Ein oder zwei Epiloge

 

Tara

 

Artemis beeilte sich, zur St. Bartlebys School zurückzukommen. Dort musste er sein, wenn die Ärzte in Helsinki seinen Vater anhand des entsprechend ramponierten Passes identifizierten, den Foaly für ihn fabriziert hatte.

Holly hatte ihr Bestes getan, um dem verletzten Artemis Fowl senior zu helfen, hatte seine Brustwunde geheilt und sogar seinem blinden Auge die Sehfähigkeit zurückgegeben. Um das Bein wieder anzubringen, war es jedoch zu spät, zumal sie es ja ohnehin nicht hatten. Nein, Artemis senior brauchte gründliche medizinische Versorgung, und die musste irgendwo beginnen, wo sein Auftauchen halbwegs erklärbar war. Also war Holly Richtung Südwesten geflogen, nach Helsinki, und hatte den bewusstlosen Mann vor der Tür des Universitätskrankenhauses abgelegt. Einem Pförtner war der fliegende Patient aufgefallen, aber Holly hatte ihn einer Erinnerungslöschung unterzogen.

Wenn Artemis senior zu sich kam, würden die vergangenen zwei Jahre für ihn nur wie ein verschwommener Nebel sein, und seine letzte Erinnerung wäre eine glückliche: der Abschied von seiner Familie im Hafen von Dublin. Auch dies war Foaly und seiner ausgefeilten Erinnerungslöschtechnik zu verdanken.

»Wie wär's, wenn ich direkt bei Ihnen einziehe?«, hatte der Zentaur bei ihrer Rückkehr zum Polizeipräsidium gefrotzelt. »Ich könnte ja nebenbei ein bisschen bügeln.«

Artemis lächelte. Das tat er in letzter Zeit häufig. Sogar der Abschied von Holly war glatter gelaufen, als er gedacht hatte - immerhin hatte er Butler befohlen, auf Mister Fowl senior zu schießen, seinen eigenen Vater. Artemis erschauerte. Insbesondere dieser Teil seines Plans würde ihm noch einige schlaflose Nächte bereiten.

 
* * *
 

Es war Captain Holly Short, die sie nach Tara brachte. Sie ließ Artemis und Butler durch eine holographische Hecke hinaus. Es gab sogar eine holografische Kuh, die virtuelle Halme kaute, um die Menschen von jedem Gedanken an Unterirdische abzubringen.

Artemis trug seine Schuluniform, die dank der Elfentechnik auf wundersame Weise wiederhergestellt war. Er schnüffelte an dem Aufschlag. »Der Blazer riecht eigenartig«, bemerkte er. »Nicht unangenehm, aber eigenartig.«

»Er ist absolut sauber«, sagte Holly lächelnd. Foaly musste ihn dreimal durch die Maschine laufen lassen, bis -«

»Bis er die Spuren von uns Oberirdischen raushatte«, beendete Artemis den Satz.

»Genau.«

Am Himmel hing der Vollmond, hell und genarbt wie ein Golfball. Holly spürte, wie seine Magie sie betörte. »Foaly wird übrigens in Anbetracht der Hilfe, die du uns geleistet hast, die Überwachung von Fowl Manor einstellen.«

»Gut zu wissen«, sagte Artemis.

»Ob das eine kluge Entscheidung ist?«

Artemis zögerte nur einen Moment. »Ja. Die Unterirdischen haben von mir nichts mehr zu befürchten.«

»Gut. Ein großer Teil des Rates wollte nämlich, dass du einer Erinnerungslöschung unterzogen wirst. Und bei der Löschung eines so großen Teils des Gedächtnisses hätte dein IQ bestimmt gelitten.«

Butler streckte die Hand aus. »Nun, Captain, ich schätze, ich werde Sie nicht wiedersehen.«

Holly schlug lächelnd ein. »Und wenn doch, ziehe ich bestimmt schneller.« Sie wandte sich zurück zur Elfenburg. »Ich mache mich wohl besser auf den Weg. Es wird bald hell, und ich möchte nicht ohne Sichtschild von einem Spionagesatelliten erwischt werden. Das Letzte, was ich gebrauchen kann, ist mein Foto im Internet, jetzt wo ich gerade erst wieder in die Aufklärung zurückversetzt worden bin.«

Butler stupste seinen Herrn sanft mit dem Ellbogen an.

