nicolas' Miene nicht mehr ganz so eisig, als er sie anschaute. In seinen Augen lag ein Ausdruck, der sie schwach an Rafael erinnerte, als hätten ihre Bemühungen, die Welt der Karpatianer zu verstehen, ihr so etwas wie Anerkennung eingetragen.

»Wir kannten einander als Jungen, damals, in den Karpaten.« Nicolas setzte sich neben Julio, um zu sehen, wie es ihm ging. Es war die erste wirklich menschliche Geste, die sie bei ihm erlebte. Seltsam – sie konnte nicht aufhören, Rafael als Menschen zu sehen, doch Nicolas empfand sie nie als menschlich. Sie beobachtete, wie er Julios Handgelenk nahm und seinen Puls kontrollierte.

»Mir geht es gut, Don Nicolas«, protestierte Julio.

»Du musst viel Wasser trinken und schlafen.«

»Ich habe noch zu tun«, wandte Julio ein. »Ich muss auf den Jungen aufpassen.«

»Darum kann sich Juan kümmern«, sagte Nicolas. »Du gehst zu Bett.«

»Keine Sorge, Julio«, beruhigte Colby ihn. »Ich kann auch auf Paul aufpassen. Ich weiß, dass er gefährlich werden kann, und werde sehr vorsichtig sein.«

»Sie müssen tun, was Juan sagt«, ermahnte Julio sie.

Juan kam herein, noch während Julio sprach, und half seinem Bruder sofort auf. »Ich bringe ihn ins Haus.«

»Das mittlere Schlafzimmer ist das Gästezimmer«, erklärte Colby. Sie wollte und musste mehr erfahren, und aus irgendeinem Grund half ihr Nicolas' Anwesenheit, den Kummer zu lindern, der sie zeitweise überfiel. Sie schaute den Brüdern Chevez nach. »Gute Männer, die beiden.«

»Ja, das sind sie, und das ist kein kleines Kompliment«, sagte Nicolas. »Ich kann in ihnen lesen und kenne die Ehre und Integrität dieser Männer.«

»Erzähl mir etwas über den Vampir. Wer ist er?«

»Wer war er – diese Formulierung wäre eher angebracht. Das Erste, was man als Jäger lernen muss, ist, den Mann, den man als Freund gekannt und geliebt hat, von dem Monster zu unterscheiden, das dich mit dem festen Vorsatz, dich zu töten, bekämpft. Kirja ist so ein Mann. Seine und meine Brüder waren beste Freunde. In unserer Gesellschaft sind derart enge Freundschaften eher unüblich, aber bei unseren Familien war es so. Unsere Eltern waren befreundet, und wir wurden sehr ähnlich aufgezogen.« Er stieß einen leisen Seufzer aus. »Wir waren alle sehr ehrgeizig und ein bisschen wilder als die anderen und rebellierten öfter gegen unsere gesellschaftlichen Regeln, deshalb hielten wir zusammen. Kirja und Rafael waren besonders gut befreundet. Sie steckten ständig in irgendeiner Klemme und wetteiferten dauernd darum, bestimmte Fertigkeiten vor dem anderen zu erlangen. Es war eine gute Zeit, obwohl meine Erinnerungen allmählich verblassen. Rafael und Riordan haben diese Erinnerungen für den Rest von uns wach gehalten.« Nicolas vergrub sein Gesicht in den Händen und rieb sich die Schläfen.

Nicolas. Wieder wehte Rafaels Stimme durch Colbys und Nicolas' Bewusstsein. Du bist müde. Ruh dich aus.

»Er klingt so schwach, so weit weg von uns.« Colbys Herz schlug unruhig.

Nicolas hob den Kopf und lehnte sich an die Wand. Du ruhst nicht in dem tiefen Schlaf, den du brauchst. Soll ich dir befehlen, zu schlafen, Rafael P Warum beharrst du auf diesem leichten Schlaf obwohl du weißt, dass du schwer verwundet bist? Die Schärfe, die wieder in Nicolas' Stimme lag, ließ Colby zusammenzucken.

