Kapitel 11

 

Ein Zwerg auf Abwegen

 
 

Los Angeles

 

Genauer gesagt befand Mulch Diggums sich vor der Wohnung einer oscargekrönten Schauspielerin. Natürlich wusste sie nicht, dass er dort war. Und natürlich hatte er nichts Gutes im Sinn. Einmal ein Dieb, immer ein Dieb.

Nicht, dass Mulch das Geld gebraucht hätte. Die Belagerung von Fowl Manor hatte ihm ein hübsches Sümmchen eingebracht. Hübsch genug, um sich eine Penthouse-Suite in Beverly Hills zu mieten und sie mit einer kompletten Pioneer-Anlage, einer üppigen DVD-Bibliothek und Tonnen von Dörrfleisch auszustatten. Zeit für ein paar Jahre Ruhe und Faulenzen.

Doch so spielt das Leben nun mal nicht. Es rollt sich nicht gehorsam zusammen und legt sich still in eine Ecke. Die in mehreren Jahrhunderten gepflegten Gewohnheiten verschwinden nicht einfach. Und zwischen zwei James-Bond-Filmen wurde Mulch eines Tages klar, dass er die schlimmen alten Zeiten vermisste. Wenig später begann der zurückgezogene Bewohner der Penthouse-Suite nächtliche Spaziergänge zu unternehmen. Und diese Spaziergänge endeten meist in den Häusern anderer Leute.

Anfangs beschränkte Mulch Diggums sich aufs Eindringen und genoss lediglich den Kick, die hoch entwickelten Sicherheitssysterne der Oberirdischen zu überlisten. Dann nahm er gelegentlich Trophäen mit. Kleine Dinge, einen Kristallkelch, einen Aschenbecher oder eine Katze, wenn er hungrig war. Doch bald sehnte Mulch sich wieder nach seiner früheren Berühmtheit, und er wurde anspruchsvoller: Goldbarren, gänseeiergroße Diamanten oder Pitbullterrier, wenn er richtig Kohldampf hatte.

Die Sache mit den Oscars begann eigentlich ganz zufällig. Den ersten - für das Beste Drehbuch - ließ er als Kuriosität bei einem Kurztrip nach New York mitgehen. Am nächsten Morgen stand die Sache auf den Titelblättern sämtlicher amerikanischer Zeitungen. Es war gerade so, als hätte er einen ganzen Transportkonvoy mit Medikamenten überfallen, anstatt eine kleine vergoldete Statue zu stibitzen. Mulch Diggums war natürlich begeistert. Er hatte sein neues Hobby gefunden.

In den darauf folgenden zwei Wochen stahl er die Oscars für die Beste Filmmusik und die Besten Spezialeffekte. Die Boulevardpresse überschlug sich. Sie gab ihm sogar einen Spitznamen: Goldfinger. Als Mulch das las, wackelte er vor Freude mit den Zehen. Und die wackelnden Zehen eines Zwergs sind schon ein außergewöhnlicher Anblick. Sie sind so gelenkig wie Finger, fast ebenso geschickt, und je weniger man über ihren Geruch sagt, desto besser.

Für Mulch Diggums stand jedenfalls fest: Er musste eine komplette Sammlung zusammenbekommen.

Im Laufe der nächsten sechs Monate schlug Goldfinger überall in den Vereinigten Staaten zu. Er machte sogar einen Ausflug nach Italien, um sich einen Oscar für den Besten fremdsprachigen Film zu holen. Er ließ sich eigens eine Vitrine mit getöntem Glas anfertigen, das auf Knopfdruck undurchsichtig wurde. Mulch Diggums fühlte sich wieder lebendig.

Natürlich verdreifachten sämtliche Oscar-Gewinner auf der Welt die Sicherheitsvorkehrungen, was Mulch jedoch nur recht sein konnte. Schließlich war es keine Herausforderung, in einen Schuppen am Strand einzubrechen. Action und Technik - das war es, was die Leute wollten. Und das gab Goldfinger ihnen. Die Medien rissen sich um die Neuigkeiten.

Mulch Diggums war ein Held. Tagsüber, wenn er wegen der Helligkeit nicht nach draußen konnte, schrieb er an einem Drehbuch über seine Abenteuer.

Dies nun war eine besondere Nacht. Die der letzten Statue. Goldfinger wollte sich den Oscar für die Beste Darstellerin holen. Und nicht irgendeine Beste Darstellerin. Sein Opfer war die ungestüme jamaikanische Schönheit Maggie V., die für ihre Darstellung von Precious, einer ungestümen jamaikanischen Schönheit, die diesjährige Auszeichnung bekommen hatte. Maggie V. hatte öffentlich erklärt, auf Goldfinger warte in ihrer Wohnung eine Überraschung, mit der er ganz gewiss nicht rechne. Aber er traue sich bestimmt gar nicht. Wie hätte Mulch einer solchen Herausforderung widerstehen können?

Das Gebäude selbst war leicht zu lokalisieren, ein zehnstöckiger Block aus Glas und Stahl, unweit vom Sunset Boulevard, nur einen mitternächtlichen Spaziergang von Mulch Diggums' Hotel entfernt. Und so packte der unerschrockene Zwerg in dieser wolkigen Nacht sein Werkzeug, um als berühmtester Einbrecher der Welt in die Geschichte einzugehen.

Maggie V. wohnte in der obersten Etage. Über die Treppe, den Aufzug oder den Müllschacht nach oben zu gelangen, kam nicht in Frage. Es musste von außen passieren.

Zur Vorbereitung auf die Klettertour hatte Mulch zwei Tage lang nichts getrunken. Zwergenporen sind nämlich nicht nur zum Schwitzen da, sie können auch Feuchtigkeit aufnehmen. Sehr praktisch, falls man mehrere Tage in einem zusammengestürzten Tunnel festsitzt und jeder Quadratzentimeter Haut in der Lage ist, Wasser aus der Erde rundum aufzunehmen, selbst wenn es weit und breit nichts zu trinken gibt. Ist ein Zwerg durstig, wie Mulch Diggums es jetzt war, öffnen sich seine Poren auf die Größe von Nadellöchern und beginnen, wie verrückt zu saugen. Das kommt ungeheuer gelegen, wenn man zum Beispiel an der Außenwand eines hohen Gebäudes hinaufklettern will.

Mulch zog Schuhe und Handschuhe aus, setzte einen gestohlenen ZUP-Helm auf und machte sich an den Aufstieg.

