Kapitel 8
Eisige Begegnung
Lenin Prospekt, Murmansk
Michail Wassikin wurde allmählich ungeduldig. Seit über zwei Jahren spielte er jetzt den Babysitter. Auf Britwas Wunsch hin. Obwohl Wunsch eigentlich nicht das passende Wort war, denn das würde bedeuten, dass man auch nein sagen konnte. Aber Britwas Wünsche lehnte man nicht ab. Man murrte nicht einmal leise. Der Menidzher, oder besser Manager der Mafija, gehörte noch zur alten Schule. Sein Wort war Gesetz.
Britwas Anweisungen waren einfach gewesen: Gib ihm zu essen, wasch ihn, und wenn er nicht innerhalb eines Jahres aus dem Koma erwacht, bring ihn um und wirf seine Leiche in die Kola-Bucht.
Zwei Wochen vor Ablauf der Frist war der Ire plötzlich im Bett hochgefahren und hatte einen Namen geschrien: Angeline. Kamar hatte sich so erschreckt, dass ihm die Weinflasche, die er gerade öffnen wollte, aus der Hand geglitten war. Die Flasche zerbrach, riss ein Loch in seinen Ferrucci-Slipper und zerquetschte ihm den Nagel des großen Zehs. Zehennägel wuchsen nach, aber Ferrucci-Slipper waren in der Arktis schwer zu kriegen. Michail hatte sich mit ganzem Gewicht auf seinen Partner setzen müssen, um ihn daran zu hindern, ihre Geisel umzubringen.
Und jetzt warteten sie. Entführungen waren mittlerweile ein etablierter Berufszweig, und da gab es Regeln. Nach einer angemessenen Frist schickte man als Erstes einen Lockbrief. Oder, wie in diesem Fall, eine E-Mail. Dann ließ man ihn ein Weilchen schmoren, damit der Erpresste schön nervös wurde, und schließlich servierte man ihm die Lösegeldforderung.
Michail und Kamar hockten in Michails Wohnung am Lenin Prospekt und warteten auf Britwas Anruf. Sie trauten sich nicht einmal, zum Luftschnappen nach draußen zu gehen. Aber viel zu sehen gab es ohnehin nicht. Murmansk war eine dieser russischen Städte, die komplett aus Beton zu bestehen schienen. Und der Lenin Prospekt war nur schön anzusehen, wenn er tief verschneit war.
Kamar kam aus dem Schlafzimmer herüber. Auf seinem Gesicht lag fassungsloses Staunen. »Er will Kaviar! Das ist ja wohl nicht zu glauben! Ich gebe ihm einen schönen Teller Stroganina, und dieser undankbare Irlandez will Kaviar.«
Michail verdrehte die Augen. »Im Koma war er mir sympathischer.«
Kamar nickte und spuckte in den Kamin. »Außerdem beschwert er sich, dass das Bettzeug kratzt. Der Kerl kann froh sein, dass ich ihn nicht in einen Sack stecke und in die Bucht werfe...«
Das Klingeln des Telefons unterbrach seine leeren Drohungen.
»Das ist es, mein Freund«, sagte Wassikin und schlug Kamar auf die Schulter. »Jetzt geht's los.«
Er nahm den Hörer ab. »Ja?«
»Ich bin's«, sagte eine Stimme durch das Knistern in der Leitung.
»Ah, Britwa!«
»Schnauze, Sie Idiot! Sie sollten mich doch nie mit Namen anreden!«
Michail schluckte. Der Menidzher hatte es nicht gern, wenn man ihn mit seinen diversen Geschäften in Verbindung bringen konnte. Das bedeutete: keine schriftlichen Unterlagen und keine Erwähnung seines Namens, solange die Gefahr bestand, abgehört zu werden. Für gewöhnlich telefonierte er nur, während er mit dem Auto in der Stadt herumfuhr, damit sein Standort nicht ermittelt werden konnte.
»Tut mir Leid, Boss.«
»Das hoffe ich.« erwiderte der Mafija-Chef. »Jetzt hören Sie zu, und halten Sie die Klappe, Sie haben ohnehin nichts zu sagen.«
Wassikin legte die Hand über die Muschel. »Alles in Ordnung«, flüsterte er mit erhobenem Daumen. »Er ist sehr zufrieden mit uns.«
»Diese Fowls sind verdammt clever«, sagte Britwa. »Und ich bin sicher, dass sie versuchen, die E-Mail zurückzuverfolgen.«
»Aber ich habe die Mail mit einem Zerfallvirus infiziert -«
»Was habe ich eben gesagt?«
»Sie sagten, ich solle nichts sagen, Brit... Boss.«
»Ganz recht. Also, schicken Sie die Lösegeldforderung ab und bringen Sie Fowl zum Übergabeort.«
Michail erbleichte. »Zum Übergabeort?«
»Ja, genau. Dort wird niemand nach Ihnen suchen, das garantiere ich Ihnen.«
»Aber -«
»Schluss mit dem Gequassel! Reißen Sie sich zusammen, Mann! Es ist ja nur für ein paar Tage. Selbst wenn Ihre Lebenserwartung um ein Jahr sinkt, es wird Sie schon nicht umbringen.«
Wassikin durchforstete sein Hirn fieberhaft nach einer Antwort. Vergeblich.