Diejenigen, die ich liebe, sind über der Erde und angreifbar, und ich will es hören, wenn sie mich brauchen. Allmählich verstehe ich, warum meine Gefährtin sich sträubt, ihr Leben mit meinem zu verbinden. Es ist die Hölle, hilflos in der Erde zu liegen, während die, die du liebst, in Gefahr sind. Rafaels Stimme war kaum zu hören, aber er klang ruhig, fast friedlich.

Ruh dich jetzt aus, Rafael, sonst mache ich genau das, was du mich gebeten hast, nicht zu tun, und breche mein Versprechen dir gegenüber.

Colby betrachtete die Linien, die sich so tief in Nicolas' Gesicht eingegraben hatten. Sie hatte ihn mit Rafaels Augen gesehen und sah diese Linien jetzt als Auszeichnung, sah einen Mann von Ehre, einen Mann, der von seinem Schicksal am Boden zerstört, aber trotzdem entschlossen war, diejenigen zu schützen, die er nur aufgrund von Erinnerungen liebte.

Du hilfst ihm, seine Bürde zu tragen, querida. Allein dafür werde ich dich immer lieben.

Colby schloss die Augen, um sich ausschließlich auf seine Stimme zu konzentrieren, auf die zärtliche Liebkosung, die an ihr Herz rührte. Sie sehnte sich danach, ihn zu berühren und sich davon zu überzeugen, dass es ihm gut ging. Selbst jetzt suchte er trotz seiner furchtbaren Verletzungen ihre Nähe und die seines Bruders, um sie zu trösten.

Colby blinzelte die Tränen fort, die ihr in die Augen gestiegen waren. Sie war dabei, sich in ihn zu verlieben. Dabei wusste sie nicht, wie es passiert war; er war nicht der Typ Mann, den sie je für sich in Betracht gezogen hätte.

Ich bin der einzige Mann für dich.

Du bist viel zu dominant. Du magst es, wenn eine Frau zu allem, was von dir kommt, Ja und Amen sagt.

Nur wenn es um Sex geht. Und wenn ich im Recht bin.

Nicolas' Atem entwich mit einem leisen Zischen. »Lass dein Bewusstsein vollständig mit seinem verschmelzen!« Es war mehr als ein Befehl, es war eine Herausforderung.

Ohne sich Zeit zu nehmen, darüber nachzudenken und einen Rückzieher zu machen, verschmolz Colby geistig völlig mit Rafael. Sofort wurde sie von Schmerzen überflutet, grauenhaften, unerträglichen Schmerzen, die an ihrem Inneren und an ihrer Haut fraßen, sogar an ihrem Geist. Sie sah mehr als das; sie sah Rafaels Erinnerungen an seine Kindheit und ihn, wie er als kleiner Junge mit einem Freund durch die Hügel rannte, wie er versuchte, seine Gestalt zu verändern, und dabei von einem Baum fiel. Colby sah, wie die beiden miteinander lachten. Sie fühlte die furchtbare Last des Wissens, dass er mit den Erinnerungen an dieses Lachen und an Jahrhunderte enger Freundschaft jenen Freund töten und ihm das Herz aus der Brust reißen musste.

Mit einem leisen Schrei zog sie sich aus Rafaels Bewusstsein zurück, taumelte zurück und wäre beinahe gestolpert. Obwohl sie nicht bemerkt hatte, wie er sich bewegte, war Nicolas da und ließ sie sanft auf einen Stapel Heu gleiten.

Colby! Rafaels Aufschrei war wie ein Echo ihres Schreis.

Ich hatte keine Ahnung, dass du solche Schmerzen hast. Schlaf jetzt sofort ein, Rafael! Ich meine es ernst! Wie konnte irgendjemand mit einer derartigen Wunde überleben? Sie presste eine Hand an ihr Herz. Der Vampir hatte versucht, Rafael das Herz aus dem Leib zu reißen, indem er die starken Kiefer und messerscharfen Zähne der Schlange benutzt hatte.