»Oh, Holly... äh, Captain Short.« Äh? Artemis konnte nicht fassen, dass er »äh« gesagt hatte. Das war ja nicht mal ein Wort.

»Ja, Oberird... Artemis?«

Artemis blickte Holly dabei in die Augen, wie Butler ihn angewiesen hatte. Diese Geschichte mit der Höflichkeit war schwieriger, als er gedacht hatte. »Ich wollte... Ich meine... Was ich sagen wollte, ist...«

Ein weiterer Stupser von Butler.

»Danke. Ich verdanke Ihnen sehr viel. Durch Ihre Hilfe habe ich meine Eltern wieder. Und wie Sie das Shuttle geflogen haben, das war wirklich fantastisch. Und im Zug... Was Sie alles getan haben, hätte ich niemals...«

Noch ein Stupser. Diesmal, damit er mit dem Gefasel aufhörte.

»Na ja, Sie wissen schon, was ich meine.«

Auf Hollys Elfengesicht lag ein seltsamer Ausdruck, irgendwas zwischen Verlegenheit und, ja, es sah tatsächlich aus wie Freude.

Schnell riss sie sich wieder zusammen. »Vielleicht bin ich dir auch etwas schuldig, Menschenjunge«, sagte sie und zog ihre Pistole. Fast hätte Butler eingegriffen, beschloss dann jedoch, Holly zu vertrauen.

Sie nahm eine Goldmünze aus ihrem Gürtel und warf sie fünfzehn Meter in die Luft. Mit einer flüssigen Bewegung hob sie die Waffe und feuerte einen einzelnen Schuss ab. Die Münze wurde noch fünfzehn Meter höher gewirbelt und fiel dann zurück Richtung Erde. Es gelang Artemis, sie aus der Luft zu fangen. Der erste coole Moment in seinem jungen Leben.

»Guter Schuss«, sagte er. Die runde Metallscheibe hatte jetzt ein kleines Loch in der Mitte.

Holly streckte die Hand aus, an der noch immer die frische Narbe zu sehen war. »Wenn du nicht gewesen wärst, hätte ich bestimmt daneben geschossen. Kein mechanischer Finger bringt solche Genauigkeit zustande. Also sollte ich dir wohl auch danken.«

Artemis hielt ihr die Münze hin.

»Nein, behalte sie, als Erinnerung.«

»Als Erinnerung woran?«

Holly schaute ihm unverwandt in die Augen. »Daran, dass es tief unter den Schichten der Verschlagenheit einen Funken Anstand gibt. Vielleicht solltest du ihn ab und zu mal anpusten.«

Artemis schloss die Finger um die Münze. Sie fühlte sich warm an. »Ja, vielleicht.«

Über ihnen brummte ein kleiner Zweisitzer durch die Nacht. Artemis sah nach oben, und als er den Blick wieder senkte, war Holly verschwunden. Ein leichtes Hitzeflimmern lag über dem Gras.

»Auf Wiedersehen, Holly«, sagte er leise.

 

Der Bentley sprang beim ersten Drehen des Schlüssels an. Keine Stunde später kamen sie beim Eingangstor von St. Bartlebys an.