 
 

Schacht E93

 

Holly spürte, wie der Blick des Commanders ihre Nackenhaare fast versengte. Sie versuchte es zu ignorieren und konzentrierte sich darauf, mit dem Shuttle des atlantischen Botschafters nicht gegen die Wände des arktischen Schachts zu prallen.

»Sie wussten also die ganze Zeit, dass Mulch Diggums noch lebt?«

Holly tippte kurz an den Hebel für das Steuerbordtriebwerk, um einem Geschoss aus halb geschmolzenem Stein auszuweichen. »Nicht mit Sicherheit. Foaly hatte so eine Theorie.«

»Foaly!« Die Finger des Commander schlossen sich um einen imaginären Hals. »Das ist mal wieder typisch!«

Artemis grinste spöttisch von seinem Sessel in der Passagierzone herüber. »Immer schön friedlich bleiben, wir sind schließlich ein Team.«

»Dann erzählen Sie mir mal von Foalys Theorie, Captain«, befahl Root und schnallte sich im Copilotensitz an.

Holly betätigte den Schalter für die elektrostatische Reinigung der Außenkameras; positive und negative Ladungen entfernten die Staubschicht von den Linsen. »Foaly fand Mulchs Tod verdächtig, in Anbetracht der Tatsache, dass er der beste Tunnelmann von Erdland war.«

»Warum ist er damit nicht zu mir gekommen?«

»Es war nur so eine Ahnung. Und bei allem Respekt, Commander, Sie wissen, wie Sie auf Ahnungen reagieren.«

Widerstrebend nickte Root. Es stimmte, für so etwas hatte er keine Zeit. Bei ihm hieß es: Harte Fakten, oder raus aus dem Büro, bis Sie welche haben.

»Also hat Foaly in seiner Freizeit ein bisschen Detektiv gespielt. Das Erste, was ihm auffiel, war, dass das Gold am Schluss etwas zu leicht war. Ich hatte ja die Rückgabe der Hälfte ausgehandelt, und nach Foalys Schätzung fehlten auf dem Schwebekarren ungefähr zwei Dutzend Barren.«

Der Commander zündete sich eine seiner berüchtigten Pilzzigarren an. Er musste zugeben, es klang logisch: verschwundenes Gold und Mulch im Umkreis von hundert Kilometern. Zwei und zwei macht vier.

»Wie Sie wissen, ist es Vorschrift, jegliches ZUP-Eigentum mit Solinium-Aufspürer zu besprühen, einschließlich des Geiselgolds. Also hat Foaly alles auf Soliniumspuren abgesucht und ist fündig geworden, und zwar in Los Angeles. Vor allem im Crowley Hotel in Beverly Hills. Und als er sich in den Computer des Hauses eingeloggt hat, ist ihm aufgefallen, dass der Mieter des Penthouse ein gewisser Lance Digger ist.«

Roots spitze Ohren zuckten. »Digger?«

»Genau«, sagte Holly und nickte. »Ein bisschen viel des Zufalls. An dem Punkt seiner Untersuchung ist Foaly zu mir gekommen, und ich habe ihm geraten, ein paar Satellitenfotos zu machen, bevor er Ihnen die Akte vorlegt. Nur leider...«

»Nur leider lässt sich Mister Digger nicht blicken, stimmt's?«

»Exakt.«

Roots Gesichtsfarbe wechselte von Zartrosa zu Tomatenrot. »Mulch Diggums, dieser Halunke! Wie hat er das nur wieder angestellt?«

Holly zuckte die Achseln. »Wir nehmen an, dass er tief unter Fowl Manor seine Iriskamera einem Tier eingesetzt hat, möglicherweise einem Kaninchen. Dann brach der Tunnel zusammen.«

»Also stammten die Lebenszeichen, die wir empfangen haben, von einem Kaninchen.«

»Genau. Jedenfalls theoretisch.«

»Ich bringe ihn um!«, brüllte Root und schlug mit der Faust auf das Schaltpult. »Kann diese Kiste nicht schneller fliegen?«

 
 

Los Angeles

 

Mulch Diggums erklomm das Gebäude ohne jede Schwierigkeit. Außen waren zwar Überwachungskameras angebracht, der Ionenfilter seines Helms zeigte ihm jedoch genau, worauf die Kameras gerichtet waren. So brauchte er sich bloß in den toten Winkeln zu halten.

Nach knapp einer Stunde hing der Zwerg außen vor Maggie V.'s Wohnung im zehnten Stock an der Wand. Die Fenster waren dreifach verglast und schusssicher beschichtet. Filmstars - ein paranoides Völkchen.

Natürlich waren Erschütterungsfühler auf den Scheiben angebracht, und innen an der Wand hing ein Bewegungssensor wie eine erstarrte Grille - wie nicht anders zu erwarten.

Mit Hilfe einer Flasche Steinpolitur, die Zwerge normalerweise einsetzten, um in den Minen Diamanten zu reinigen, schmolz Mulch ein Loch in die Scheibe. Wie dumm von den Menschenwesen, Diamanten abzuschleifen, um sie zum Funkeln zu bringen. Kaum zu fassen. Der halbe Stein im Eimer.

Mit dem Ionenfilter seines Helms überprüfte Goldfinger dann die Ausrichtung des Bewegungssensors. Der rote Strahl zeigte, dass er auf den Boden gerichtet war. Kein Problem. Mulch hatte ohnehin vor, die Wand entlangzugehen.

Mit nach wie vor durstig geöffneten Poren schob er sich über die Wände vorwärts, wobei er sich vorzugsweise an ein Regalsystem aus Stahl hielt, das fast das gesamte Wohnzimmer umgab.

Die Frage war nur, wo sich der Oscar befand. Er konnte überall versteckt sein, sogar unter Maggie V.'s Kopfkissen, aber ob Mulch Diggums seine Suche in diesem Raum begann oder in einem anderen, war im Grunde egal. Vielleicht hatte er ja sogar Glück.

Er schaltete den Röntgenfilter des Helms ein und suchte die Wände nach einem Tresor ab. Nichts. Dann versuchte er es auf dem Boden; die Menschenwesen wurden immer cleverer. Da, unter einem unechten Zebrafell, ein Metallwürfel. Na bitte.

Mulch näherte sich dem Bewegungssensor von oben und drehte den Abtaster vorsichtig Richtung Decke. Nun war der Boden sicher.