»Das hätte ich nicht tun dürfen«, sagte Nicolas. »Ich bereue kaum jemals etwas, aber das war meiner unwürdig. Mein Bruder wird es mir heimzahlen.«

»Was soll das heißen?«

Ein schwaches Lächeln huschte um Nicolas' Mund und war sofort wieder verschwunden. »Er hat mich gerade streng zur Ordnung gerufen, und es war nicht für deine Ohren bestimmt.« Er ließ sich neben sie auf den Boden sinken. »Um ehrlich zu sein, ich habe seit ewigen Zeiten nicht mehr an die Karpaten gedacht. Südamerika ist zu unserer Heimat geworden. Ich kann mich nicht einmal erinnern, wie der jetzige Prinz unseres Volkes aussieht. Er war noch jung, als wir ausgesandt wurden, den Vampir zu jagen.«

»Wurde Kirja auch ausgesandt?«

Nicolas nickte. »Damals war Vlad Dubrinsky unser Prinz. Er war ein großer Führer und schickte uns fünf nach Südamerika und die Familie Malinov nach Asien.«

»Sie waren auch fünf Brüder?«

Wieder nickte Nicolas.

»Sind sie alle zu Vampiren geworden?«, fragte Colby. Warum konnten die Brüder De La Cruz den Einflüsterungen der dunklen Macht so viele Jahrhunderte widerstehen, während die Brüder Malinov dieser Macht verfallen waren?

»Ich glaubte, sie wären schon lange tot. Ich hatte seit Jahrhunderten nichts mehr von ihnen gehört. Die meisten Jäger hören Gerüchte über diejenigen, die zu Vampiren geworden sind, und die Familie Malinov wurde nie erwähnt. Meine Brüder und ich leben so abgeschnitten von unserem Volk, dass es nicht weiter verwunderlich schien. Brasilien, der Regenwald, unsere Hazienda – das ist unsere Welt.«

»Und keiner von euch hat eine Ehefrau?«

»Gefährtin des Lebens«, verbesserte er. »Wir haben Gefährtinnen, und wir müssen sie finden. Du bist Rafaels Gefährtin. Riordan, mein jüngster Bruder, hat seine Gefährtin im Regenwald gefunden, was für uns einerseits ein Schock, andererseits ein Grund zum Hoffen war.«

»Wie weiß man es mit absoluter Gewissheit? Ich bin mir nicht sicher. Ich fühle mich unwiderstehlich zu Rafael hingezogen – fast als wäre ich ihm hörig. Das macht mir Angst. Normalerweise reagiere ich nicht so auf Männer.«

»Es ist keine Hörigkeit, obwohl ich gehört habe, dass es einem manchmal so vorkommt. Wenn ich an dein Bewusstsein rühre, fühle ich deine Verwirrung und die Angst, die du empfindest. Wir sind alles, was du von uns glaubst – mächtig und gefährlich und zu furchtbaren Zerstörungen fähig –, aber wir sind nicht imstande, unserer Gefährtin etwas anzu-tun.«

»Nur, sie zu beherrschen?«

»Du bist es nicht gewohnt, dich einem Mann zu unterwerfen.«

»Ich bin überhaupt nicht unterwürfig; es entspricht nicht meinem Charakter. Wie können wir beide jemals übereinstimmen? Ist es nicht möglich, dass ein Irrtum vorliegt?«

»Ein Irrtum ist ausgeschlossen. Du hast ihm die Farben dieser Welt wiedergegeben, und durch ihn auch mir. Ich habe seit Hunderten von Jahren keine Farben mehr gesehen. Du hast ihm Gefühle gegeben und dadurch auch mir. Ich konnte fühlen, was er für dich empfindet, die ungeheure Liebe in seinem Herzen und das Bedürfnis, über dich zu wachen und dich zu beschützen. Diese Empfindungen würde ich gern selbst haben.«

»Wie kann ich« – sie zögerte, bevor sie es aussprach – »seine Gefährtin des Lebens sein, wenn ich als Mensch zur Welt gekommen bin?«

»Ich weiß nur, dass Frauen mit übernatürlichen Fähigkeiten erfolgreich zu Karpatianerinnen umgewandelt werden können und dass diese Frauen Gefährtinnen für unsere Männer sein können. Ich habe Riordans Gefährtin noch nicht kennengelernt, aber er hat mir erzählt, dass sie ein Abkömmling der Jaguar-Menschen ist.«

