Kapitel 5

 

Papas Liebling

 
 

Koboi Laboratorien, Ostviertel, Haven City

 

Die Anlagen der Firma Koboi Laboratorien waren direkt in den Felsen von Havens Ostviertel gebaut. Das Gebäude war acht Stockwerke hoch und auf fünf Seiten von kilometerdickem Granit umgeben, so dass der Zugang nur von der Vorderseite möglich war. Die Geschäftsleitung hatte die Sicherheitsmaßnahmen verschärft, und wer wollte es ihr verübeln? Schließlich hatte es die B'wa Kell mit ihren Bandenanschlägen offenbar speziell auf Koboi abgesehen. Der Rat war sogar so weit gegangen, der Firma eine Genehmigung für den Einsatz von Spezialwaffen auszustellen, denn wenn Koboi stürzte, würde sie die gesamte Verteidigungsstruktur von Haven City mit sich reißen.

Ein B'wa-Kell-Kobold, der versuchte, den Hauptsitz der Firma Koboi Laboratorien zu stürmen, würde sofort von DNS-kodierten Betäubungskanonen attackiert, die jeden Eindringling durchleuchteten, bevor sie schossen. Im gesamten Gebäude gab es keinen toten Winkel, keine Möglichkeit, sich zu verstecken. Das System war absolut sicher.

Allerdings brauchten die Kobolde sich deswegen keine Sorgen zu machen. In Wirklichkeit war das Verteidigungssystem nämlich dazu gedacht, ZUP-Officer abzuwehren, die möglicherweise im falschen Augenblick herumschnüffelten. Denn Opal Koboi selbst finanzierte die Kobold-Bande und die Angriffe auf Koboi waren nichts als ein Ablenkungsmanöver, damit sich niemand allzu genau mit ihren Geschäften befasste. Die zierliche Wichtelin war das Superhirn, das hinter dem Batterieschmuggel und den gesteigerten kriminellen Aktivitäten der B'wa Kell steckte. Nun, zumindest eines der Superhirne. Aber warum tat sich ein Wesen von nahezu grenzenlosem Reichtum mit einer Bande verbrecherischer Kobolde zusammen?

 
* * *
 

Vom Tag ihrer Geburt an hatte niemand viel von Opal Koboi erwartet. Als Tochter einer Familie alteingesessener, reicher Wichtel am Principality Hill hätte sie, wenn es nach ihren Eltern ging, lediglich eine Privatschule besuchen, etwas Dekoratives im Kunstbereich studieren und einen passenden zukünftigen Geschäftsführer heiraten sollen.

Aus der Sicht ihres Vaters, Ferall Koboi, war die ideale Tochter mittelmäßig intelligent, einigermaßen vorzeigbar und natürlich gehorsam. Nicht wirklich Eigenschaften, die Opal auszeichneten. In Menschenjahren gerechnet, lief sie bereits im Alter von zehn Monaten ohne Stütze, und mit anderthalb Jahren verfügte sie über ein Vokabular von mehr als fünfhundert Wörtern. Noch vor ihrem zweiten Geburtstag hatte sie ihre erste Festplatte auseinander gebaut.

Wie sich bald zeigte, war Opal frühreif, eigensinnig und eine Schönheit. Eine gefährliche Kombination. Ferall hatte längst den Überblick verloren, wie oft er seine Tochter zurechtgewiesen und ihr gesagt hatte, sie solle das Geschäft den männlichen Wichteln überlassen. Irgendwann brach sie dann den Kontakt zu ihm ganz ab. Ihre offenkundige Feindseligkeit war besorgniserregend.

Und Ferall hatte Recht, sich Gedanken zu machen. Sie war gerade auf dem College, da hatte sie nichts Dringenderes zu tun, als ihr Studium der Kunstgeschichte fallen zu lassen und sich für den fast ausschließlich von männlichen Unterirdischen besuchten Studiengang Maschinenbau einzuschreiben. Kaum hatte sie ihr Diplom in der Hand, gründete Opal ihre eigene Firma, in direkter Konkurrenz zu der ihres Vaters. Bald hatte sie ihre ersten Erfindungen patentieren lassen: einen Schalldämpfer, der zugleich als Energieverstärker funktionierte, ein 3D-Unterhaltungssystem und natürlich ihr Meisterwerk, die Double-Dex-Flügelserie.