Er sprang hinunter und tastete die Oberfläche des Teppichs mit seinen empfindsamen Zehen ab. Keine Sicherheitsmatten eingenäht. Dann rollte er das unechte Fell beiseite, unter dem sich eine Klappe im Holzboden befand. Die Scharniere waren für das bloße Auge kaum zu erkennen. Doch Mulch war ein Fachmann, und seine Augen wurden von ZUP-Vergrößerungslinsen unterstützt.

Er fuhr mit dem Fingernagel in die Ritze und öffnete die Klappe. Der eigentliche Tresor war eine Enttäuschung. Noch nicht einmal bleiverschalt war er - mit seinem Röntgenfilter konnte Mulch Diggums direkt in den Schließmechanismus hineinsehen. Ein einfaches Kombinationsschloss mit nur drei Zahlen.

Mulch schaltete den Filter aus. Was war der Witz daran, ein durchsichtiges Schloss zu knacken?

Vorsichtig legte er das Ohr an die Tür und drehte an den Rädchen. Keine fünfzehn Sekunden später war die Tür zu seinen Füßen offen.

Die Goldbeschichtung des Oscars strahlte ihm verlockend entgegen. Und genau in diesem Moment beging Mulch Diggums den Fehler: Er entspannte sich und vergnügte sich an der Vorstellung, wie er zurück in seinem Penthouse eine Zweiliterflasche eiskalten Wassers leer schlürfte. Und entspannte Diebe sind reif fürs Gefängnis.

Ohne die Statue auf mögliche Fallen zu überprüfen, nahm er sie aus dem Safe. Hätte er nachgesehen, er hätte bemerkt, dass am Fuß mittels eines Magneten ein Draht befestigt war. Sobald er den Oscar bewegte, wurde ein Stromkreis unterbrochen. Auf einmal war die Hölle los.

 
 

Schacht E93

 

In dreitausend Meter Tiefe unter der Oberfläche schaltete Holly den Autopilot auf Schwebestellung. Sie schlug sich gegen die Brust, um die Sicherheitsgurte zu lösen, und begab sich zu den anderen in den hinteren Teil des Shuttles.

»Es gibt zwei Probleme. Erstens: Wenn wir tiefer gehen, werden die Scanner uns registrieren, sofern sie noch funktionieren.«

»Klingt nicht sehr vielversprechend. Was ist mit Nummer zwei?«, fragte Butler.

»Zweitens: Dieser Teil des Schachts wurde stillgelegt, als wir Unterirdischen uns aus der Arktis zurückgezogen haben.«

»Und das bedeutet?«

»Das bedeutet, dass die Versorgungstunnel verschlossen wurden. Und ohne Versorgungstunnel kommen wir nicht in einen anderen Schacht.«

»Wo ist das Problem?«, fragte Root. »Wir jagen einfach ein Loch in die Wand.«

Holly seufzte. »Womit, Commander? Das hier ist ein Diplomaten-Shuttle. Wir haben keine Kanonen.«

Butler zog zwei Schlagkugeln aus einer Tasche seines Moonbelt. »Wie wär's damit? Foaly meinte, wir könnten sie vielleicht gebrauchen.«

Artemis stöhnte. Er hätte schwören können, dass sein Diener das Ganze genoss.

 
 

Los Angeles

 

»Oh-oh«, murmelte Mulch Diggums.

Innerhalb von Sekunden hatte sich die rosige Lage in eine höchst gefährliche verwandelt. Kaum war der Stromkreis unterbrochen, glitt eine Seitentür auf, und zwei ausgesprochen große Schäferhunde schlüpften hindurch - bekanntlich die besten Wachhunde -, gefolgt von ihrem Abrichter, einem riesigen Kerl in Schutzkleidung. Er sah aus, als wäre er mit Fußmatten behängt. Die Hunde gehorchten also nicht wirklich aufs Wort.

»Brave Hündchen«, sagte Mulch Diggums und knöpfte langsam seine Poklappe auf.

 
 

Schacht E93

 

Holly tippte vorsichtig gegen das Steuer und manövrierte das Shuttle ein Stück näher an die Schachtwand. »Weiter geht's nicht«, sagte sie in ihr Helmmikro. »Wenn wir noch näher ranfliegen, könnten die Heißluftwogen uns gegen den Felsen schleudern.«

»Heißluftwogen?«, knurrte Root. »Davon haben Sie kein Wort gesagt, solange ich noch drinnen war.«

Der Commander lag bäuchlings auf der Backbord-Tragfläche, eine Schlagkugel in jedem Stiefelschaft.

»Tut mir Leid, Commander, aber einer muss diesen Vogel ja schließlich fliegen.«

Root grummelte etwas in sich hinein und schob sich weiter vor zur Spitze der Tragfläche. Die Turbulenzen waren zwar längst nicht so stark wie bei einem Flugzeug in der Luft, aber die böenartigen Heißluftwogen reichten aus, um dem Commander die Eingeweide ganz schön durchzuschütteln. Allein die Vorstellung, wie seine Finger sich um Mulch Diggums' Kehle schlossen, trieb ihn vorwärts.

»Noch einen Meter«, keuchte er in das Mikro. Zumindest hatten sie Funkverbindung; das Shuttle besaß eine eigene Sprechanlage. »Nur noch einen Meter, dann kann ich es schaffen.«

»Geht nicht, Commander. Das ist jetzt Ihr Part.«

Root riskierte einen Blick in den Abgrund. Der Schacht dehnte sich endlos in die Tiefe, bis zum orange glühenden Magma im Erdkern. Der reine Wahnsinn. Selbstmord. Es musste einen anderen Weg geben. An diesem Punkt war Commander Julius Root kurz davor, einen überirdischen Flug zu riskieren.

Doch dann hatte er eine Vision. Vielleicht waren es nur die Schwefeldünste, der Stress oder sogar Unterzuckerung, aber der Commander hätte schwören können, dass sich vor ihm an der Felswand Mulch Diggums' Gesichtszüge abzeichneten. Der Zwerg hatte eine Zigarre im Mundwinkel und grinste ihn spöttisch an.

Augenblicklich kehrte Commander Roots Entschlossenheit zurück. Er, von einem Verbrecher überlistet? Nur über seine Leiche. Mühsam rappelte er sich auf und wischte sich die schweißfeuchten Handflächen am Overall ab. Die Heißluftwogen zupften an seinen Gliedern wie boshafte Geister. »Sind Sie bereit, Luft zwischen uns und das zukünftige Loch zu bringen?« rief er ins Mikro.