Colby lächelte. »Mein Brader behauptet, ich könnte eine Wildkatze sein, doch ich bezweifle, dass etwas von einem Jaguar in mir steckt. Ich konnte im Turnunterricht an der Highschool jedenfalls nie sehr hoch springen.«

»Wir hatten auch so etwas wie eine Schule.« Nicolas verschränkte seine Arme vor der Brust. »Zuerst mussten wir lernen, eine andere Gestalt anzunehmen. Es war nicht annähernd so leicht, wie wir es uns vorgestellt hatten.«

»Das klingt ziemlich cool«, gab Colby zu. »Die Vorstellung, fliegen zu können, gefällt mir. Ich wünschte, ich könnte es. Glaub mir, wenn du acht Stunden auf einem Pferd sitzt, tut dir jeder Knochen weh.«

»Ich kann mich erinnern, wie Rafael versuchte, sich in einen Wolf zu verwandeln. Es war sein erster Versuch, und er war nicht erfolgreich. Ein Teil von ihm hatte ein Fell, und ein anderer Teil hatte Beine, wo keine sein sollten. Wir waren natürlich alle dabei, wie immer. Die Brüder De La Cruz und die Brüder Malinov. Wir wälzten uns vor Lachen auf dem Boden, aber als Ruslan, der Älteste der Malinovs, zu lachen anfing und mit dem Finger auf Rafael zeigte, stürzte sich Zacarias, mein ältester Bruder, auf Ruslan, weil er sich über Rafael lustig machte. Das Ganze endete in einer allgemeinen Rauferei. Und Rafael war dabei die ganze Zeit halb Mann, halb Tier.«

Colby musste lachen. Nicolas schilderte den Vorfall sehr anschaulich und lieferte ihr die entsprechenden Bilder zu der Geschichte. Rafael sah so jung und unschuldig aus, kein bisschen wie der arrogante Mann, an den sie gebunden war. »Was ist mit dir? Wie war dein erster Versuch, deine Gestalt zu wechseln?«

Einen Moment lang herrschte Schweigen. Nicolas' Miene wurde wieder verschlossen. Er zuckte lässig die Schultern, aber Colby hatte nicht das Gefühl, dass es ihm gleichgültig war. »Ich kann mich nicht erinnern.«

»Du hast dich an Rafaels ersten Versuch doch so lebhaft erinnert.« Selbst an die Farben der Bäume, die unterschiedlichen Blätter, die Gerüche und Geräusche. Sie hatte im Geist das Summen von Insekten gehört.

Er stand auf. »Es war Rafaels Erinnerung, nicht meine. Du hast ihm diese Dinge zurückgegeben, und er teilt sie mit mir.«

Colby studierte den grausamen Zug, der um seinen Mund lag, die Abgekehrtheit in seinen Augen. »Du bist sehr dicht davor, zu einem dieser Monster zu werden, nichtwahr?«, fragte sie. Ihr blutete das Herz seinetwegen. Und Rafaels wegen.

»Ja. Ohne die Erinnerungen, die meine Brüder mit mir teilen, würde ich den Kampf verlieren.«

»Und du bist trotzdem gekommen, um Rafael zu helfen, obwohl du wusstest, dass dich der Kampf mit dem Vampir einen Schritt näher an den Abgrund führen würde. Du hast das Vampirblut von Paul genommen, obwohl es dir den Rest hätte geben können. Warum hast du das getan, Nicolas? Ich war nicht besonders nett zu dir.«

»Du gehörst zur Familie. Du bist die Gefährtin eines Kar-patianers und musst von allen Karpatianern beschützt werden. Und ich liebe meinen Bruder. Ich kann diese Liebe vielleicht nicht mehr fühlen, doch ich weiß, dass sie da ist, tief in meinem Inneren, und ich werde nicht zulassen, dass dir etwas zustößt.«

»Ich werde nicht vergessen, welches Risiko du unseret-wegen eingegangen bist, Nicolas, und wenn es für dich zu schwer wird und du es brauchst, Farben zu sehen und Gefühle zu haben, macht es mir nichts aus, meine Wahrnehmungen mit dir zu teilen.«