»Okay, Boss. Wie Sie meinen.«
»So ist's brav. Hören Sie zu, Mann. Das ist Ihre große Chance. Wenn Sie die Sache gut über die Bühne bringen, steht Ihrem Aufstieg innerhalb der Organisation nichts im Weg.«
Wassikin strahlte. Ein Leben voller Champagner und großer Autos winkte.
»Wenn dieser Mann tatsächlich Fowl senior ist, wird der Junge bezahlen. Sobald Sie das Geld haben, versenken Sie die beiden in der Kola-Bucht. Ich will keine Überlebenden, die womöglich eine Vendetta starten. Rufen Sie mich an, wenn es irgendwelche Probleme gibt.«
»Okay, Boss.«
»Ach, und noch was.«
»Ja?«
»Rufen Sie mich nicht an.«
Am anderen Ende wurde aufgelegt. Wassikin stand da und starrte den Telefonhörer an, als wäre er eine giftige Kröte.
»Und?«, fragte Kamar.
»Wir sollen die zweite Nachricht abschicken.«
Ein breites Grinsen zog sich über Kamars Gesicht. »Wunderbar. Dann ist die Warterei endlich bald vorbei.«
»Und danach sollen wir die Geisel zum Übergabeort bringen.«
Das Grinsen verschwand so schnell wie ein Fuchs im Kaninchenbau. »Was - jetzt?«
»Ja, jetzt.«
Kamar begann, in dem engen Wohnzimmer auf und ab zu tigern. »Das ist doch verrückt! Vollkommen schwachsinnig! Fowl kann frühestens in ein paar Tagen hier sein. Weshalb müssen wir die ganze Zeit da hocken und das Gift einatmen? Was soll das denn bringen?«
Michail hielt ihm den Telefonhörer hin. »Sag's ihm doch. Der Menidzher wird sich bestimmt freuen, wenn du ihm erklärst, was für einen Unsinn er anordnet.«
Kamar ließ sich auf das abgewetzte Sofa fallen und schlug die Hände vors Gesicht. »Hat das denn nie ein Ende?«
Sein Partner schaltete den alten 386er ein. »Woher soll ich das wissen«, erwiderte er und schickte die vorbereitete E-Mail ab. »Aber eins weiß ich genau, nämlich was passiert, wenn wir nicht tun, was Britwa sagt.«
Kamar seufzte. »Ich glaube, ich gehe mal rüber und brülle eine Weile den Gefangenen an.«
»Was soll das nützen?«
»Nichts«, gab Kamar zu. »Aber ich fühle mich danach einfach besser.«
Shuttlehafen E93: Nordrussland
Die arktische Station war bei den Touristen nie sonderlich beliebt gewesen. Nun gut, Gletscher und Eisbären waren hübsch anzuschauen, aber dafür vergiftete man sich doch nicht die Lungen mit verstrahlter Luft.
Holly landete das Shuttle an der einzigen Rampe, die noch in Betrieb war. Das Terminal selbst sah aus wie ein verlassenes Lagerhaus. Reglose Gepäckbänder schlängelten sich über den Boden, und in den tief hängenden Heizschächten raschelten Insekten.
Holly nahm Menschenmäntel und Handschuhe aus einem alten Schrank und verteilte sie. »Zieht euch warm an, Jungs. Draußen ist es kalt.«
Das brauchte sie Artemis nicht zu sagen. Die Solarbatterien des Terminals waren schon seit langem abgeschaltet, und die Eiseskälte hatte die Wände geknackt wie eine Nussschale.
Holly warf Butler den Mantel aus sicherer Entfernung zu. »Wissen Sie was, Butler? Sie stinken!«, rief sie lachend.
Der Diener knurrte. »Sie mit Ihrem Strahlenschutzschaum! Ich habe das Gefühl, meine Haut hat eine ganz andere Farbe bekommen.«
»Keine Sorge, in spätestens fünfzig Jahren lässt sich das wieder abwaschen.«
Butler knöpfte sich den Kosakenmantel bis zum Kinn zu. »Warum ziehen Sie sich noch Mäntel an, wo Sie doch Ihre tollen Anzüge haben?«
»Zur Tarnung«, erklärte Holly und rieb sich Gesicht und Hals mit Strahlenschutzgel ein. »Wenn wir den Schild benutzen, sind die Anzüge wegen der Vibration nutzlos. Da könnten wir auch gleich im Kühlwasser eines Reaktors baden. Also gehen wir heute Abend als Menschenwesen.«
Artemis runzelte die Stirn. Stimmt, die Elfen hatten ja bereits darüber geredet, dass sie wegen der Strahlung ihren Sichtschild nicht benutzen konnten. Nun, an seinem Plan würde das nicht viel ändern.