»Darauf können Sie wetten, Comrnander«, erwiderte Holly. »Sobald wir Sie wieder an Bord haben, gehen wir auf Abstand.«

»Okay. Dann wollen wir mal.« Root schoss von seinem Gürtel aus einen Enterhaken ab. Die Titanspitze bohrte sich sauber in den Felsen. Eine winzige Sprengladung innerhalb des Hakens würde zwei Seitenflügel ausklappen und ihn in der Felswand sichern. Fünf Meter. Keine große Distanz, um sich an einem Seil hinüberzuschwingen. Aber das Hinüberschwingen war auch nicht das Problem. Problematisch waren der atemberaubende Abgrund und das Fehlen jeglichen Halts.

Komm schon, Julius, kicherte das steinerne Mulchgesicht. Mal sehen, wie sich dein Fettfleck an der Wand macht. »Sie halten den Mund, Gefangener«, brüllte der Commander und schwang sich in das Nichts.

Die Felswand schien auf ihn zuzurasen, und die Wucht des Aufpralls verschlug ihm den Atem. Root biss vor Schmerz die Zähne zusammen. Er hoffte nur, dass nichts gebrochen war, denn seit dem Abstecher nach Russland hatte er nicht mal mehr genug Magie, um ein Gänseblümchen zum Blühen zu bringen, ganz zu schweigen davon, eine gebrochene Rippe zu heilen.

Die Scheinwerfer des Shuttles beleuchteten die Lötspuren, wo die ZUP-Zwerge den Versorgungstunnel mit Laserstrahlen versiegelt hatten. Das waren die Schwachstellen in der sonst so massiven Felswand. Root schob die Schlagkugeln in zwei Ausbuchtungen.

»Dich schnappe ich mir, Diggums«, knurrte er und aktivierte die eingebauten Sprengkapseln. Jetzt blieben ihm noch dreißig Sekunden.

Root zielte mit einem zweiten Enterhaken auf die Tragfläche des Shuttles. Ein leichter Schuss, so was machte er im Simulator im Schlaf. Dummerweise gab es im Simulator jedoch keine Heißluftwogen, die einem im letzten Moment dazwischenfunkten.

Gerade als der Commander den Haken fortkatapultierte, packte ein besonders heftiger Gaswirbel das Heck des Shuttles und drehte es um vierzig Grad gegen den Uhrzeigersinn. Der Haken ging um einen Meter daneben, er trudelte in den Abgrund, das Rettungsseil des Commanders wie eine Nabelschnur hinter sich herziehend. Root blieben zwei Möglichkeiten: Entweder er rollte das Seil mit Hilfe seiner Gürtelwinde wieder auf, oder er schnitt es einfach ab und startete einen neuen Versuch mit seinem Ersatzhaken. Julius entschied sich für Letzteres; das würde schneller gehen. Ein guter Entschluss - hätte er seinen Ersatzhaken nicht schon dazu benutzt, bei Murmansk aus der Eishöhle herauszukommen. Das fiel dem Commander jedoch erst ein, nachdem er sein letztes Seil abgetrennt hatte.

»D'Arvit«, fluchte er und tastete seinen Gürtel nach einem Haken ab, obwohl er wusste, dass keiner mehr da war.

»Was ist los, Commander?«, fragte Holly. Ihre Stimme klang angestrengt von der Millimeterarbeit an den Steuerungshebeln.

»Ich habe keine Haken mehr, und die Sprengkapseln sind aktiviert.«

Ein kurzes Schweigen folgte. Ein sehr kurzes Schweigen. Für langwierige Überlegungen war keine Zeit. Root warf einen Blick auf seinen Mondmeter. Fünfundzwanzig Sekunden, und der Countdown lief.

Als Holly antwortete, sprudelte sie nicht gerade über vor Enthusiasmus und Selbstsicherheit. »Äh, Commander... Tragen Sie irgendwas aus Metall am Körper?«

»Ja«, antwortete Root verwirrt. »Brustharnisch, Gürtelschnalle, Dienstmarke und Blaster. Warum?«

Holly lenkte das Shuttle noch einen Hauch näher. Jeder Zentimeter mehr wäre Selbstmord gewesen. »Sagen wir mal so: Wie sehr hängen Sie an Ihren Rippen?«

»Wieso?«

»Ich glaube, ich weiß, wie ich Sie hier rüberholen kann.«

»Wie denn?«

»Es wird Ihnen nicht gefallen.«

»Sagen Sie's mir, Captain. Das ist ein Befehl.«

Holly sagte es ihm. Und es gefiel Commander Root ganz und gar nicht.

 
 

Los Angeles

 

Zwergengas - nicht gerade das geschmackvollste Gesprächsthema; selbst Zwerge reden nicht gerne darüber. Viel ist schon über Zwergenfrauen gesagt worden, die ihre Männer ausschelten, weil sie zu Hause Gas ablassen, statt dies in den Tunneln zu erledigen. Tatsache ist, dass Zwerge von Natur aus häufig unter Gasattacken leiden, vor allem wenn sie zuvor in den Minen Lehm gegessen haben. Mit ausgehaktem Kiefer kann ein Zwerg bekanntlich mehrere Kilo Erde pro Sekunde hinunterschlingen, eine Menge Lehm mit einer Menge Luft darin. Und das Ganze muss irgendwo bleiben. Also wandert es nach unten. Um es höflich auszudrücken: Die gegrabenen Tunnel werden automatisch verschlossen. Mulch hatte schon seit Monaten keinen Lehm mehr zu sich genommen, aber für Notfälle hatte er immer ein paar Gasblasen parat.

Die Hunde standen da, bereit zum Angriff. Von ihren gefletschten Zähnen hingen Speichelfäden herunter. Sie würden ihn in Stücke reißen. Mulch Diggums konzentrierte sich. Das vertraute Blubbern begann, an seinem Magen zu zerren. Es fühlte sich an, als würden sich in ihm ein paar Müllgnomen einen Ringkampf liefern. Mulch biss die Zähne zusammen. Das würde eine richtige Bombe werden.