Wieder herrschte Schweigen. »Es ist keine Kleinigkeit, was du mir anbietest, Schwester«, sagte er leise. »Karpatianische Männer teilen ihr Bewusstsein normalerweise nicht, nicht einmal mit Verwandten. Meine Brüder und ich fallen aus dem Rahmen, weil wir keine andere Wahl haben, als miteinander verbunden zu sein, um dem Ruf der Dunkelheit zu widerstehen. Ich weiß, dass du Angst vor einer Bindung an Rafael hast und noch nicht dazu bereit bist. Warum machst du mir dieses Angebot?«

Es war nicht leicht zu erklären. Colby wusste nicht, ob es daran lag, dass sie mit angesehen hatte, wie das verseuchte Blut, das er von Paul genommen hatte, aus seinen Poren getreten war, oder wie er seinem Bruder Blut gegeben hatte, doch sie fühlte sich innerlich zerrissen. Sie würde sich bestimmt nicht auf eine lebenslängliche Bindung einlassen, die beinhaltete, dass sie unter der Erde lebte und Menschenblut trank, um zu überleben – allein die Vorstellung ließ sie erschauern –, aber sie konnte Nicolas ebenso wenig in seiner furchtbaren Einsamkeit zurücklassen, wie sie nicht aufhören konnte, ständig an Rafael zu denken.

»Du bist hiergeblieben, um mit mir zu reden, weil du wusstest, dass ich die Nacht ohne ihn nicht überstehen würde, nicht wahr?«

»Ja.«

»Da hast du deine Antwort, Nicolas. Vielleicht will ich dich einfach seinetwegen beschützen, so wie du mich seinetwegen beschützt.«

Nicolas schwieg. »Ich muss den Vampir fangen«, sagte er schließlich.

»Wie kannst du ihn finden?«

»Jetzt, da ich weiß, wer er ist, wird er leichter aufzuspüren sein. Ich kenne seine Vorgehensweise. Es ist Hunderte von Jahren her, aber wie wir alle ist er immer bestimmten Mustern gefolgt, und einige davon wird er noch heute anwenden.«

»Rafael will, dass du wartest.« Sie hatte Rafaels Sorge gespürt, und er war nicht nur besorgt gewesen, weil Nicolas durch das Töten eines Vampirs noch näher an den dunklen Bereich der Macht geraten würde.

»Ich kann nicht riskieren, dass er etwas gegen dich unternimmt. Tagsüber muss er unter der Erde bleiben, und zwar länger als ich, doch er kann seine menschlichen Handlanger dazu benutzen, dich anzugreifen.«

»Du meinst Paul.«

»Ich vermute, dass er mehr als einen hat. Dieser Vampir ist sehr alt und sehr gerissen, ein erfahrener Kämpfer, der alle Tricks kennt. Im Gegensatz zu einem Neuling oder einem Vampir mit weniger Erfahrung kennt ein Meistervampir keinen Stolz. Er ist bereit, zu flüchten und seine Schachfiguren zu opfern, um weiter existieren zu können, und man nennt ihn Meister, weil er sowohl den Kampf als auch die Magie unserer Art überlegen beherrscht.«

»Warum will er ein so furchtbares Dasein überhaupt weiterführen?«

»Der Schmerz und das Entsetzen, das er aus dem Leid anderer und aus dem Töten bezieht, versetzt ihn in einen Rausch. In einen Höhenflug. Wie eine Droge. Es macht süchtig. Für diesen einen Moment lebt er.«

»Wie tötet man einen Vampir?« Sie versuchte, Zeit zu schinden. Es war kurz vor Morgengrauen. Zu ihrer Überraschung war sie nicht müde. Sie hatte noch eine Menge Zeit, ihre täglichen Pflichten zu erledigen, bevor die Sonne zu hoch stand.

»Du gar nicht.« Seine Stimme war sehr streng.

