Kapitel 6
Bitte lächeln
Schacht E37, Haven City
Die ungewöhnlichen Alliierten nahmen das Kobold-Shuttle in Schacht E37 für den Transport nach Paris. Holly war alles andere als begeistert. Nicht genug, dass sie mit Artemis Fowl, dem größten Feind des Erdvolks, zusammenarbeiten musste, nun sollte sie auch noch ein Shuttle fliegen, das schon beim Hinsehen auseinander zu fallen drohte.
Holly befestigte den drahtlosen Funksprecher an ihrem spitzen Ohr. »He, Foaly, kannst du mich hören?«
»Klar und deutlich, Süße.«
»Dann erklär mir doch bitte noch mal, warum ich diesen alten Knaller fliegen soll.«
Knaller war der Insider-Ausdruck der ZUP-Piloten für ramponierte Shuttles, die einen fatalen Hang dazu hatten, gegen die Schachtwände zu knallen.
»Du darfst diesen alten Knaller deshalb fliegen, weil die Kobolde das Ding direkt in der Abflughalle zusammengebaut haben. Die drei ursprünglichen Zuleitungstunnel sind schon vor Jahren stillgelegt worden, und es würde Tage dauern, ein neues Shuttle an die Startrampe zu bringen. Also musst du wohl oder übel mit der alten Klapperkiste vorlieb nehmen.«
Holly schnallte sich im schalenförmigen Pilotensitz an. Die automatischen Gurte surrten ihr wie von selbst in die Hände. Für den Bruchteil einer Sekunde kehrte Captain Shorts gute Laune zurück. Sie war eine erstklassige Pilotin, die Beste ihres Jahrgangs. Auf ihrem Abschlusszeugnis hatte Commander Vinyäya vermerkt, Cadet Short könne eine Expresskapsel sogar durch eine Zahnlücke hindurch steuern. Das war allerdings nicht nur als Kompliment gemeint. Bei ihrem ersten Flugversuch hatte Holly nämlich die Kontrolle über die Kapsel verloren und direkt vor Vinyäyas Nase eine Bruchlandung hingelegt.
Doch Hollys gute Laune verpuffte sofort wieder, als sie daran erinnert wurde, wer ihre Passagiere waren.
»Ach, Captain Short«, riss Artemis sie aus ihren Gedanken und ließ sich auf dem Sitz des Copiloten nieder, »wissen Sie zufällig, wie weit das russische Terminal von Murmansk entfernt ist?«
»Zivilisten hinter die gelbe Linie«, knurrte Holly, ohne auf seine Frage einzugehen.
Doch Artemis ließ nicht locker. »Es ist sehr wichtig für mich. Ich plane schließlich einen Rettungsversuch.«
Holly lächelte grimmig. »Das nenne ich Ironie - mein eigener Entführer bittet mich um Hilfe wegen einer Entführung.«
Artemis rieb sich die Schläfen. »Holly, ich bin ein Verbrecher. Das ist nun mal das, was ich am besten kann. Und als ich Sie entführt habe, ging es mir nur um das Lösegeld. Ich hatte nie die Absicht, Sie in Gefahr zu bringen.«
»Ach, tatsächlich?«, sagte Holly. »Und was war mit dem Troll und der Biobombe?«
»Stimmt«, lenkte Artemis ein. »Manchmal lassen sich Pläne nicht so glatt vom Papier auf das Leben übertragen.« Er hielt inne und säuberte seine ohnehin perfekt manikürten Nägel. »Ich bin erwachsener geworden, Captain. Hier geht es um meinen Vater. Ich brauche so viele Informationen wie nur möglich, bevor ich der Mafija gegenübertrete.«
Holly gab nach. Sie wusste, wie schwer es war, ohne Vater aufzuwachsen. Ihr eigener war gestorben, als sie gerade erst sechzig gewesen war. Vor mehr als zwanzig Jahren also. »Na gut, Menschenjunge, dann sperr mal die Ohren auf. Ich sage das nur einmal.«
Artemis setzte sich auf. Butler reckte den Kopf ins Cockpit; er witterte eine Soldatengeschichte.
»Im Verlauf der letzten zweihundert Jahre musste die ZUP wegen der technischen Fortschritte der Menschen über sechzig Terminals schließen. In den sechziger Jahren haben wir uns aus dem nordwestlichen Russland zurückgezogen, nachdem die ganze Kola-Halbinsel radioaktiv verseucht war. Wir Unterirdischen vertragen die Strahlung nicht, weil wir nie Abwehrkräfte dagegen entwickelt haben. Genau genommen war da gar nicht viel zu schließen, nur ein C-Klasse-Terminal und ein paar Tarnprojektoren. Das Erdvolk war ohnehin nicht besonders scharf auf die Arktis, so kalt, wie es da ist. Alle waren froh, dass sie von dort verschwinden konnten. Um also deine Frage zu beantworten: Es gibt ein verlassenes Terminal mit minimaler Oberflächenausstattung, nur etwa zwanzig Kilometer von Murmansk entfernt -«
In dem Moment tönte Foalys Stimme aus der Funkanlage und unterbrach die ungewöhnlich friedliche Unterhaltung. »Okay, Holly, der Schacht ist jetzt freigegeben für den Start. Die Luft ist allerdings noch ziemlich heiß von der letzten Magmawoge, also lass es locker angehen.«
Holly zog ihr Mikro zu sich heran. »Verstanden, Foaly. Halte die Strahlenschutzanzüge bei unserer Rückkehr bereit. Wir stehen ganz schön unter Zeitdruck.«
»Dann drück nicht zu sehr auf die Tube, Holly«, gluckste Foaly. »Schließlich ist das Artemis' erster Schachtflug, da er und Butler auf dem Hinweg ja durch den Blick betäubt waren. Wir wollen ihm doch keine Angst machen.«
Holly gab ein wenig mehr Gas als unbedingt notwendig. »Nein«, sagte sie boshaft, »das wollen wir nicht.«
Artemis beschloss, die Sicherheitsgurte anzulegen. Eine gute Idee, wie sich bald zeigen sollte.