Der Hundeführer blies in eine Trillerpfeife, und die beiden Viecher schossen los wie Torpedos. In derselben Sekunde ließ Mulch eine Gasexplosion ab, die ein Loch in den Teppich riss und den Zwerg an die Decke schleuderte, wo seine durstigen Poren sich sofort festsaugten. In Sicherheit. Fürs Erste jedenfalls.

Die Schäferhunde waren perplex. In ihrer Laufbahn hatten sie so ziemlich alles zwischen den Kiefern gehabt, was die Nahrungskette hergab, aber das hier war neu. Und nicht gerade angenehm. Schließlich ist eine Hundenase wesentlich empfindlicher als die eines Menschen.

Der Hundeführer pustete noch ein paar Mal in seine Trillerpfeife, aber jegliche Kontrolle, die er vielleicht einmal über die Hunde gehabt hatte, löste sich in nichts auf, als der Zwerg per Gasantrieb durch die Luft segelte. Sobald ihre Atemwege wieder frei waren, begannen die Vierbeiner nach ihm zu springen und zu schnappen.

Mulch Diggums schluckte. Hunde waren klüger als ein durchschnittlicher Kobold, und es war nur eine Frage der Zeit, bis sie auf die Idee kamen, auf die Möbel zu klettern und von dort auf ihn loszugehen.

So schnell wie möglich bewegte er sich auf das Fenster zu, doch der Abrichter war schneller und verdeckte das Loch mit seinem gepolsterten Körper. Mulch bemerkte besorgt, dass er nach einer Waffe griff, die an seinem Gürtel befestigt war. Langsam wurde es ernst. Zwerge sind alles Mögliche, aber nicht kugelsicher.

Zu allem Überfluss tauchte auch noch Maggie V. in der Tür auf, einen verchromten Baseballschläger in der Hand. Dies war allerdings nicht die Maggie V., die das Publikum kannte. Ihr Gesicht war mit einer grünen Maske bedeckt, und unter ihren Augen hingen Teebeutel.

»Jetzt haben wir Sie erwischt, Goldfinger«, prahlte sie hämisch. »Ihre Saugnäpfe werden Ihnen auch nichts helfen.«

Mulch erkannte, dass seine Laufbahn als Oscardieb beendet war. Egal ob ihm die Flucht gelang, die Beamten vom LAPD würden jeden Kleinwüchsigen in der Stadt überprüfen, sobald die Sonne aufging. Doch er hatte noch einen Trumpf: die Gabe der Sprache. Jeder Unterirdische besaß ein natürliches Talent für Fremdsprachen, da alle Sprachen vom Gnomischen abstammten, wenn man sie nur weit genug zurückverfolgte. Einschließlich Schäferhundisch.

»Rrraff«, knurrte Mulch. »Rraff wuff wufff.« Die Hunde erstarrten. Der eine mitten im Sprung, so dass er prompt auf den Rücken seines Partners fiel. Sie kauten ein Weilchen verlegen an ihren Krallen herum, bis ihnen bewusst wurde, dass es dieses Wesen da oben an der Decke war, das sie anbellte. Mit grauenhaftem Akzent, Mitteleuropäisch irgendwie, aber es war eindeutig Schäferhundisch.

»Rawuff?«, fragte Hund Nummer eins. »Was hast du gesagt?«

Mulch Diggums deutete auf den Hundeführer. »Wuff raff-raff rawuuuh! Der Mensch da hat einen Riesenknochen unter seinem Hemd«, bellte er. (Das ist natürlich übersetzt.)

Die Schäferhunde stürzten sich auf ihren Hundeführer, Mulch verschwand eilends durch das Loch im Fenster, und Maggie V. kreischte so hysterisch, dass ihre Maske abbröckelte und die Teebeutel herunterfielen. Und obwohl Mulch Diggums wusste, dass seine Karriere als Goldfinger beendet war, schenkte ihm das Gewicht von Maggie V.'s Oscar in seiner Tasche doch ein verdammt befriedigendes Gefühl.

 
 

Schacht E93

 

Noch zwanzig Sekunden bis zur Explosion der Schlagkugeln, und der Commander hing noch immer an der Schachtwand. Es waren keine Flügel an Bord, und sogar wenn sie welche gehabt hätten, wäre die Zeit zu knapp gewesen. Wenn sie Commander Root nicht sofort da wegholten, würde ihn die Explosion in den Abgrund schleudern. Und selbst Magie half da nichts mehr, wenn er zu einem Klumpen verglüht war. Ihnen blieb nur noch eine Möglichkeit: Holly musste die Andockmagnete einsetzen.

Alle Shuttles waren mit einem Ersatzlandesystem ausgerüstet. Funktionierten die Haltebolzen nicht, konnten vier magnetische Andockscheiben abgefeuert werden, die an der Stahlbasis der Andockstation festmachten und das Shuttle zur Luftschleuse zogen. Diese Andockscheiben waren auch in unbekanntem Gelände ganz nützlich, weil ihre Magnete auf Spurenelemente reagierten und sich wie Saugschnecken festsogen.

»Okay, Julius«, sagte Holly. »Jetzt keine Bewegung mehr.«

Root wurde blass. Julius. Holly hatte ihn Julius genannt. Kein gutes Zeichen. Noch zehn Sekunden. Holly klappte ein kleines Display herunter. »Vordere Andockscheibe bereit machen.«

Ein knarzendes Brummen zeigte an, dass ihr Befehl ausgeführt wurde.

Das Gesicht des Commanders erschien im Display. Selbst auf die Entfernung sah er nervös aus. Holly richtete das Fadenkreuz auf seine Brust aus.

»Captain Short, sind Sie sicher, dass das eine gute Idee ist?«

Holly ignorierte ihren Vorgesetzten. »Abstand fünf Meter. Magneteinsatz.«

»Holly, vielleicht könnte ich springen. Ich könnte es schaffen. Ganz bestimmt sogar.«

Noch fünf Sekunden...

»Andockscheibe abfeuern.« Rund um die Basis der Andockscheibe explodierten sechs kleine Sprengladungen und ließen die an einem aufrollbaren Polymerkabel befestigte Metallscheibe aus ihrem Sockel hervorschießen.

Root öffnete den Mund, um zu fluchen, doch im selben Moment donnerte die Scheibe gegen seine Brust und presste auch den letzten Kubikzentimeter Luft aus seiner Lunge. Es krachte unheilvoll.

»Seil einholen«, bellte Holly ins Mikrofon und schaltete gleichzeitig das Shuttle auf vollen Rückwärtsschub. Der Commander wurde hinterhergezogen wie ein Skysurfer.