»Eure Frauen kämpfen nie gegen Vampire?«

»Es gibt in jeder Spezies Ausnahmen, aber unsere Frauen bringen Licht in unsere Dunkelheit. Sie kämpfen, um ihr Leben und das ihrer Leute zu verteidigen, doch sie gehen nicht auf die Jagd. Wir haben nur wenige Frauen, und unsere Jäger sind Einzelgänger. Unsere Aufmerksamkeit zusätzlich darauf zu konzentrieren, eine Frau zu beschützen, würde das Risiko für uns erhöhen.«

»Ich konnte Rafaels Entschlossenheit spüren. Er war bereit zu sterben, um mein und Pauls Leben zu retten. Er wusste, dass er im Kampf gegen den Vampir besiegt werden könnte.«

»Kirja ist ein sehr mächtiger Kämpfer. Als Jäger genoss er einen sehr guten Ruf. Seit damals ist er noch mächtiger geworden. Sein Blut ist verändert, und ich wüsste gern, warum. Irgendetwas stimmt hier nicht, Colby.«

»Ich würde trotzdem gern wissen, wie man einen Vampir tötet. Mir wäre einfach wohler, wenn ich wüsste, wie man es anstellt.«

»Nicht mit einem Gewehr. Juan und Julio hätten ihn mit einem Schuss ins Herz aufhalten, aber nicht töten können. Das Herz muss vollständig aus dem Körper entfernt und verbrannt werden, sonst findet es den Weg zu seinem Herrn zurück. Dann wird der Körper angezündet, damit keine Hoffnung auf Regeneration besteht. Das Blut eines Vampirs brennt wie Säure, Colby, und sie können andere genauso mit ihren Stimmen beeinflussen wie Rafael und ich. Halte dich von ihnen fern.«

»Hat Rafael seine Stimme benutzt, um mich zu verführen?« Colby schaute ihm direkt in die Augen. Sie brauchte eine ehrliche Antwort.

»Ich weiß nicht, was mein Bruder getan hat, um dich an sich zu binden, aber wenn ich meiner Gefährtin begegnen würde, Colby, würde ich meine Stimme, meinen Blick und alles, was mir sonst noch zur Verfügung steht, einsetzen, um sie zu erobern. Ich würde kein Risiko eingehen. Meine Frau wird tun, was sie zu tun hat.«

»Ich hoffe, deine Frau ist eine Amazone«, murmelte sie halblaut. Ihr war klar, dass sie ihn so lange aufgehalten hatte, wie es ihr möglich war. Er ging in die kühle Nachtluft hinaus, und sie folgte ihm. »Ich habe schon wieder das Bedürfnis nach seiner Nähe«, gestand sie und rieb sich die Arme. »Wird das jetzt immer so sein?«

Sie hasste Schwäche an sich selbst, und um Rafael zu trauern, als wäre er tot, nur weil er ihr nicht nahe sein konnte, zeugte von furchtbarer Schwäche.

»Ja. In den Nächten kann ich helfen, doch tagsüber musst du dicht bei Julio und Juan bleiben. Sie werden dir so gut wie möglich beistehen. Denk an das, was ich dir gesagt habe. Du musst am Leben bleiben.«

»Ich habe nichts anderes vor«, versicherte sie ihm.

Colby beobachtete fasziniert, wie Nicolas sich einfach auflöste. Zuerst schimmerte seine Gestalt und wurde durchsichtig, sodass sie direkt durch ihn hindurchschauen konnte, dann bildeten sich winzige Dunsttropfen, und schließlich war er nichts als feiner Dampf, der von ihr weg zu den Hügeln wehte. Sie blinzelte ein paar Mal und versuchte zu verarbeiten, was sie gerade gesehen hatte.

Sowie Nicolas fort war, stieß sie einen Seufzer der Erleichterung aus. Ihr war nicht bewusst gewesen, wie angespannt sie war. Sie brauchte es, allein zu sein, ihre alltäglichen Arbeiten zu verrichten. Vielleicht würden sie ihr das Gefühl geben, wieder normal zu sein, sei es auch nur für kurze Zeit.

Sie ging zu dem behelfsmäßigen Stall und staunte über die Arbeit, die Juan und Julio Chevez am Nachmittag, während sie schlief, geleistet hatten. Sean Everett musste sowohl Material als auch Männer zur Verfügung gestellt haben, sonst wären sie nicht so schnell fertig geworden. Wieder seufzte Colby, aber diesmal trauerte sie um ihren Stolz. Im Moment schien er über Bord zu gehen. Sie wusste nicht einmal mehr, was auf ihrer Ranch vorging.