»Genug geplaudert«, knurrte Root und zog sich eine Bärenfellmütze über die spitzen Ohren. »Wir gehen in fünf Minuten raus, und dann will ich jeden bewaffnet sehen. Auch Sie, Fowl, wenn Ihre zarten Hände überhaupt eine Waffe halten können.«
Artemis hatte sich eine Elfenpistole aus dem Arsenal des Shuttles mitgenommen und schob nun eine Batterie in den Schlitz. Dann stellte er die Waffe auf Stufe 3. »Keine Sorge, Commander, ich habe geübt. Wir haben ja eine ganz ordentliche Sammlung von ZUP-Waffen im Haus.«
Roots Gesichtsfarbe verdunkelte sich noch um eine Nuance. »Nun, es ist ein ziemlicher Unterschied, ob man auf eine Pappfigur schießt oder auf ein lebendes Wesen.«
Artemis lächelte sein Vampirlächeln. »Wenn alles nach Plan läuft, werden wir die Waffen gar nicht brauchen. Der erste Teil ist kinderleicht: Wir beobachten Wassikins Wohnung. Sobald sich eine Gelegenheit ergibt, schnappt Butler sich unseren russischen Freund, und wir fünf werden uns ein wenig unterhalten. Ich bin sicher, dass er uns unter dem Einfluss des Blicks alles verrät, was wir wissen wollen. Dann brauchen wir nur noch eventuelle Wachleute zu betäuben und meinen Vater zu retten.«
Root wickelte sich einen dicken Schal um das Kinn. »Und was ist, wenn es nicht nach Plan läuft?«
Artemis' Blick wurde kalt und entschlossen. »Dann Commander, werden wir improvisieren müssen.«
Holly spürte, wie ihr ein kalter Schauer über den Rücken lief. Und das hatte nichts mit der Außentemperatur zu tun.
Der Shuttlehafen war unter einer zwanzig Meter dicken Eisschicht verborgen. Sie fuhren mit dem VIP-Aufzug zur Oberfläche und traten durch die Tarnschleuse hinaus in die Arktis. Für jeden zufälligen Beobachter eine kleine unauffällige Gruppe, bestehend aus einem Erwachsenen und drei Kindern. Kindern, die allerdings bis an die Zähne mit allerlei menschenuntypischen Waffen behängt waren.
Holly warf einen Blick auf den GPS-Empfänger an ihrem Handgelenk. Der Satellitenempfang funktionerte. »Wir befinden uns jetzt im Rosta-Bezirk, zwanzig Kilometer nördlich von Murmansk.«
»Was sagt Foaly über das Wetter? Ich habe keine Lust, mitten im Nichts von einem Schneesturm überrascht zu werden.«
»Tut mir Leid, Sir, ich kriege keine Verbindung. Anscheinend sind die Magmawogen noch nicht abgeflaut.«
»D'Arvit«, fluchte Root. »Tja, dann werden wir wohl auf gut Glück losmarschieren müssen. Butler, Sie sind hier der Experte, übernehmen Sie die Spitze. Captain Short, Sie bilden die Nachhut. Und treten Sie das menschliche Fußvolk ruhig in den Hintern, falls es trödelt.«
Holly zwinkerte Artemis zu. »Mit dem größten Vergnügen, Sir.«
»Das kann ich mir denken«, grunzte Root mit einem stillen Lächeln.
Im Schein des Mondlichts stapfte der seltsame Trupp Richtung Südosten. Als sie auf Eisenbahnschienen stießen, beschlossen sie, ihnen zu folgen. Dies war die einzige Möglichkeit, Schneeverwehungen und zugeschneiten Senken zu entgehen. Sie kamen nur langsam voran. Der Nordwind drang durch sämtliche Poren ihrer Kleidung, und die Kälte brannte auf jedem Zentimeter ihrer bloßen Haut wie eine Million elektrischer Pfeile.
Sie sprachen nur wenig. Die arktische Kälte förderte nicht gerade ihren Drang zur Konversation, auch wenn drei von ihnen Overalls mit eingebauten Heizdrähten trugen.