Null Sekunden.

Die Sprengsätze explodierten und jagten zwei Tonnen Felsbrocken hinunter in die Tiefe. Ein Tropfen in einem Ozean aus Magma.

Keine Minute später lag der Commander auf einer Liege im Krankenzimmer des Diplomatenshuttles. Jeder Atemzug tat ihm weh, aber das hinderte ihn nicht am Sprechen. »Captain Short!«, röchelte er. »Was zum Teufel haben Sie sich dabei bloß gedacht? Ich hätte draufgehen können.«

Butler riss Roots Overall auf, um sich einen Überblick über die Verletzungen zu beschaffen. »Das hätten Sie allerdings. Noch fünf Sekunden, und Sie wären Brei gewesen. Dass Sie noch leben, verdanken Sie Holly.«

Holly nahm ein Medi-Pac aus dem Erste-Hilfe-Kasten und zerdrückte es zwischen ihren Fingern, um die Kristalle zu aktivieren. Noch eine von Foalys Erfindungen: eine mit Heilkristallen getränkte Eispackung. Kein Ersatz für Magie, aber besser als ein tröstender Händedruck.

»Wo tut es weh?«

Root hustete; blutiger Schleim kleckste auf seine Uniform. »So ziemlich überall. Ein paar Rippen sind hin.«

Holly biss sich auf die Lippe. Sie war keine Ärztin, und Heilen funktionierte keineswegs automatisch. Dabei konnte auch was schief gehen. Sie kannte einen anderen Captain, der sich ein Bein gebrochen hatte und dann ohnmächtig geworden war. Als er wieder zu sich gekommen war, hatte der eine Fuß nach hinten gezeigt. Andererseits hatte Holly durchaus schon einige schwierige Aufgaben gemeistert. Als Artemis sie gebeten hatte, die Depression seiner Mutter zu heilen, hatte diese sich in einem anderen Zeitfeld befunden. Also hatte Holly ein starkes positives Signal ausgesandt, mit reichlich Funken darin, damit es mehrere Tage in der Atmosphäre blieb - eine Art Energieschub zur freien Verfügung. Jeder, der während der folgenden Woche Fowl Manor auch nur besucht hatte, war hinterher vermutlich munter pfeifend nach Hause gegangen.

»Holly«, stöhnte Root.

»Okay«, stammelte sie. »Okay.« Sie legte Root die Hände auf die Brust und schickte die Magie in ihre Finger. »Heile«, flüsterte sie.

Der Commander verlor das Bewusstsein. Die Magie schaltete ihn für die Dauer der Heilung aus. Holly packte ihm das Medi-Pac auf die Brust.

»Fest aufdrücken«, wies sie Artemis an. »Aber nur zehn Minuten. Sonst kann die Haut Schaden nehmen.«

Artemis gehorchte. Nach wenigen Sekunden waren seine Hände blutbeschmiert. Er verspürte nicht den geringsten Drang, eine geistreiche Bemerkung zu machen. Erst körperliche Anstrengung, dann ein abgetrennter Finger und jetzt das. Dies alles war turbulenter als er es sich je vorgestellt hatte. Beinahe sehnte er sich nach St. Bartleby's zurück.

Holly kehrte umgehend ins Cockpit zurück und richtete die Außenkameras auf den Versorgungstunnel.

Butler quetschte sich in den Copilotensessel. »Na, wie sieht's aus?«

Holly grinste. Und für einen winzigen Moment erinnerte ihn ihr Gesichtsausdruck an den von Artemis Fowl.

»Wie ein ziemlich großes Loch.«

»Gut. Wie wär's dann mit einem Besuch bei unserem alten Freund?«

Hollys Daumen legten sich auf die Schalter der Triebwerke. »Hervorragende Idee.«

Das Shuttle des atlantischen Botschafters verschwand im Versorgungstunnel, schneller als eine Karotte in Foalys Rachen. Und für diejenigen, die nicht Bescheid wissen: Das ist verdammt schnell.

 
 

Crowley Hotel, Beverly Hills, Los Angeles

 

Mulch Diggums gelangte unbemerkt zurück in sein Hotel. Dort brauchte er natürlich nicht an der Wand hochzuklettern, was entschieden schwieriger gewesen wäre als bei Maggie V., da die Wände aus Backstein waren und sehr porös. Seine Finger hätten sofort die in den Steinen gespeicherte Feuchtigkeit aufgesogen und damit ihre Saugkraft verloren.

Nein, Mulch Diggums benutzte ganz einfach den Haupteingang. Und warum auch nicht? Für den Portier war er schließlich Lance Digger, ein zurückgezogen lebender Millionär. Kleinwüchsig, aber reich.

»'n Abend, Art«, sagte der Zwerg und winkte dem Portier auf dem Weg zum Fahrstuhl zu.

Art spähte über den marmornen Empfangstresen. »Ah, Sie sind's, Mister Digger«, sagte er leicht verwirrt. »Ich dachte, ich hätte Sie gerade eben erst hier unten vorbeigehen hören.«

»Nein«, sagte Mulch grinsend, »das ist heute Nacht das erste Mal.«

»Nein. War vielleicht der Wind.«

»Schon möglich. Allerdings sollte die Direktion bei der Miete dafür sorgen, dass es hier drinnen nicht zieht.«

»Sehr wohl, Sir«, sagte Art. Immer den Gästen zustimmen, lautete die Geschäftsphilosophie.

Im verspiegelten Fahrstuhl zog Mulch Diggums einen Teleskopstab aus der Tasche, um auf P für Penthouse zu drücken. Während der ersten Monate war er gesprungen, um an den Knopf zu kommen, aber das war eines Millionärs nicht würdig und er konnte nicht ausschließen, dass das Rumpeln bis zu Art an der Rezeption zu hören war.

Lautlos glitt der Aufzug nach oben. Mulch widerstand dem Drang, den Oscar hervorzuholen. Es konnte schließlich jederzeit jemand zusteigen. So begnügte er sich mit einem ausgiebigen Schluck aus seiner Flasche mit irischem Quellwasser, das der Reinheit des unterirdischen Wassers noch am nächsten kam. Sobald er die Statue verstaut hatte, würde er sich ein kaltes Bad einlaufen lassen und seinen Poren etwas zu trinken geben. Sonst würde er am nächsten Morgen beim Aufwachen womöglich im Bett festkleben.