Die nächsten paar Stunden verbrachte sie damit, die Pferde zu versorgen und Verletzungen zu behandeln. Die meisten Verbrennungen waren nahezu verheilt, und die Pferde wirkten ausgeglichen, was nach dem traumatischen Erlebnis der Nacht an ein Wunder grenzte. Als ihr auffiel, dass die Küchentür leise geöffnet und wieder geschlossen wurde, schaute sie hin und sah Ginnys Hund den Abhang hinauflaufen. Colby holte tief Luft. Der Tag begann. Bald würden Juan und Julio trotz ihres Schlafmangels auf den Beinen sein. Und in wenigen Stunden würde sie selbst sich ins Bett legen und Paul und Ginny den beiden Südamerikanern überlassen.

Sie rieb sich die Augen. Rafael hatte kein Recht, sie teilweise in seine Welt zu holen, wenn sie so viele Verpflichtungen hatte. Im Augenblick steckte sie irgendwo zwischen beiden Welten fest, kam weder aus der einen noch aus der anderen heraus und hatte keine Ahnung, wie sie sich verhalten sollte.

Colby versorgte die Pferde mit Heu und füllte die Tränken mit frischem Wasser. Der Unterstand, der dazu diente, die Pferde vor der Hitze zu schützen, war solide gebaut und schützte bei Sonnenaufgang auch Colbys Haut. Sie musste ständig an Rafael denken. Ihr Körper verlangte schmerzlich nach ihm, und ihr Geist lehnte es ab, an jemand oder etwas anderes zu denken. Colby hatte keine Chance, irgendwelche Probleme zu lösen, weil sie nur daran denken konnte, wie sehr sie sich danach sehnte, Rafael zu sehen, ihn zu spüren und zu wissen, dass er am Leben war. Sie ärgerte sich über sich selbst, aber das verhinderte nicht, dass ihr Tränen übers Gesicht liefen oder immer wieder ein furchtbarer Schmerz in ihr wach wurde, der sie bis ins Mark erschütterte. Sie arbeitete zügig und in der Hoffnung, ihre Alltagspflichten würden ihr ein Gefühl von Normalität vermitteln. Etwas Besseres fiel ihr nicht ein. Als sie fertig war und gerade zur Futterwiese gehen wollte, hörte sie wieder die Küchentür. Diesmal waren es Pauls stetige Schritte, die über den Hof auf sie zukamen.

Colby schüttelte das plötzliche Grauen, das sie befiel, energisch ab. Sie brauchte ein paar Stunden für sich, ohne sich darüber Sorgen zu machen, ob sich ihr Bruder vor ihren Augen in ein Monster verwandeln würde. Sie wollte ihn nicht jede Minute beobachten. Froh über ihr scharfes Gehör, drehte sie sich mit einem entschlossenen Lächeln zu ihm um.

»Du hast geweint«, stellte er sofort fest.

»Ich habe mich nur ein bisschen selbst bemitleidet, mehr nicht«, erklärte sie. »Was ist mit dir? Du solltest noch im Bett sein. Kannst du nicht schlafen? Du hast doch keine Schmerzen, oder?« Colby strich ihr Haar zurück. Paul sah ganz normal aus, aber der Gedanke, dass der Vampir ihn immer noch benutzen konnte, machte sie nervös. Es war schwer, die Erinnerung daran zu verdrängen, wie sich sein junges Gesicht vor Hass verzerrt hatte, als er sie mitten in die Herde geschleudert hatte. Was sagte man zu einem Jungen, der von einem Vampir gebissen worden war und versucht hatte, seine eigene Schwester umzubringen? Wie konnte man ihn trösten? Sie hatte keine Ahnung.