»Lassen Sie Ihr Handy eingeschaltet«, sagte Butler, während er ihm das Tor aufhielt. »Die Behörden in Helsinki dürften bald die Ergebnisse von Interpol haben. Dank Foaly ist die Akte Ihres Vaters wieder in deren Hauptrechner eingespeist worden.«

Artemis nickte und vergewisserte sich, dass sein Handy an war. »Versuchen Sie herauszufinden, wo Mutter und Juliet sich aufhalten, bevor die Neuigkeit offiziell wird. Ich habe keine Lust, sämtliche Badeorte in Südfrankreich abzuklappern.«

»Ja, Artemis.«

»Und überprüfen Sie, ob alle meine Konten gut versteckt sind. Vater muss ja nicht unbedingt erfahren, was ich in den letzten zwei Jahren so alles getrieben habe.«

Butler lächelte. »Sehr wohl, Artemis.«

Artemis ging ein paar Schritte auf das College zu, wandte sich dann jedoch noch einmal um. »Und Butler, eins noch. In der Arktis...«

Er brachte die Frage nicht über die Lippen, aber sein Leibwächter wusste, was ihm auf dem Herzen lag.

»Ja, Artemis«, sagte er sanft. »Sie haben das Richtige getan. Es war die einzige Möglichkeit.«

Artemis nickte und blieb am Tor stehen, bis der Bentley um die nächste Kurve verschwunden war. Von nun an würde sein Leben anders aussehen. Mit beiden Eltern im Haus würde er seine Aktivitäten sehr viel vorsichtiger planen müssen. Ja, er war es den Unterirdischen schuldig, sie für eine Weile in Ruhe zu lassen, aber Mulch Diggums... das war eine ganz andere Geschichte. So viele gesicherte Gebäude, und so wenig Zeit.

 
 

Büro des Schulpsychologen,

St. Bartlebys School

 

Dr. Po war nicht nur immer noch in St. Bartleby's tätig, die kurze Phase der Ruhe vor Artemis schien ihm sogar ausgesprochen gut getan zu haben. Seine anderen Patienten waren vergleichsweise einfache Fälle. Jähzorn, Prüfungsstress oder exzessive Schüchternheit. Und das waren bloß die Lehrer.

Artemis ließ sich auf der Couch nieder, sorgfältig darauf bedacht, nicht aus Versehen auf den Schalter des Handys zu drücken.

Dr. Po nickte seinem Computer zu. »Der Direktor hat Ihre E-Mail an mich weitergeleitet. Charmant.«

»Tut mir Leid«, murmelte Artemis und stellte überrascht fest, dass es ihm tatsächlich Leid tat. Normalerweise kümmerte es ihn nicht, wenn er anderen Leuten Ärger bereitete. »Ich war in einer Phase der Verdrängung. Also habe ich meine Ängste auf Sie projiziert.«

Po musste sich ein Lachen verkneifen. »Ja, sehr gut. Genau, wie es im Buch steht.«

»Ich weiß«, sagte Artemis. Und das stimmte. Ein Kapitel in dem betreffenden Buch stammte nämlich von Dr. F. Roy Dean Schlippe.

Dr. Po legte seinen Füllhalter hin, was er bisher noch nie getan hatte. »Wie Sie wissen, haben wir unser letztes Thema noch nicht abgeschlossen.«

»Welches Thema war das noch gleich, Doktor?«

»Respekt. Beim letzten Mal haben wir über Respekt gesprochen.«

»Ah ja, ich erinnere mich.«

Po legte die Fingerspitzen aneinander. »Ich möchte, dass Sie so tun, als wäre ich genauso klug wie Sie, und mir eine ehrliche Antwort geben.«

Artemis dachte an seinen Vater, der in Helsinki im Krankenhaus lag, an Captain Short, die ihr Leben riskiert hatte, um ihm zu helfen, und natürlich an Butler, ohne den er nie aus Opal Kobois Firma herausgekommen wäre. Er blickte auf und sah, dass Dr. Po ihn anlächelte.

»Nun, junger Mann, haben Sie jemanden gefunden, der Ihres Respekts würdig ist?«

Artemis erwiderte das Lächeln. »Ja«, sagte er. »Ich glaube, das habe ich.«