Die Tür des Apartments war mit einem Zahlencode gesichert, einer Sequenz aus vierzehn Ziffern. Ein bisschen Verfolgungswahn schadet nie, wenn man dem Gefängnis entgehen will. Obwohl die ZUP ihn für tot hielt, wurde er nie so ganz das Gefühl los, dass Commander Julius Root ihm eines Tages auf die Schliche kommen und nach ihm suchen würde.

Für eine menschliche Behausung war das Dekor seiner Wohnung recht ungewöhnlich: jede Menge Lehm, Felsbrocken und Wasserspiele. Eher wie das Innere einer Höhle als eine exklusive Residenz in Beverly Hills.

Die nördliche Wand schien aus einer einzigen schwarzen Marmorplatte zu bestehen. Schien, wohlgemerkt. Bei näherem Hinsehen entdeckte man einen Ein-Meter-Flachbildschirmfernseher, einen DVD-Spieler und eine getönte Glasscheibe. Mulch wuchtete eine Fernbedienung hoch, die größer war als sein Bein, und öffnete mit einem weiteren komplizierten Zahlencode die verborgene Vitrine. Darin standen drei Reihen Oscars. Er platzierte den von Maggie V. auf dem bereit liegenden Samtuntersetzer und wischte sich eine imaginäre Träne aus dem Augenwinkel.

»Ich danke der Academy für diese Auszeichnung«, kicherte er.

»Sehr rührend«, sagte eine Stimme hinter ihm. Mulch knallte die Vitrinentür so heftig zu, dass das Glas einen Sprung bekam.

Da stand ein Menschenjunge neben dem Steingarten. In seinem Penthouse! Der Junge sah seltsam aus, selbst für einen Oberirdischen. Er war ungewöhnlich blass und schmal, hatte rabenschwarzes Haar und trug eine Schuluniform, die wirkte, als hätte man sie über zwei Kontinente geschleift.

Die Haare auf Mulchs Kinn versteiften sich. Der Junge bedeutete Ärger. Zwergenhaar irrte sich nie.

»Ihr Sicherheitssystem ist ja ganz nett«, fuhr der Junge fort. »Ich habe tatsächlich mehrere Sekunden gebraucht, um es zu überlisten.«

Da wusste Mulch, dass er in Schwierigkeiten war. Die Menschenpolizei brach schließlich nicht in anderer Leute Wohnungen ein.

»Wer bist du, Menschenjunge?«

»Ich glaube, die Frage ist eher, wer Sie sind? Der eigenbrötlerische Millionär Lance Digger? Der berüchtigte Goldfinger? Oder sind Sie, wie Foaly annimmt, der entflohene Gefangene Mulch Diggums?«

Der Zwerg rannte los, angetrieben von einem letzten Rest Gas aus seinen Gedärmen. Er hatte keine Ahnung, wer dieser Menschenjunge war, aber wenn Foaly ihn geschickt hatte, war er ein Kopfgeldjäger der einen oder anderen Art.

Mulch schoss durch den abgesenkten Salon auf seinen Fluchtweg zu. Er war der Grund dafür gewesen, dass er dieses Haus als Wohnort gewählt hatte. Das Gebäude, das Anfang des neunzehnten Jahrhunderts gebaut worden war, hatte einen mächtigen Schornstein, der sich mitten durch sämtliche Stockwerke zog. Als in den fünfziger Jahren eine Zentralheizung eingebaut worden war, hatte der Bauunternehmer den Schacht einfach mit Erde gefüllt und mit einer Betonplatte verschlossen. Der Zwerg hatte die Erdader sofort gerochen, als sein Immobilienmakler die Tür geöffnet hatte. Im Handumdrehen hatte er den alten Kamin freigelegt und den Beton entfernt, und fertig war der Fluchttunnel.

Im Laufen knöpfte er seine Poklappe auf. Der seltsame Junge machte keinerlei Anstalten, ihn zu verfolgen. Warum auch? Schließlich kohnte er ja nirgends hin.

Der Zwerg gönnte sich eine Sekunde, um einen Abschiedsspruch loszulassen. »Lebend kriegst du mich nie, Menschenjunge. Sag Foaly, er soll keinen Oberirdischen schicken, um einen Unterirdischen zu fangen.«

Du meine Güte, dachte Artemis und massierte sich die Stirn. Immer diese Hollywoodsprüche.

Mulch Diggums riss einen Korb mit Trockenblumen vom Kamin, hakte seinen Unterkiefer aus und tauchte direkt in die jahrzehntealte Erde. Sie war nicht gerade nach seinem Geschmack. Die Mineralien und Nährstoffe waren seit langem verbraucht, und alles schmeckte nach Ruß und Asche. Aber immerhin war es Erde, und dies war, wofür Zwerge geboren waren. Mulch spürte, wie die Angst von ihm abfiel. Hier konnte ihn kein lebendes Wesen fangen. Er war in seinem Reich.

In rasender Geschwindigkeit fraß sich der Zwerg durch die Stockwerke nach unten, wobei unterwegs die eine oder andere Wand nachgab. Mulch hatte so eine Ahnung, dass er seine Mietkaution nicht wiedersehen würde, selbst wenn er noch da wäre, um sie in Empfang zu nehmen.

In etwas mehr als einer Minute hatte er die Garage im Untergeschoss erreicht. Er hakte den Kiefer wieder ein, schüttelte sein Hinterteil, um eventuelle Gasblasen zu lösen, und taumelte dann durch das Gitter. Der speziell für ihn umgebaute Geländewagen stand bereit, voll getankt, verdunkelt und startklar.

»Und tschüss«, sagte der Zwerg voller Schadenfreude und griff nach den Schlüsseln, die ihm an einer Kette um den Hals hingen.

Da tauchte plötzlich Holly aus dem Nichts direkt vor seiner Nase auf. »Wie war das?«, fragte sie und schaltete ihren Elektrostock auf höchste Stufe.

Mulch Diggums erwog seine Fluchtmöglichkeiten. Der Kellerboden war aus Asphalt, und der war tödlich für Zwerge, verschloss ihre Eingeweide wie Klebstoff. Die Ausfahrt wurde blockiert von einem riesigen Oberirdischen. Den hatte Mulch schon mal gesehen, und zwar in Fowl Manor. Dann musste der Junge oben in seinem Penthouse der berüchtigte Artemis Fowl sein. Direkt vor ihm stand Captain Short, und sie sah nicht besonders friedfertig aus. Also blieb ihm nur ein Weg: zurück in den Kaminschacht, ein paar Stockwerke hinauf um sich in einer der anderen Wohnungen zu verstecken.