Captain Holly Short jagte das klapprige Shuttle mit Vollgas über das Schwebegleis, das zur Startrampe führte. Die Steuerflossen bebten, und ein Funkenregen sprühte an den seitlichen Sichtluken vorbei. Holly schaltete die Kreiselstabilisatoren ein, damit die beiden Oberirdischen ihr nicht das Cockpit vollkotzten.
Ihre Daumen legten sich auf die Turboschalter. »Na, dann wollen wir mal sehen, was die Kiste draufhat.«
»Versuch nicht, einen Rekord aufzustellen, Holly«, warnte Foaly über die Lautsprecher. »Das Shuttle ist nicht für hohe Geschwindigkeiten gedacht. Ich habe schon Zwerge gesehen, die aerodynamischer gebaut waren.«
Holly grunzte missmutig. Was machte es für einen Sinn, langsam zu fliegen? Und wenn man mit seinen Flugkünsten zufällig auch noch ein paar Oberirdischen Angst einjagen konnte, war das gleich doppelt so lustig.
Der Zuleitungstunnel öffnete sich zum Hauptschacht. Artemis schnappte nach Luft. Der Anblick war Schwindel erregend. Man hätte den Mount Everest in diesen Schacht werfen können, und er hätte nicht einmal die Seitenwände berührt. Vom Erdinnern flackerte ein tiefrotes Glühen herauf, wie die Feuer der Hölle, und das unablässige Krachen der Felswände, die sich in der Hitze dehnten, ließ den Rumpf des Shuttles erbeben.
Holly warf alle vier Triebwerke an und jagte das Shuttle hinunter in den Abgrund. Ihre Sorgen lösten sich auf wie die Dunstschwaden vor den Scheiben des Cockpits. Es war ein altes Pilotenspiel - je tiefer man sich fallen ließ, ohne den Bug wieder hochzuziehen, desto mutiger war man. Selbst der dramatische Tod von Bergungs-Officer Bom Arbels konnte die ZUP-Piloten nicht vom so genannten Erdkerntauchen abbringen. Holly hielt den aktuellen Rekord: Erst fünfhundert Meter oberhalb des Erdkerns hatte sie die Klappen ausgefahren - was ihr zwei Wochen Suspendierung und eine happige Geldstrafe eingebracht hatte.
Aber heute nicht. Keine Rekordversuche mit einem Knaller. Als die Erdanziehungskraft bereits die Haut an ihren Wangen nach hinten drückte, zog Holly das Steuer zu sich heran, so dass die Nase des Shuttles sich aus der Vertikalen hob. Sie grinste in sich hinein, als sie die beiden Menschenwesen an ihrer Seite Seufzer der Erleichterung ausstoßen hörte.
»Okay, Foaly, wir sind auf dem Weg. Wie ist die Lage oben?«
Sie hörte, wie der Zentaur auf seiner Tastatur herumhämmerte. »Tut mir Leid, Holly, aber ich bekomme keine Verbindung zu unserer Anlage an der Oberfläche. Zu viel Strahlung von der letzten Magmawoge. Du musst da allein durch.«
Holly warf einen Blick auf die beiden blassen Oberirdischen neben sich.
Allein?, dachte sie. Schön wär's.
Paris
Wenn es also nicht Artemis war, der Cudgeon half, die B'wa Kell zu bewaffnen, welcher Oberirdische war es dann? Irgendein tyrannischer Diktator? Oder ein rachsüchtiger General, der Zugang zu einem unbegrenzten Batterievorrat hatte? Nein, nicht ganz.
Der Verkauf der Batterien an die B'wa Kell ging auf das Konto von Luc Carrère. Obwohl er gar nicht wie ein Verbrecher aussah. Tatsächlich wusste er selbst auch gar nichts davon. Luc war ein erfolgloser französischer Privatdetektiv, berüchtigt für seine Unfähigkeit. Im Kollegenkreis hieß es, er sei sogar zu dämlich, einen Golfball in einem Fass Mozzarella wiederzufinden.
Cudgeon hatte Luc aus drei Gründen ausgewählt. Erstens galt Carrère laut Foalys Datenbank als gewiefter Geschäftemacher. Denn obwohl er sich als Privatdetektiv dumm anstellte, hatte Luc ein Talent dafür, genau das zu beschaffen, was sein Kunde gerade suchte. Zweitens war der Mann geldgierig und konnte keiner Gelegenheit widerstehen, sich ein paar Extrascheine zu verdienen. Drittens war Luc stockdumm. Und wie jedes unterirdische Kind weiß, lassen sich dumme Menschenwesen vom Blick leichter beeinflussen.