Schließlich brach Holly das Schweigen. Etwas beschäftigte sie schon seit geraumer Weile. »Sag mal, Fowl«, fragte sie ihn von hinten, »ist dein Vater eigentlich so wie du?«
Artemis kam für einen Moment aus dem Rhythmus. »Was für eine seltsame Frage. Warum wollen Sie das wissen?«
»Na ja, du bist nicht gerade ein Freund des Erdvolks. Was ist, wenn der Mann, den wir retten wollen, uns am Ende vernichtet?«
Ein langes Schweigen folgte, nur unterbrochen vom Klappern der Zähne. Holly sah, dass Artemis den Kopf senkte.
»Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, Captain. Mein Vater war... ist ein Ehrenmann, auch wenn einige seiner Unternehmungen zweifellos illegal waren. Er käme niemals auf den Gedanken, einem anderen Wesen etwas anzutun.«
Holly zog ihren Stiefel aus dem tiefen Schnee. »Und wie bist du dann darauf gekommen?«
Artemis' Atem wehte in kleinen Eiswolken um seine Schultern nach hinten. »Ich... ich habe einen Fehler gemacht.«
Argwöhnisch blickte Holly auf den Hinterkopf des Menschenjungen. Meinte Artemis Fowl es tatsächlich so, wie er es sagte? Das war schwer zu glauben. Noch mehr überraschte Holly allerdings, dass sie nicht wusste, wie sie darauf reagieren sollte. Ob sie ihm die Hand zur Versöhnung reichen oder ihm einen Tritt der Vergeltung versetzen sollte. Schließlich beschloss sie, sich jedes Urteil zu verkneifen. Jedenfalls vorläufig.
Sie gelangten zu einer Schlucht, ausgehöhlt vom pfeifenden Wind. Butler gefiel die Gegend gar nicht. Der Instinkt des Soldaten in ihm ließ sämtliche Alarmglocken klingeln. Er hob warnend die Hand.
Root beschleunigte, bis er Butler eingeholt hatte, die anderen beiden folgten dichtauf. »Stimmt etwas nicht?«, fragte er.
Butler spähte mit zusammengekniffenen Augen um sich und suchte das Schneefeld nach Fußabdrücken ab. »Bin nicht sicher. Ideales Gelände für einen Hinterhalt.«
»Vielleicht - falls jemand weiß, dass wir kommen.«
»Und, könnte es jemand wissen?«
Root stieß ein Schnauben aus, dass zwei Dampfwolken aus seiner Nase schossen. »Unmöglich. Der Schachtausgang ist vollkommen abgelegen, und das Sicherheits-System der ZUP ist das beste auf dem ganzen Planeten.«
Genau in diesem Moment tauchte das Killerkommando der Kobolde über dem Kamm der Schlucht auf.
Butler packte Artemis am Kragen und schleuderte ihn ohne Umschweife in eine Schneewehe. Mit der anderen Hand griff er bereits nach der Waffe. »In Deckung, Artemis. Zeit, mein Gehalt zu verdienen.«
Artemis hätte ihn erbost zurechtgewiesen, hätte er nicht kopfüber in einem dicken Schneehaufen gesteckt.
Vier Kobolde zogen in loser Formation über ihnen hinweg, sichtbar als dunkle Schatten vor dem sternenklaren Himmel. Sie stiegen rasch auf dreihundert Meter, ohne jeden Versuch, sich zu verstecken. Sie griffen nicht an, flohen auch nicht, sondern schwebten einfach in der Luft.
»Kobolde«, knurrte Root und legte seine Farshoot Neutrino mit der extragroßen Reichweite an. »Zu blöd, um ein Loch in den Schnee zu pinkeln. Sie hätten uns doch einfach abschießen können.«
Butler stellte sich breitbeinig in Schussposition. »Sollen wir warten, bis wir das Weiße in ihren Augen sehen, Commander?«
»Kobolde haben kein Weiß in den Augen«, entgegnete Root. »Aber stecken Sie Ihre Waffe wieder ein. Captain Short und ich werden die drei da oben betäuben. Ich will nicht, dass es Tote gibt.«
Butler schob die SIG SAUER zurück in sein Schulterhalfter. Auf diese Entfernung war sie ohnehin so gut wie nutzlos. Er war gespannt, Holly und Root in Aktion zu sehen. Schließlich lag Artemis' Leben genau genommen in ihren Händen. Von seinem eigenen mal ganz abgesehen.
Butler warf einen Blick zur Seite. Holly und der Commander drückten hektisch die Abzüge verschiedener Pistolen und Gewehre - ohne jeden Erfolg. Ihre Waffen waren so tot wie Mäuse in einer Schlangengrube.