Sobald Opal das Unternehmen ihres Vaters in den Konkurs getrieben hatte, kaufte sie die Aktien zum Spottpreis auf und führte die beiden Firmen unter dem Namen Koboi Laboratorien zusammen. Nach nur fünf Jahren verfügte Koboi über mehr Aufträge seitens der Sicherheitsbehörden als jede andere Firma. Und nach zehn Jahren hatte sie bereits mehr Patente auf ihren Namen angemeldet als irgendein anderes unterirdisches Wesen - von Foaly, dem Zentauren, einmal abgesehen.

Doch das genügte ihr nicht. Opal Koboi gierte nach der Art Macht, die seit den Tagen der Monarchie kein einzelner Unterirdischer mehr besessen hatte. Zum Glück wusste sie jemanden, der ihr helfen konnte, dieses besondere Ziel zu erreichen. Ein desillusionierter Officer der ZUP, den sie noch aus College-Zeiten kannte. Ein gewisser Briar Cudgeon...

Briar hatte gute Gründe, die ZUP zu hassen; schließlich hatte man es zugelassen, dass Julius Root ihn in aller Öffentlichkeit ungestraft demütigte. Und obendrein hatte man ihm nach seinem misslungenen Einsatz in der Artemis-Fowl-Affäre seinen Rang als Commander aberkannt.

Für Opal war es eine Kleinigkeit gewesen, Cudgeon bei einem Essen in einem von Haven Citys feineren Restaurants eine Wahrheitspille in den Drink zu schmuggeln. Zu ihrer Freude erfuhr sie, dass der herrlich verdrehte Cudgeon bereits einen Plan entwickelt hatte, um die ZUP stürzen. Einen ziemlich genialen Plan sogar. Das Einzige, was er brauchte, war ein Partner mit reichlich Gold und einer sicheren Basis. Opal war nur zu gern bereit, ihm beides zur Verfügung zu stellen.

Zusammengerollt wie eine Katze saß Opal auf ihrem Schwebesessel und verfolgte die Geschehnisse im Polizeipräsidium. Bei der Modernisierung des ZUP-Sicherheitssystems hatte sie von ihren Technikern überall versteckte Kameras einbauen lassen. Sie sendeten auf der gleichen Frequenz wie die Überwachungskameras des Polizeipräsidiums und bezogen ihren Strom aus der Wärmestrahlung der dort verlegten Glasfaserkabel - perfekt getarnt.

Da ging die Tür auf, und eine Stimme fragte ohne Einleitung: »Nun?«

Opal drehte sich nicht einmal um. Es konnte niemand anders sein als Briar Cudgeon. Nur er besaß den nötigen Zugangschip für ihr Allerheiligstes, implantiert im Fingerknochen.

»Die letzte Batterielieferung ist geplatzt. Ein Zufallstreffer der ZUP. Pech für uns.«

»D'Arvit!«, fluchte Cudgeon. »Aber was soll's. Wir haben genug auf Lager. Und die von der ZUP haben ja keine Ahnung, wofür wir sie brauchen.«

Opal seufzte. »Die Kobolde waren bewaffnet.«

»Sag bloß nicht...«

»Doch. Mit Softnose-Gewehren.«

Cudgeon schlug mit der Faust auf die Arbeitsfläche. »Diese Idioten! Dabei habe ich ihnen extra gesagt, sie sollen die Dinger nicht benutzen. Jetzt wird Julius natürlich ahnen, dass da was im Busch ist.«

»Und wenn schon« sagte Opal beschwichtigend. »Er kann uns nicht mehr aufhalten. Bis er kapiert hat, was wir vorhaben, ist es längst zu spät.«

Doch Cudgeons ohnehin grimmige Miene verfinsterte sich noch mehr. »Nun gut. Die Zeit ist sowieso reif... Vielleicht hätten wir die Batterien einfach selbst herstellen sollen.«