»Mir geht's gut, doch ich hatte furchtbare Albträume. Ich will nicht schlafen, obwohl ich müde bin.« Er gab ihr ein Stück Papier. »Ginny macht einen Spaziergang. Sie hat King mitgenommen. Sie schreibt, dass sie die Pflanzen im Garten gießt und das Frühstück zubereitet, wenn sie wieder da ist. Es ist schwer, an so alltägliche Dinge wie Frühstück und Gartenarbeit zu denken.«

»Ich habe King wegflitzen sehen und dachte, sie hätte ihn nur rausgelassen und sich wieder ins Bett gelegt. Sie pflückt gern Beeren fürs Frühstück, aber bei allem, was hier vorgeht, gefällt es mir gar nicht, wenn sie sich so weit vom Haus entfernt.«

»Ich könnte ihr nachgehen«, bot Paul an. »Mir gefällt es auch nicht.«

Colby wollte Paul lieber in Blickweite behalten. »Wir lassen sie einfach einen kurzen Spaziergang unternehmen, und wenn sie in einer halben Stunde nicht zurück ist, gehen wir sie unauffällig suchen, damit sie nicht denkt, irgendetwas wäre nicht in Ordnung.«

»Was ist mit dem Vampir?«, fragte Paul beunruhigt.

»Um diese Tageszeit kann er nicht unterwegs sein; er verträgt das Morgenlicht nicht. Wir müssten alle in Sicherheit sein.« Und Paul war bei ihr; er konnte also nicht unwissentlich benutzt werden. Die Sonne war gerade erst aufgegangen, doch ihre Haut spürte schon das Licht. Sie rieb sich die Arme. Zwischen ihrem Bruder und ihr herrschte eine Befangenheit, die es früher nie gegeben hatte.

Paul tätschelte einige der Pferde, die sich unruhig bewegten. »Ich habe gestern Seans Leuten und Juan und Julio geholfen, den Unterstand aufzubauen.« Er klang sehr stolz.

»Das ist ganz toll.« Die Kosten erwähnte sie nicht. Paul brauchte etwas, worüber er sich freuen konnte.

»Wie geht es den Pferden?«

»Sie scheinen sich schnell zu erholen. Ich schaue Juan und Julio gern dabei zu, wie sie mit ihnen arbeiten und ihnen etwas zuflüstern, so wie Dad es immer getan hat.« Colby wechselte ein Lächeln mit ihrem Bruder. »Das sehe ich einfach zu gern.«

»Ich auch«, gab er zu. »Sind sie wieder bei den Everetts, um ein bisschen Schlaf zu bekommen?«

»Nein, sie sind beide hier im Haus. Ich habe Juan in Dads Zimmer und Julio im Gästezimmer untergebracht.« Sie lächelte ihn an.

»Nicht zu fassen, dass es den Pferden schon so viel besser geht. Wie haben sie das gemacht?«

»Ich glaube, es war Rafael«, sagte Colby. »Es geht ihnen jedes Mal besser, wenn er bei ihnen war. Ich vermute, er wendet bei ihnen irgendeine bestimmte Heiltechnik an.«

Ein verlegenes Schweigen senkte sich über sie. Paul legte eine Hand an seine Kehle. »Ich kann ihn immer noch spüren, Colby.«

»Ich weiß, Paul. Ich versuche dahinterzukommen, womit wir es hier zu tun haben. Wir können nicht gut zu Ben gehen und ihm erzählen, dass bei uns ein Vampir sein Unwesen treibt – er würde uns beide in die Klapsmühle sperren.«

Paul zuckte die Schultern und zwang sich zu einem schwachen Lächeln. »Das will er doch schon seit Jahren.«

Colby wandte den Kopf, als sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung auf dem Abhang direkt über ihrer Ranch erhaschte. Es war früh am Morgen, und ihre Augen brannten bereits. Die Sonne stand noch nicht besonders hoch, aber ihre Strahlen schienen sie wie Pfeile zu treffen. Sie kniff die Augen zusammen und schirmte sie mit einer Hand ab. »Was ist das da, Paul? Schleppt sich da ein Tier über den Boden?«

Paul fuhr herum und suchte mit den Augen den Abhang ab. Plötzlich versteifte er sich. »Colby, das ist King! Irgendetwas stimmt nicht mit ihm.« Er rannte los und jagte über den Hof zu dem verletzten Hund.