Die Tatsache, dass er in Foalys Datenbank auf Carrère gestoßen war, hätte Cudgeon sogar fast zum Lächeln gebracht. Natürlich wäre es ihm lieber gewesen, kein Menschenwesen in der Kette zu haben, aber eine Kette, die nur aus Kobolden besteht, ist dann doch eine zu dumme Kette.
Mit einem Oberirdischen in Verbindung zu treten, war nichts, was Cudgeon auf die leichte Schulter genommen hätte. So größenwahnsinnig er auch war, wusste er doch sehr genau, was passieren würde, wenn die Menschen erst Wind von dem neuen Markt bekamen, der sich unter der Erdoberfläche auftat. Wie ein Schwarm gefräßiger roter Ameisen würden sie über Erdland herfallen. Und Cudgeon war noch nicht bereit, den Kampf gegen die Menschen aufzunehmen. Noch nicht. Erst wenn er die geballte Macht der ZUP hinter sich hatte.
Also schickte er Luc Carrère zunächst ein kleines Päckchen. Express, mit sichtgeschützter Kobold-Post.
So fand Carrère eines Abends im Juli, als er in sein Büro geschlurft kam, einen Karton auf dem Schreibtisch vor, der aussah wie eine Lieferung von Fed-Ex. Jedenfalls auf den ersten Blick.
Luc schlitzte das Klebeband auf. In der Verpackung befand sich, gut gepolstert von Hundert-D-Mark-Scheinen, ein kleines, flaches Gerät, wie ein tragbarer CD-Player, aber aus einem sonderbaren schwarzen Metall, das das Licht aufzusaugen schien. Luc hätte jetzt zum Empfang durchgeschaltet und seine Sekretärin angewiesen, keine Anrufe durchzustellen - wenn er einen Empfang und eine Sekretärin gehabt hätte. So jedoch stopfte er hastig einen Geldschein nach dem anderen in sein speckiges Hemd, als hätte er Angst, sie könnten sich in Luft auflösen.
Plötzlich klappte das Gerät auf wie eine Muschel, und ein winziger Bildschirm mit Lautsprechern kam zum Vorschein. Auf dem Display erschien ein Gesicht, in den Schatten verborgen. Außer einem Paar rot geränderter Augen konnte Luc nichts erkennen, aber das genügte bereits, um ihm eine Gänsehaut über den Rücken zu jagen.
Als das Gesicht jedoch zu sprechen begann, schwand Lucs Furcht wie von Zauberhand. Wovor hatte er nur Angst gehabt? Dieses Wesen war doch eindeutig ein Freund. Was für eine schöne Stimme, fast wie von einem Engelschor, allerdings aus nur einem Mund.
»Luc Carrère?«
Luc hätte fast geweint. Welche Poesie! »Oui. Der bin ich.«
»Bonsoir. Siehst du das Geld, Luc? Das gehört alles dir.« Cudgeon, der hundert Kilometer unter der Erdoberfläche saß, hätte fast die Mundwinkel zu einem Lächeln verzogen. Das war ja einfacher, als er gedacht hatte. Er war sich nicht sicher gewesen, ob die paar Funken Magie, die noch in seinem Hirn waren, ausreichen würden, um den Oberirdischen unter den Einfluss des Blicks zu bringen. Aber dieser Menschenmann schien ungefähr so viel Willenskraft zu haben wie ein hungriger Troll angesichts einer Pfütze voller Fluchkröten.
Luc hatte beide Hände voller Scheine. »Das ganze Geld? Für mich? Was muss ich denn dafür tun?«
»Nichts. Nimm es einfach und mach damit, was du willst.«
Luc Carrère wusste natürlich, dass man im Leben nichts umsonst bekam, aber diese Stimme... Sie klang so überirdisch, dass sie nur die Wahrheit sagen konnte.
»Und wo dies herkommt, gibt es noch mehr. Viel mehr.«
Luc, der gerade einen Hundert-D-Mark-Schein küssen wollte, hielt inne. »Noch mehr? Wieviel?«
Die roten Augen schienen zu glühen. »So viel du willst, Luc. Aber bevor ich es dir gebe, musst du mir einen Gefallen tun.«
Luc packte die Gier. »Kein Problem. Was denn für einen Gefallen?«
Die Stimme perlte so klar wie Quellwasser aus dem Lautsprecher. »Es ist ganz einfach und noch nicht mal illegal. Ich brauche Batterien, Luc. Tausende von Babybatterien, vielleicht sogar Millionen. Meinst du, du kannst sie mir besorgen?«
Luc überlegte kurz. Die Geldscheine kitzelten ihn am Kinn. Zufällig kannte er jemanden, der über die Seine regelmäßig ganze Schiffsladungen elektronischer Geräte in den Nahen Osten lieferte, darunter auch einen Haufen Batterien. Ein paar Schiffsladungen ließen sich bestimmt abzweigen.