»Das verstehe ich nicht«, murmelte Root. »Ich habe die Dinger doch selbst überprüft.«
Artemis war natürlich der Erste, der die Lösung fand. Er schüttelte sich den Schnee aus dem Haar. »Sabotage«, verkündete er und warf seine eigene nutzlose Elfenwaffe beiseite. »Eine andere Erklärung gibt es nicht. Das ist der Grund, weshalb die B'wa Kell die Softnose-Gewehre braucht - sie haben es irgendwie geschafft, die Laserwaffen der ZUP auszuschalten.«
Doch weder der Commander noch Butler hörten ihm zu. Dies war nicht der Moment für schlaue Erklärungen; Handeln war angesagt. Hier draußen, vor dem hellen Hintergrund der Schneelandschaft, waren sie in der arktischen Nacht ein leichtes Ziel. Dieser Gedanke wurde umgehend bestätigt, als mehrere Laserstrahlen zischend Löcher in den Schnee vor ihren Füßen bohrten.
Holly schaltete den Optix in ihrem Helm ein und zoomte den Feind heran.
»Sieht aus, als hätte einer von ihnen ein Softnose-Gewehr, Sir. Jedenfalls hat es einen langen Lauf.«
»In Deckung! Schnell!« Butler nickte. »Da drüben ist ein Eisvorsprung, unterhalb des Kamms.«
Der Diener packte seinen Schützling erneut am Kragen und hob ihn hoch wie eine Katze. Sie kämpften sich durch den Schnee zu dem schützenden Vorsprung.
Sie warfen sich darunter und drückten sich flach gegen die Eiswand. Die blauweiß schimmernde Kuppel über ihnen war ohne weiteres dick genug, um dem Beschuss mit sämtlichen konventionellen Waffen standzuhalten.
Butler schob sich schützend vor Artemis und riskierte einen Blick nach oben. »Zu weit weg. Ich kann sie nicht mehr sehen. Holly?«
Captain Short streckte den Kopf unter dem gefrorenen Überhang hervor und stellte ihren Optix scharf.
»Und, was machen sie?«
Holly wartete einen Moment, bis sie die Gestalten klar erkennen konnte. »Komisch«, sagte sie. »Sie schießen jetzt alle, aber...«
»Aber was, Captain? -«
Holly klopfte gegen ihren Helm, um sicherzugehen, dass die Linsen funktionierten. »Vielleicht verzerrt der Optix das Bild, Sir, aber es sieht so aus, als ob sie absichtlich danebenschießen, weit über uns hinweg.«
Butler rauschte das Blut in den Ohren. »Das ist eine Falle!«, brüllte er und griff nach hinten, um sich Artemis zu schnappen. »Nichts wie raus hier!«
Doch in dem Augenblick löste sich unter dem Beschuss der Kobolde ein gewaltiges Stück von dem Eisüberhang, und Tonnen von Eis und Schnee donnerten zu Boden.
Beinahe hätten sie es geschafft. Aber mit ›beinahe‹ hat schließlich noch keiner einen Algentopf beim Gnomenroulette ergattert. Wäre Butler nicht gewesen, keiner von ihnen hätte überlebt. Eine plötzliche, unerklärliche Kraft überkam ihn in der Gefahr wie die, mit deren Hilfe eine Mutter einen ganzen Baum anzuheben vermag, wenn es gilt, ihre eingequetschten Kinder zu befreien. Der Diener packte Artemis und Holly und schleuderte sie vorwärts wie Kiesel über einen See. Keine besonders würdevolle Art der Fortbewegung, aber auf jeden Fall besser, als von einer Eislawine zerschmettert zu werden.
Zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten landete Artemis mit dem Gesicht voran in einer Schneewehe. Hinter ihm versuchten Butler und Root so schnell wie möglich unter dem Eisüberhang wegzukommen, doch auf der glatten Oberfläche rutschten sie immer wieder aus. Lawinendonner bebte in der Luft. Riesige Brocken aus Eis und Schnee stürzten herab und versperrten Butler und Root den Weg. Sie saßen fest.
Holly rappelte sich auf und rannte zurück. Doch was sollte sie tun? Sich wieder unter den Vorsprung wagen?
»Zurückbleiben, Captain«, drang Roots Stimme bellend aus ihrem Helmlautsprecher. »Das ist ein Befehl!«
»Commander«, japste Holly erleichtert. »Sie leben noch.«
»Sieht so aus«, erklang die Antwort. »Aber Butler scheint bewusstlos zu sein, und wir kommen hier nicht raus. Der Überhang kann jeden Moment vollständig einstürzen; das Einzige, was ihn hält, ist dieser lockere Schneewall. Und wenn wir den zur Seite schieben, um uns zu befreien...«
Zumindest waren sie noch am Leben. Gefangen, aber am Leben. Was sie jetzt brauchten, war ein Plan.
Captain Holly Short war erstaunlich ruhig, ein Vorzug, der sie als eine hervorragende Polizistin auszeichnete. Selbst bei größter nervlicher Belastung war Holly in der Lage, einen Ausweg zu finden. Oft genug den einzigen Ausweg. Bei der Kampfsimulation anlässlich ihrer Prüfung zum Captain hatte Holly ihre unbesiegbaren virtuellen Gegner ausgeschaltet, indem sie den Projektor in die Luft gejagt hatte. Technisch gesehen hatte sie damit alle Feinde besiegt, und so blieb der Kommission nichts anderes übrig, als sie zu befördern.