Holly grinste. »Nur zu, Mulch, wenn du dich traust.« Mulch machte kehrt und sprang erneut in den Schacht, auf einen heftigen Schmerz im Hinterteil gefasst. Er wurde nicht enttäuscht. Wie hätte Holly ein solches Ziel auch verfehlen können?

 
 

Schacht E116, Los Angeles

 

Der Shuttlehafen von Los Angeles lag zehn Kilometer außerhalb der Stadt, verborgen hinter der holographischen Projektion einer Sanddüne. Commander Root wartete im Shuttle auf sie. Er hatte sich immerhin genug erholt, um spöttisch zu grinsen.

»Na, sieh mal einer an«, grunzte er und hievte sich von der Liege, ein frisches Medi-Pac vor die Brust geschnallt. »Wenn das nicht mein Lieblingsgefangener ist, auferstanden von den Toten.«

 

Mulch Diggums nahm sich ein Glas Tintenfischpastete aus dem persönlichen Kühlschrank des Botschafters.

»Wie kommt es eigentlich, dass Sie mir nie einen privaten Besuch abstatten, Julius? Immerhin habe ich Ihnen damals in Irland die Karriere gerettet. Ohne mich hätten Sie nie erfahren, dass Fowl eine Kopie des Buchs besitzt.«

Wenn Root kochte, wie es jetzt der Fall war, hätte man an seinen Wangen Marshmallows rösten können.

»Wir hatten eine Vereinbarung, Gefangener. Die haben Sie nicht eingehalten. Und deshalb hole ich Sie mir jetzt.«

Mit seinen Stummelfingern schöpfte Mulch die Pastete aus dem Glas.

»'n bisschen Käfersauce wär nicht schlecht«, bemerkte er.

»Genießen Sie's, solange Sie können, Diggums, denn Ihre nächste Mahlzeit wird Ihnen durch eine Türklappe geschoben.«

Der Zwerg lehnte sich im gepolsterten Sessel zurück. »Gemütlich.«

»Finde ich auch«, stimmte Artemis ihm zu. »Muss eine Art Gelfüllung sein. Wahrscheinlich ziemlich teuer.«

»Auf jeden Fall bequemer als ein Knastshuttle. Ich weiß noch, wie sie mich geschnappt haben, als ich 'nem Texaner einen Van Gogh verkaufen wollte. Das Shuttle, in dem sie mich nach unten gebracht haben, war nicht größer als ein Mauseloch. Und in der Nachbarzelle saß ein Troll. Da stank's vielleicht!«

Holly grinste. »Das hat der Troll auch gesagt.«

Root wusste, dass Mulch Diggums ihn absichtlich reizte, aber ihm platzte trotzdem der Kragen. »Passen Sie auf, Gefangener, ich bin nicht quer durch die halbe Erde gereist, um mir Ihre Abenteuergeschichten anzuhören. Also halten Sie die Klappe, bevor ich Sie zutackere.«

Doch so leicht war der Zwerg nicht zu beeindrucken. »Nur aus Neugier, Julius, warum sind Sie denn überhaupt so weit gereist? Der große Commander Root kommt mit einem Botschaftershuttle angeflogen, um mich kleinen Ganoven einzusammeln? Das nehme ich Ihnen nun wirklich nicht ab. Also, was ist los? Und was haben die Oberirdischen hier zu suchen?« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf Butler »Vor allem der da.«

Der Diener grinste. »Sie erinnern sich also an mich? Mir scheint, Sie schulden mir noch was.«

Mulch schluckte. Butler und er waren sich schon begegnet, und das war für den Menschenmann nicht gut ausgegangen. Mulch hatte ihm eine volle Ladung Zwergengas entgegengeschleudert, was für einen Leibwächter von Butlers Format ziemlich peinlich war, von den Schmerzen ganz zu schweigen.

Commander Root musste lächeln, obwohl ihm eigentlich gar nicht danach zumute war. »Okay, Mulch, Sie haben Recht. Es ist etwas im Gange. Etwas Wichtiges.«

»Dachte ich's mir doch. Und wie üblich brauchen Sie mich, um Ihnen die Drecksarbeit abzunehmen.« Mulch rieb sich das Hinterteil. »Mich anzugreifen ist allerdings nicht gerade die richtige Taktik. Ein bisschen weniger hätte gereicht, Captain Short. Das gibt 'ne Narbe.«

Holly legte die Hand hinter ihr spitzes Ohr und blickte sich in der Runde um. »Hat jemand was gehört? Ich nicht. Interessiert ja auch nicht die Bohne. Und nach allem, was ich gesehen habe, haben Sie sich von dem ZUP-Gold ein verdammt schönes Leben gemacht, Mulch.«

»Wissen Sie eigentlich, was mich die Wohnung gekostet hat? Allein für die Kaution müssten Sie vier Jahre schuften. Und dieser Ausblick! In dem Schuppen hat vorher mal ein Filmregisseur gewohnt.«

Spöttisch zog Holly die Augenbraue hoch. »Freut mich, dass das Geld sinnvoll angelegt worden ist. Nicht auszudenken, wenn Sie es verschwendet hätten.«

Mulch Diggums zuckte die Achseln. »Was wollen Sie, ich bin ein Dieb. Dachten Sie vielleicht, ich mache ein Heim für Obdachlose auf?«

»Nein, Mulch, auf die Idee wäre ich komischerweise nie gekommen.«

Artemis räusperte sich. »Dieses Wiedersehen ist ja wirklich rührend. Aber während Sie hier geistreiche Konversation betreiben, sitzt mein Vater frierend in der Arktis.«

Der Zwerg zog den Reißverschluss seines Anzugs hoch. »Sein Vater? Sie wollen, dass ich Artemis Fowls Vater rette? Aus der Arktis?« In seiner Stimme lag echte Panik. Eis verabscheuten Zwerge fast genauso sehr wie Feuer.

Root schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, es wäre so einfach. Und in ein paar Minuten werden Sie sich das auch wünschen.«

Mulch Diggums' Barthaare krümmten sich in unguter Vorahnung. Und wie hatte seine Großmutter immer gesagt? Hör auf deine Haare, Mulch, hör auf deine Haare.