»Batterien. Oui, certainement, die kann ich beschaffen.«
Und so ging es monatelang. Luc kontaktierte seinen Auftraggeber, sobald er die Ware hatte. Die Übergabe lief wie von selbst: Er stellte die Kisten mit den Batterien in seine Wohnung, und am nächsten Morgen waren sie verschwunden. An ihrer Stelle lag ein Bündel neuer Geldscheine. Natürlich waren es Blüten, hergestellt mit einem alten Koboi-Drucker, doch Luc bemerkte es nicht. Niemand außerhalb des Finanzministeriums würde es bemerken.
Ab und zu äußerte die Stimme aus dem Lautsprecher einen speziellen Wunsch, zum Beispiel ein paar Feuerwehranzüge. Aber Luc war jetzt schließlich ein Profi. Es gab nichts, was sich nicht mit einem Anruf erledigen ließ. Innerhalb von sechs Monaten war er aus seinem Einzimmer-Apartment in einen luxuriösen Loft in Saint Germain umgezogen, was natürlich die Sûreté und Interpol misstrauisch gemacht hatte, aber davon wusste Luc nichts. Er wusste nur, dass er zum ersten Mal in seinem korrupten Leben richtig Kohle scheffelte.
Eines Morgens lag wieder ein Päckchen auf der Marmorplatte seines neuen Schreibtischs. Diesmal war es größer, unförmiger. Luc machte sich jedoch keine Gedanken. Wahrscheinlich winkte noch mehr Geld.
Als er den Karton aufriss, fand er darin einen Kasten aus Aluminium und eine Sprechbox wie beim ersten Mal.
Die Augen warteten schon auf ihn. »Bonjour, Luc. Ca va?«
»Oui, merci«, antwortete Luc, von der ersten Silbe an im Bann des Blicks.
»Heute habe ich einen Spezialauftrag für dich. Wenn du den erledigst, musst du dir nie wieder Gedanken um Geld machen. Alles, was du dazu brauchst, ist in dem Kasten.«
»Was ist das?«, fragte der Detektiv nervös, als er den Deckel öffnete. Das Ding darin sah aus wie eine Waffe, und obwohl Luc unter dem Einfluss des Blicks stand, verfügte Cudgeon nicht mehr über genug Magie, um das innere Wesen des Detektivs zu unterdrücken. Carrère machte zwar krumme Geschäfte, aber ein Mörder war er nicht.
»Das ist nur eine Spezialkamera, Luc. Wenn du auf den Hebel drückst, der wie ein Abzug aussieht, macht sie ein Bild«, erklärte Cudgeon.
»Oh«, sagte Luc benommen.
»Ein paar Freunde von mir werden dich besuchen kommen, und ich möchte, dass du sie fotografierst. Es ist eine Art Spiel.«
»Woran soll ich Ihre Freunde denn erkennen?«, fragte Luc. »Ich kriege eine Menge Besuch.«
»Sie werden nach den Batterien fragen. Sobald sie das tun, machst du ein Foto von ihnen.«
»Na klar, kein Problem.« Und das war es auch nicht, denn die Stimme würde ihm nie etwas auftragen, das er nicht tun durfte. Die Stimme war sein Freund.
Shuttlehafen E37, Paris
Holly lenkte den Knaller durch den letzten Schachtabschnitt. Ein Entfernungssensor in der Nase des Shuttles schaltete die Landebeleuchtung ein.
»Hmm« brummte Holly.
Artemis spähte durch die Windschutzscheibe aus Quartz. »Gibt es ein Problem?«
»Nein. Aber die Scheinwerfer da drüben dürften eigentlich nicht funktionieren. In diesem Terminal ist die Stromversorgung schon im letzten Jahrhundert abgebaut worden.«
»Unsere Koboldfreunde, nehme ich an.«
Holly runzelte die Stirn. »Das bezweifle ich. Ein Kobold kann nicht einmal Glühwürfel zum Leuchten bringen. Und um einen Shuttlehafen zu verkabeln, braucht man das richtige Know-how. Elfen-Know-how.«
»Kombiniere, da ist was faul«, sagte Artemis. Hätte er einen Bart gehabt, er hätte sich darüber gestrichen. »Das riecht nach Verrat. Wer hat Zugang zu dieser Spezialtechnik und ein Motiv, sie zu verkaufen?«
Holly steuerte das Shuttle auf die Andockstation zu »Das werden wir bald herausfinden. Besorgt ihr mir nur den oberirdischen Händler, dann werde ich mit dem Blick schon dafür sorgen, dass er singt.«
Mit einem Zischen schloss sich der Gummiring der Landerampe luftdicht um die Tür des Shuttles.
Butler stand bereits voller Tatendrang neben seinem Sitz, bevor das Kontrolllämpchen für die Sicherheitsgurte erloschen war.
»Bringen Sie bloß niemanden um«, warnte Holly ihn. »Das hat die ZUP nicht so gerne. Außerdem verpfeifen tote Menschenwesen selten ihre Partner.«
Sie schaltete den Wandmonitor ein und rief einen Plan des Pariser Stadtkerns auf. »Wir sind hier«, erklärte sie und zeigte auf eine Brücke; die über die Seine führte. »Direkt unter der Brücke, zweihundert Meter von Notre-Dame, der Kirche mit dem Glöckner, entfernt. Der Terminalausgang ist als Brückenträger getarnt. Bleibt vor der Tür stehen, bis ich euch grünes Licht gebe. Wir müssen vorsichtig sein. Das Letzte, was wir gebrauchen können, ist, dass euch ein Franzose aus der Steinmauer kommen sieht.«
»Begleiten Sie uns nicht?«, fragte Artemis.