Holly erteilte ihre Anweisungen über das Helmmikro. »Commander, schnallen Sie sich mit an Butlers Moonbelt und schalten Sie auf volle Leistung. Ich werde versuchen, Sie da rauszuziehen.«
»Verstanden, Holly. Brauchen Sie einen Enterhaken?«
»Wenn Sie mir einen rausschießen können.«
»Moment.« Durch eine Lücke zwischen den Eisbrocken kam ein Enterhaken geflogen und landete einen Meter vor Hollys Füßen. An dem Haken war ein hauchdünnes, elastisches Seil befestigt.
Holly befestigte den Haken an der entsprechenden Halterung ihres Gürtels, wobei sie sorgfältig darauf achtete, dass das Seil sich nicht verknotete. In der Zwischenzeit war es Artemis gelungen, sich aus dem tiefen Schnee freizukämpfen.
»Dieser Plan ist vollkommen lächerlich«, sagte er und klopfte sich den Schnee von den Armen. »Sie glauben doch nicht im Ernst, dass Sie die beiden da rausziehen können, obendrein noch schnell genug, um die Eisbrocken beiseite zu schieben und der gleichzeitig einstürzenden Kuppel zu entkommen.«
»Ich werde sie ja auch nicht da rausziehen«, entgegnete Holly schnippisch.
»Wer dann?«
Captain Short wies auf die Schienen. In der Ferne sah man einen grünen Zug, der sich stetig auf sie zuschlängelte. »Der da«, sagte sie.
Es waren nur noch drei Kobolde übrig: D'Nall, Aymon und Nyle. Drei Grünschnäbel, die alle scharf auf den soeben frei gewordenen Posten des Lieutenant waren. Lieutenant Poll hatte nämlich das Zeitliche gesegnet. Er war der Lawine zu nahe gekommen und von einer fünfhundert Kilo schweren Eisscholle erschlagen worden.
So schwebten die drei in dreihundert Meter Höhe, außerhalb der Reichweite jeder Schusswaffe. Natürlich galt das nicht für Elfenwaffen, aber die waren ja außer Gefecht gesetzt. Dafür hatten die Techniker von Koboi Laboratorien gesorgt.
»Donnerwetter, Lieutenant Poll hat aber ein ganz schönes Loch abgekriegt«, sagte Aymon mit anerkennendem Pfiff. »Ich konnte besser durch ihn sehen als durch das Eis, das ihn erwischt hat.«
Kobolde hingen für gewöhnlich nicht besonders aneinander. Kein Wunder bei der Betrügerei und den pausenlosen Intrigen in der B'wa Kell. Da lohnte es sich nicht, Freundschaften zu schließen.
»Wie wär's, wenn einer von euch beiden mal runterfliegt und nachguckt«, fragte D'Nall, der - vergleichsweise - Bestaussehende von ihnen.
Aymon schaubte. »Ja, klar. Wir gehen runter und lassen uns von dem Großen abknallen. Für wie blöd hältst du uns eigentlich?«
»Der Große ist ausgeschaltet. Dem habe ich selbst eine Ladung verpasst. Echt sauberer Schuss.«
»Aber mein Schuss hat die Lawine ausgelöst«, maulte Nyle, der jüngste der Bande. »Immer schreibst du dir meine Morde aufs Konto.«
»Was denn für Morde? Das Einzige, was du bisher getötet hast, war ein Stinkwurm. Und das war ein Unfall.«
»Stimmt ja gar nicht«, erwiderte Nyle beleidigt. »Das war Absicht. Er hatte mich geärgert.«
Aymon flog zwischen sie. »Genug jetzt, ihr beiden, nun reißt euch nicht noch gegenseitig die Schuppen aus. Wir können doch von hier oben ein paar Runden auf die Überlebenden feuern.«
»Toller Plan«, spottete D'Nall. »Das wird nur nicht funktionieren, du Genie.«
»Und wieso nicht?«
D'Nall wies mit der manikürten Klaue nach unten. »Weil die gerade in den Zug steigen.«
Vier grüne Waggons, gezogen von einer alten Diesellok, wanden sich von Norden her auf sie zu. Ein Mahlstrom wirbelnder Schneeflocken folgte dem Zug.
Die Rettung, dachte Holly. Oder auch nicht. Aus irgendeinem Grund reichte schon der Anblick der stampfenden Lokomotive, um ihre Magensäure zum Kochen zu bringen. Aber sie hatte keine Wahl.
»Das ist der Mayak-Chemie-Zug«, sagte Artemis.