»Nein. Allein der Bau einer Fabrik hätte uns um Jahre zurückgeworfen, und Foaly wäre uns garantiert auf die Schliche gekommen. Wir hatten keine andere Wahl.« Koboi schwang zu ihrem Partner herum. »Du siehst furchtbar aus. Hast du die Salbe nicht benutzt, die ich dir gegeben habe?«

Cudgeon strich sich vorsichtig über den Kopf, der mit schauerlichen Beulen übersät war. »Die vertrage ich nicht. Da ist Kortison drin, und dagegen bin ich allergisch.«

Cudgeons Zustand war höchst ungewöhnlich, vielleicht sogar einzigartig. Bei der Belagerung von Fowl Manor im Jahr zuvor hatte Commander Root ihn mit einem Betäubungspfeil außer Gefecht gesetzt, und unglücklicherweise hatte sich das Mittel nicht mit einer verbotenen Substanz zur Intelligenzförderung vertragen, mit der Cudgeon, damals für kurze Zeit Commander, herumexperimentierte. Als Folge sah seine Stirn nun aus wie geschmolzener Teer, und ein Augenlid hing schlaff herunter. Hässlich und dazu noch degradiert - nicht gerade eine tolle Kombination.

»Du solltest dir diese Beulen aufstechen lassen. Dein Anblick ist kaum zu ertragen.«

Bisweilen vergaß Opal Koboi, wen sie vor sich hatte. Briar Cudgeon war schließlich nicht einfach einer ihrer Firmenlakaien. In aller Ruhe zog er seinen spezialgefertigten Redboy-Blaster heraus und feuerte zweimal auf die Armlehne des Schwebesessels. Der Sitz wirbelte über die genoppten Gummifliesen und schleuderte Opal bäuchlings auf einen Stapel Festplatten.

Der in Ungnade gefallene ZUP-Elf packte Opal an ihrem spitzen Kinn. »Du solltest dich besser daran gewöhnen, meine liebe Opal, denn bald wird dieses Gesicht auf sämtlichen Bildschirmen zu sehen sein - unter und über der Erde!«

Die kleine Wichtelin ballte die Fäuste. An Ungehorsam war sie gewöhnt, und auch körperliche Gewalt war ihr nicht fremd, aber in Augenblicken wie diesen blitzte Wahnsinn in Cudgeons Augen auf. Die Drogen hatten ihn nicht nur um seine Magie und sein gutes Aussehen gebracht, sondern auch um den Verstand.

Doch mit einem Mal war er wieder so galant wie immer und half ihr auf, als sei nichts geschehen. »Und was gibt's sonst Neues, meine Liebe? Die B'wa Kell kann es kaum erwarten, Blut zu sehen.«

Opal strich ihr hautenges Catsuit glatt. »Captain Short ist mit dem Menschenjungen, diesem Artemis Fowl, auf dem Weg zu E37.«

»Fowl ist hier?«, rief Cudgeon aus. »Ach ja, warum habe ich nicht früher daran gedacht, ihn verdächtigen sie natürlich als Erstes! Wunderbar! Nun, Luc Carrère, unser oberirdischer Sklave, wird sich schon um ihn kümmern. Zum Glück habe ich noch genug Magie, ihn mit dem Blick unter Kontrolle zu halten.«

Die Wichtelin trug eine neue Schicht blutroten Lippenstift auf. »Wenn Carrère geschnappt wird, könnte es Schwierigkeiten geben.«

»Keine Sorge«, beruhigte Cudgeon sie. »Ich habe Monsieur Carrère so oft die Erinnerung gelöscht, dass sein Gehirn leerer ist als eine frisch formatierte Festplatte. Selbst wenn er wollte, der könnte keine Geschichten mehr erzählen. Und sobald er die Drecksarbeit für uns erledigt hat, wird die französische Polizei ihn in eine hübsche kleine Gummizelle stecken.«

Opal kicherte. Für jemanden, der nie lächelte, hatte Cudgeon einen wunderbaren Sinn für Humor.