»Nein. Befehl ist Befehl«, sagte Holly missmutig. »Das Ganze könnte eine Falle sein. Wer weiß, was für Waffen auf den Ausgang des Terminals gerichtet sind. Ihr habt Glück, ihr seid entbehrlich. Und als irische Touristen fallt ihr gar nicht weiter auf.«
»Na, prima. Und welche Spuren haben wir bis jetzt?«
Holly schob eine CD-Rom in das Steuerpult. »Foaly hat seinen Retimager an dem Kobold ausprobiert, den wir verhaftet haben. Anscheinend hat er diesen Menschenmann schon einmal gesehen.« Sie rief ein Verbrecherfoto auf den Bildschirm. »Das Bild hat Foaly im Computer von Interpol gefunden. Luc Carrère. Ein Anwalt, dem die Zulassung entzogen wurde. Arbeitet jetzt als Privatdetektiv.«
Sie druckte eine Karte aus. »Hier ist seine Adresse. Er ist gerade in eine protzige neue Wohnung gezogen. Vielleicht führt die Spur ins Leere, aber zumindest ist es ein Anfang. Ihr müsst ihn festhalten und ihm das hier zeigen.« Holly reichte Butler etwas, das wie eine Taucheruhr aussah.
»Was ist das?«, fragte der Leibwächter.
»Nur ein Sprechbildschirm. Sie halten ihn Carrère vor die Nase, und dann kann ich ihn von hier unten mit Hilfe des Blicks ausquetschen. Außerdem verfügt das Ding noch über eins von Foalys Extras: das Safetynet, eine Art persönlicher Schutzschild. Sie freuen sich bestimmt über die Ehre, den Prototyp hier testen zu dürfen. Sobald Sie das Display berühren, erzeugt der Mikroreaktor im Umfeld von einem Meter eine Schutzhülle aus dreiphasigem Licht. Nutzlos bei Projektilen, aber Lasergeschosse und Schlagwellen hält sie ab.«
»Hmm«, sagte Butler zweifelnd. »Lasergeschosse haben wir oben auf der Erde eher selten.«
»Dann benutzen Sie's halt nicht. Ist mir doch egal.«
Butler betrachtete das winzige Gerät eingehend. »Nur einen Meter Radius? Und was ist, wenn etwas herausragt?«
Holly versetzte dem Diener einen spielerischen Schlag in den Bauch. »Dann, großer Mann, rate ich Ihnen, sich zu einer Kugel zusammenzurollen.«
»Ich werde versuchen, daran zu denken«, sagte Butler und schnallte sich das Instrument um das Handgelenk. »Und Sie beide versuchen, sich nicht gegenseitig umzubringen, während ich weg bin.«
Artemis war überrascht, was nicht oft vorkam. »Während Sie weg sind? Sie erwarten doch wohl nicht im Ernst, dass ich hierbleibe!«
»Keine Sorge«, erwiderte Butler und deutete auf sein Auge. »Sie können alles über die Iriskamera verfolgen.«
Artemis schmollte nur kurz, dann setzte er sich wieder auf den Platz des Copiloten. »Ich verstehe schon. Ich würde Sie nur aufhalten, und das würde wiederum die Suche nach meinem Vater verzögern.«
»Wenn Sie darauf bestehen, können wir natürlich...«
»Nein. Jetzt ist nicht der passende Moment für kindisches Benehmen.«
Butler lächelte leise. Kindisches Benehmen war etwas, das man Master Artemis nun wirklich nicht vorwerfen konnte. »Wie viel Zeit habe ich?«, fragte er.
Holly zuckte die Achseln. »So lange, wie Sie brauchen. Aber je schneller Sie zurück sind, umso besser für alle Beteiligten.« Sie warf Artemis einen Blick zu. »Vor allem für seinen Vater.«
Trotz der schwierigen Situation war Butler in seinem Element. Das hier war das wahre Leben. Die Jagd. Mit seiner Halbautomatik unterm Arm nicht gerade wie in der Steinzeit, aber das Prinzip war dasselbe: Der Stärkere kommt durch. Und für Butler gab es keinen Zweifel daran, wer der Stärkere war.
Er folgte Hollys Wegbeschreibung, bis er zu einer Monteurleiter gelangte, und kletterte sie behände hinauf. Oben angelangt, stand er vor einer Metalltür, dem Ausgang des Terminals. Er wartete, bis das Licht darüber von Rot auf Grün wechselte und die Tarntür lautlos zur Seite glitt. Vorsichtig trat er nach draußen. Es war unwahrscheinlich, dass sich jemand unter der Brücke aufhielt, aber falls doch, würde es ihm angesichts seines dunklen Designeranzugs wohl schwer fallen, sich als Obdachloser auszugeben.