Überrascht drehte Holly sich um. Artemis sah noch blasser aus als sonst. »Der was?«
»Umweltschützer auf der ganzen Welt nennen ihn den Grünen Zug - eine ziemliche Ironie. Er transportiert verbrauchte Uranium- und Plutoniumbrennstäbe für die Wiederaufbereitung zum Chemiekonzern Mayak. Ein Fahrer, eingeschlossen in der Lok. Keine Wachen. Voll beladen ist das Ding heißer als ein Atom-U-Boot.«
»Und woher weißt du das alles?«
Artemis zuckte die Achseln. »Ich halte mich gerne auf dem Laufenden. Schließlich ist die Verstrahlung eines der größten Probleme der Welt.«
Jetzt spürte Holly es. Uraniumstrahlen, die sich durch das Schutzgel auf ihrer Haut fraßen. Dieser Zug war das pure Gift. Aber es war ihre einzige Chance, den Commander lebend aus der Schneehölle zu befreien. »Das hat uns gerade noch gefehlt«, grummelte sie.
Der Zug kam näher, rollte mit etwa zehn Stundenkilometern auf sie zu. Kein Problem für Holly allein, aber mit zwei angeschlagenen Männern und einem nahezu nutzlosen Menschenjungen würde es ein ganz schöner Akt werden.
Holly sah kurz hinauf zu den Kobolden. Sie schwebten nach wie vor in dreihundert Metern Höhe. Improvisation war nicht gerade eine Stärke der Kobolde. Der Zug war nicht eingeplant, und so würden sie mindestens eine Minute brauchen, um sich eine neue Strategie zu überlegen. Außerdem durfte das große Loch in ihrem gefallenen Kumpan sie noch eine ganze Weile beschäftigen.
Holly spürte die Strahlung, die von den Waggons ausging, immer deutlicher; eine Strahlung, die sich durch jede winzige Lücke im Schutzgel bohrte und ihr in den Augen brannte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ihre Magie verbraucht sein würde. Und dann waren ihre Stunden gezählt.
Doch sie hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Das Wichtigste war, den Commander lebend aus der Höhle herauszuholen. Wenn die B'wa Kell dreist genug war, einen offenen Angriff gegen die ZUP zu starten, war unten in Erdland mit Sicherheit etwas Oberfaules im Gange. Und was immer es war, sie würden Julius Root brauchen, um die Gegenattacke zu leiten.
»Okay, Menschenjunge«, sagte sie zu Artemis. »Wir haben nur einen Versuch. Halt dich irgendwo fest, egal woran.«
Artemis konnte ein leichtes Zittern nicht verbergen.
»Keine Angst, Fowl. Du schaffst das schon.«
Artemis wurde wütend. »Es ist kalt, Elfe. Wir Menschen zittern nun mal, wenn uns kalt ist.«
»Na, dann ist Bewegung ja gerade richtig«, meinte Holly und begann zu laufen. Das Seil an ihrem Gürtel rollte sich hinter ihr aus wie ein Harpunendraht. Obwohl es nur so dünn war wie eine Angelschnur, konnte es ohne weiteres das Gewicht von zwei zappelnden Elefanten aushalten. Artemis rannte hinter ihr her, so schnell es seine in Slippern steckenden Füße erlaubten.
Dicht neben den Gleisen liefen sie durch den knirschenden Schnee. Hinter ihnen näherte sich stampfend der Zug, eine Welle kalter Luft vor sich herschiebend.
Artemis hatte Mühe, mit Holly mitzuhalten. Das war nicht sein Ding, rennen und schwitzen. Überhaupt, Kampfeinsatz! Er war doch kein Soldat, verdammt nochmal! Er war ein Denker. Ein Genie. Die Turbulenzen handgreiflicher Auseinandersetzungen überließ er lieber Butler und seinesgleichen. Aber diesmal war sein Diener nicht da, um ihm die körperliche Arbeit abzunehmen. Und er würde es nie wieder sein, wenn es ihnen nicht gelang, auf diesen Zug aufzuspringen.
Sein Atem kam stoßweise, in weißen Wolken, die seine Sicht verschwimmen ließen. Der Zug war jetzt neben ihnen; die Stahlräder schleuderten Eis und Funken in die Luft.
»Zweiter Waggon«, japste Holly. »Pass auf, versuch die untere Leiste zu erwischen.«
Welche Leiste? Artemis warf einen Blick über die Schulter. Der zweite Waggon kam näher. Na, super. Wie zum Teufel sollte er darauf stehen können, auf dieser schmalen Leiste unterhalb der Stahltür? Und woran sollte er sich festhalten?