Eine leichte Brise strich ihm über den kahlgeschorenen Schädel. Die Morgenluft war eine Wohltat, vor allem nach den Stunden unter der Erde. Butler konnte gut nachvollziehen, wie sich die Unterirdischen fühlen mussten, nachdem die Menschen sie aus ihrer natürlichen Umgebung verdrängt hatten. Falls das Erdvolk je beschließen sollte, sein Reich zurückzuerobern, würde der Kampf nach allem, was er gesehen hatte, nicht lange dauern. Doch zum Glück für die Menschheit waren die Unterirdischen ein friedliebendes Volk, das keinen Krieg um Landbesitzrechte anzetteln würde.
Die Luft war rein. Butler betrat unauffällig den Uferweg und machte sich flussabwärts auf nach Saint Germain.
Zu seiner Rechten glitt ein Aussichtsboot vorbei, das eine Schar Touristen durch die Stadt schipperte. Butler schirmte automatisch sein Gesicht mit der Hand ab, für den Fall, dass einige der Touristen in seine Richtung fotografierten.
Der Leibwächter erklomm eine Steintreppe, die zur Straße hinaufführte. Hinter ihm ragten die beiden Türme von Notre-Dame in den Himmel, und zu seiner Linken kitzelte die berühmte Silhouette des Eiffelturms die Wolken. Zielstrebig ging Butler die breite Straße entlang und nickte unterwegs ein paar Französinnen zu, die stehen blieben und ihm nachblickten. In diesem Teil von Paris kannte Butler sich aus, da er hier einmal einen einmonatigen Urlaub verbracht hatte, um sich von einem besonders gefährlichen Einsatz für den französischen Geheimdienst zu erholen.
Er schlenderte die Rue Jacob entlang. Selbst zu dieser frühen Stunde war die schmale Straße bereits voll gestopft mit Autos und Lieferwagen. Fahrer drückten auf die Hupe, lehnten sich aus dem Fenster und ließen ihrem gallischen Temperament freien Lauf. Zwischen den Stoßstangen kurvten Mopeds hindurch, und hübsche Mädchen eilten vorbei. Butler lächelte. Paris. Er hatte ganz vergessen, wie es hier war.
Carrères Wohnung lag an der Rue Bonaparte, gegenüber der Kirche. Wohnungen in Saint Germain kosteten im Monat mehr, als die meisten Pariser in einem ganzen Jahr verdienten. Butler betrat das Cafè Bonaparte, bestellte einen Kaffee und ein Croissant und setzte sich an einen Tisch auf dem Gehweg. Nach seinen Berechnungen hatte er von dort einen perfekten Blick auf den Balkon von Monsieur Carrère.
Er brauchte nicht lange zu warten. Es war noch keine Stunde vergangen, als der stämmige Franzose auf dem Balkon erschien, sich auf das Gitter stützte und eine Weile das Treiben unter sich betrachtete. Zuvorkommenderweise präsentierte er sich dabei sowohl von vorne als auch im Profil.
In Butlers Ohr ertönte Hollys Stimme. »Das ist unser Mann. Ist er allein?«
»Kann ich nicht sehen«, murmelte der Leibwächter hinter vorgehaltener Hand. Das hautfarbene Mikrofon, das an seinem Hals klebte, übertrug die Stimmvibrationen und übersetzte sie für Holly.
»Moment.«
Butler hörte das Klappern einer Tastatur, dann sprühte plötzlich die Iriskamera in seinem Auge Funken. Die Sicht auf dem Auge wechselte in ein völlig anderes Spektrum. »Wärmestrahlung«, erklärte Holly ihm. »Rot ist warm, blau ist kalt. Kein sehr weit reichendes System, die Linse müsste jedoch stark genug sein, um die Außenwand zu durchdringen.«
Butler ließ den Blick über die Wohnung wandern. In dem Raum gab es drei rote Objekte: Carrères Herz, das dunkelrot in seinem blassrosa Körper pochte, dann einen Wasserkessel oder eine Kaffeekanne, und das dritte entpuppte sich als ein Fernseher.
»Alles in Ordnung. Ich gehe jetzt rein.«
»Bestätige: Alles in Ordnung. Aber seien Sie vorsichtig. Das Ganze läuft mir ein bisschen zu glatt.«
»Verstanden.« Butler überquerte das Kopfsteinpflaster und ging auf das vierstöckige Wohnhaus zu. Die Tür war mit einem Codesystem gesichert, doch sie stammte noch aus dem neunzehnten Jahrhundert, und eine kräftige Schulter, an der richtigen Stelle gegen das Holz gedrückt, ließ den Riegel aus der Halterung springen.
»Ich bin drin.«
Im Treppenhaus über ihm waren Schritte zu hören. Jemand kam ihm entgegen. Für Butler kein Grund zur Sorge, dennoch legte er sicherheitshalber die Hand auf den Griff seiner Waffe, die er im Jackett verborgen hatte. Unwahrscheinlich, dass er sie brauchen würde. Selbst die aufmüpfigsten jungen Kerle machten stets einen großen Bogen um Butler, was wohl mit dem erbarmungslosen Ausdruck in seinen Augen zusammenhing. Die knapp zwei Meter Körpergröße taten ihr Übriges.
Eine Gruppe Teenager bog um die Ecke. »Excusez-moi«, sagte Butler und trat höflich zur Seite. Die Mädchen kicherten, die Jungen starrten ihn an. Einer von ihnen, ein kräftiger Typ mit buschigen Augenbrauen, überlegte offenbar, ob er einen Spruch ablassen sollte, als Butler ihm zuzwinkerte. Es war ein seltsames Zwinkern, zugleich freundlich und bedrohlich. Da verkniff sich der Junge seinen Spruch.
Butler gelangte ohne weitere Zwischenfälle hinauf in den vierten Stock. Luc Carrères Wohnung lag auf der Giebelseite. Zwei komplett verglaste Wände. Sehr teuer.
Der Leibwächter war gerade bei der Frage angelangt, wie er in die Wohnung gelangen sollte - mit Gewalt oder einfach klingeln -, als er sah, dass die Tür offen stand. Eine offene Tür konnte für gewöhnlich zweierlei bedeuten: Entweder war niemand mehr am Leben, der sie hätte schließen können, oder man erwartete ihn. Keine der beiden Möglichkeiten erschien ihm besonders verlockend.
Vorsichtig betrat Butler die Wohnung. Entlang den Wänden standen reihenweise offene Kisten. Aus den Styroporchips lugten Batteriepackungen und Feuerwehranzüge hervor, der Fußboden war übersät mit dicken Geldscheinbündeln.
»Sind Sie ein Freund?« Die Frage kam von Carrère, der zusammengesunken in einem riesigen Sessel saß, eine undefinierbare Waffe auf dem Schoß.
Butler bewegte sich langsam auf ihn zu. Eine wichtige Kampfregel besagte, dass man jeden Gegner ernst nehmen sollte. »Ganz ruhig.«
Der Franzose hob die Waffe. Der Griff war für kleinere Hände gemacht. Für die eines Kindes oder eines Unterirdischen. »Ich habe gefragt, ob Sie ein Freund sind.«
Butler zog ebenfalls die Pistole. »Kein Grund zu schießen.«
»Bleiben Sie stehen«, befahl Luc Carrère. »Ich habe nicht vor zu schießen. Ich soll Sie nur fotografieren, wenn Sie der Richtige sind. Das hat die Stimme mir befohlen.«
Butler vernahm Hollys Anweisung dicht an seinem Ohr. »Gehen Sie näher ran. Ich muss einen Blick in seine Augen werfen können.«
Butler schob die eigene Waffe wieder in sein Jackett und trat einen Schritt vor. »Schauen Sie, hier muss niemand verletzt werden.«
»Ich werde jetzt das Bild ranzoomen«, sagte Holly. »Das kann ein bisschen wehtun.«
Die winzige Kamera in seinem Auge summte leise, und plötzlich hatte Butler alles in vierfacher Vergrößerung vor sich, was ihn nicht weiter gestört hätte, wäre das Zoomen nicht mit einem stechenden Schmerz verbunden gewesen. Butler blinzelte sich die Tränen aus dem Auge.
Am Bildschirm des Kobold-Shuttles betrachtete Holly Lucs Pupillen. »Er ist mit dem Blick gebannt worden«, erklärte sie. »Mehrmals sogar. Siehst du, wie zerklüftet seine Iris ist? Wenn man das zu oft macht, kann ein Mensch davon erblinden.«
Artemis starrte ebenfalls auf das Bild. »Ist es dann nicht gefährlich, den Blick noch mal bei ihm anzuwenden?«
Holly zuckte die Achseln. »Das macht jetzt auch nichts mehr. Er steht schon unter dem Bann. Dieser Menschenmann funktioniert wie ein Roboter. Sein Gehirn hat keine Ahnung von dem, was er tut.«
Artemis schnappte sich das Mikro. »Butler! Verschwinden Sie! Sofort!«
Doch Butler blieb, wo er war. Eine falsche Bewegung, und es wäre vielleicht seine letzte.
»Butler«, meldete sich Holly zu Wort. »Hören Sie gut zu. Die Waffe, die Carrère in der Hand hält, ist ein Lasergewehr mit einer hohen Reichweite und niedrigen Frequenz, ein so genannter Bouncer. Er wurde für Tunnelgefechte entwickelt. Wenn Carrère abdrückt, wird ein gekrümmter Laserstrahl abgefeuert, der so lange zwischen den Wänden hin und her springt, bis er ein Ziel findet.«
»Verstanden«, murmelte Butler.
»Was haben Sie gesagt?«, fragte Carrère.
»Nichts. Ich lasse mich nur nicht gerne fotografieren.«
»Ihre Uhr gefällt mir. Sieht teuer aus. Ist das eine Rolex?« Luc Carrères Augen blitzten gierig.
»Ach, die ist bestimmt nichts für Sie«, sagte Butler, der den Sprechbildschirm natürlich nicht hergeben wollte. »Ein ganz billiges Ding. Vom Wühltisch.«
»Zeigen Sie mal her.«
Butler löste das Armband und entfernte das Gerät von seinem Handgelenk. »Wenn ich Ihnen die Uhr gebe, verraten Sie mir dann, was es mit den ganzen Batterien hier auf sich hat?«
»Sie sind es! Bitte lächeln«, quiekte Luc Carrère, legte seinen pummeligen Finger um den Miniaturabzug und feuerte drauflos wie ein Wilder.
Für Butler schien die Zeit plötzlich fast stillzustehen. Es war fast, als sei er von einem Zeitstopp betroffen. Sein Soldatenhirn registrierte sämtliche Fakten und analysierte die verbleibenden Möglichkeiten. Im nächsten Moment würde ein Lasergeschoss auf ihn zuschießen und so lange durch den Raum jagen, bis sie beide tot waren. Eine Situation, in der ihm seine Waffe nichts nützte. Ihm blieb nur das Safetynet, aber eine Kugel von nur einem Meter Radius würde nicht ausreichen. Jedenfalls nicht für zwei ausgewachsene Männer.
In dem Sekundenbruchteil, der ihm noch blieb, entwarf Butler eine andere Strategie. Wenn die Kugel gefährliche Schlagwellen abhalten konnte, die auf ihn zuschossen, konnte sie sie vielleicht auch festhalten, sobald sie sich aus der Waffe lösten. Butler berührte den Minibildschirm, um die Safetynet-Funktion auszulösen, und schleuderte das Gerät in Carrères Richtung.
Im selben Augenblick entfaltete sich ein kugelförmiger Schutzschild und hüllte den Laserstrahl aus Carrères Waffe ein - der perfekte Rundumschutz. Es war ein beeindruckender Anblick: wie ein Feuerwerk in einer Seifenblase. Der Schutzschild schwebte in der Luft, kreuz und quer durchzuckt von gleißenden Strahlen, die von der gewölbten Innenseite der Kugel abprallten.
Carrère starrte sie wie hypnotisiert an, und Butler nutzte die Gelegenheit, um ihm die Waffe abzunehmen.
»Starten Sie die Maschine«, knurrte der Leibwächter in sein Halsmikro. »In ein paar Minuten haben wir die Süretè am Hals. Foalys Safetynet hat zwar die Strahlen abgehalten, aber nicht den Lärm.«
»Verstanden. Was ist mit Carrère?« Butler warf den noch immer benommenen Franzosen zu Boden. »Luc und ich werden uns ein bisschen unterhalten.«
Carrère sah sich um, als nähme er seine Umgebung zum ersten Mal wahr. »Wer sind Sie?«, murmelte er. »Was ist passiert?«
Butler riss das Hemd des Privatdetektivs auf und legte ihm die flache Hand auf die Brust. Zeit für einen kleinen Trick, den er von Madame Vu gelernt hatte, seiner japanischen Sensei. »Keine Sorge, Monsieur Carrère. Ich bin Arzt. Sie hatten einen Unfall, aber Ihnen ist nichts passiert.«
»Einen Unfall? Ich kann mich an nichts erinnern.«
»Sie stehen unter Schock, das ist vollkommen normal. Ich prüfe nur, ob bei Ihnen alles in Ordnung ist.«
Butler legte Carrère zwei Finger an den Hals und tastete nach der Schlagader. »Ich werde Ihnen ein paar Fragen stellen, um sicherzugehen, dass Sie keine Gehirnerschütterung haben.«
Carrère wehrte sich nicht. Wer wagte es schon, sich mit einem knapp zwei Meter großen Eurasier anzulegen, der Muskeln hatte wie eine Statue von Michelangelo?
»Ihr Name ist Luc Carrère?«
»Ja.«
Butler fühlte den Puls, die eine Hand am Herz und die andere an der Halsschlagader. Gleichmäßig, trotz des ›Unfalls‹. »Sie sind Privatdetektiv?«
»Ja. Obwohl ich die Bezeichnung Ermittler vorziehe.«
Pulsschlag unverändert. Der Mann sagte die Wahrheit.
»Haben Sie je Batterien an einen geheimnisvollen Kunden verkauft?«
»Nein, natürlich nicht«, protestierte Carrère. »Was für ein Arzt sind Sie eigentlich?«
Jetzt raste sein Puls. Er log. »Sie beantworten hier meine Fragen, Monsieur Carrère«, sagte Butler streng. »Nur noch eins: Haben Sie je Geschäfte mit Kobolden gemacht?«
Carrère verspürte Erleichterung. Polizisten stellten keine Fragen über Märchenfiguren. »Kobolde? Sind Sie verrückt? Wovon sprechen Sie überhaupt?«
Butler schloss die Augen und konzentrierte sich ganz auf das Pochen unter seinen Händen. Lucs Puls hatte sich wieder beruhigt. Er sagte die Wahrheit. Er hatte nie direkt mit den Kobolden zu tun gehabt. So dumm war die B'wa Kell offenbar nicht.
Butler stand auf und steckte den Bouncer ein. Unten auf der Straße jaulten bereits erste Sirenen.
»He, Doktor«, rief Luc Carrère entsetzt, »Sie können mich doch nicht einfach hier liegen lassen.«
Butler warf ihm einen kalten Blick zu. »Ich würde Sie ja mitnehmen, aber die Polizei wird sicher wissen wollen, warum hier überall Geldscheine rumliegen, die vermutlich gefälscht sind.«
Mit offenem Mund starrte Luc Carrère der riesigen Gestalt nach, die im Hausflur verschwand. Ihm war klar, dass er eigentlich fliehen sollte, aber er war seit dem Sportunterricht in der Schule nie mehr als fünfzig Meter gelaufen, und außerdem fühlten sich seine Beine plötzlich an wie Wackelpudding. Nicht verwunderlich bei der Aussicht, die nächsten Jahre im Gefängnis verbringen zu müssen.