Holly sprang mit einem Satz auf und drückte sich flach an die Wand des Waggons. Bei ihr sah es völlig mühelos aus. Ein kleiner Hüpfer, und sie war in Sicherheit vor den gnadenlos mahlenden Rädern. »Komm schon, Fowl«, rief sie. »Spring!«
Artemis gab sich alle Mühe. Aber er blieb mit der Schuhspitze an einer Schwelle hängen und taumelte rudernd vorwärts, verzweifelt bemüht, nicht unter die Räder zu kommen, wo ihm ein schmerzhafter Tod drohte.
»Zwei linke Füße«, grummelte Holly und packte ihren Erzfeind am Kragen. Mit Schwung schleuderte sie Artemis nach vorn, so dass er wie eine Comicfigur vor die Tür prallte.
Auch das Seil peitschte gegen den Waggon. Sobald Holly sich vergewissert hatte, dass Artemis Halt gefunden hatte, machte sie sich auf die Suche nach einem Punkt, an dem sie sich festschnallen konnte. Auch wenn Roots und Butlers Gewicht durch den Moonbelt reduziert war, würde der Ruck in dem Moment, wo das Seil sich spannte, ausreichen, um sie vom Zug zu reißen. Und wenn das passierte, wäre alles vorbei.
Sie schlang einen Arm um eine Sprosse der Leiter, die außen am Waggon befestigt war. Dabei fiel ihr Blick auf die bläulichen Funken ihrer Magie, die um einen Riss in ihrem Overall tanzten. Sie bekämpften erste Strahlungsschäden. Wie lange würde ihre Magie unter diesen Umständen wohl noch ausreichen? Ununterbrochenes Heilen ging ganz schön ans Eingemachte. Sie musste dringend ihre Kräfte mit dem Ritual wieder aufladen, und zwar so bald wie möglich.
Gerade als Holly das Seil von ihrem Gürtel lösen und um eine Sprosse schlingen wollte, straffte es sich mit einem Ruck und riss ihr die Beine von der Leiter. Mit aller Kraft klammerte sie sich an die Sprosse, so dass ihre Fingernägel sich in die Handfläche gruben. Der Plan war offenbar nicht ganz ausgereift. Die Zeit schien sich zu dehnen, genau wie das Seil, und einen Moment lang befürchtete Holly, ihr wurde der Arm aus dem Gelenk reißen. Dann gab die Schneewand nach, und Root und Butler wurden aus ihrem eisigen Grab katapultiert wie Pfeile aus einer Armbrust.
Sekunden später prallten sie gegen die Seitenwand des Zugs. Da ihr Gewicht reduziert war, hielten sie sich fürs Erste dort. Doch es war nur eine Frage der Zeit, bis die restliche Schwerkraft sie hinunter ins Räderwerk drücken würde.
Artemis kletterte zu ihr hinüber. »Was kann ich tun?«
Holly wies mit einer Kopfbewegung auf ihre Schultertasche. »Da drin ist eine kleine Flasche. Hol sie raus.«
Er riss den Klettverschluss auf und griff nach der kleinen Sprühflasche. »Okay, habe ich.«
»Gut. Dein Einsatz, Fowl. Hoch und rein.«
Artemis starrte sie mit offenem Mund an. »Hoch und...?«
»Ja, das ist unsere einzige Chance. Wir müssen diese Tür aufkriegen, um Butler und den Commander ins Innere zu ziehen. Da vorne kommt gleich eine Kurve. Wenn der Zug dann nur etwas langsamer wird, wirkt die Schwerkraft stärker und die beiden sind erledigt.«
Artemis nickte. »Was ist in der Flasche?«
»Säure. Für das Schloss. Der Mechanismus ist unter dem Deckel. Schütz dein Gesicht und drück drauf. Nimm die ganze Portion. Und pass auf, dass du nichts abkriegst.«
Unter den gegebenen Umständen war es ein ziemlich langes Gespräch. Schließlich zählte jede Sekunde. Artemis verschwendete daher keine Zeit für irgendwelche Abschiedsfloskeln. Er drückte sich hoch auf die nächste Sprosse der Leiter, wobei er sich mit dem ganzen Körper flach an den Waggon presste. Der Wind, der am Zug entlang fegte, war voller winziger Eissplitter, die wie Nadeln piksten. Mit klappernden Zähnen zog Artemis die Handschuhe aus. Frostbeulen waren immer noch besser, als unter den Rädern zermalmt zu werden.
Aufwärts. Eine Sprosse nach der anderen, bis sein Kopf über den Waggon hinausragte. Nun war auch er vollkommen ungeschützt. Der Wind peitschte ihm ins Gesicht und nahm ihm den Atem. Mit zusammengekniffenen Augen spähte Artemis durch die wirbelnden Eispartikel über das Dach. Da! Eine Dachluke. Mitten in einer Wüste aus Stahl, von den Elementen glatt poliert wie eine Glasplatte. Und im Umkreis von fünf Metern nichts, woran man sich festhalten konnte. Selbst die Kraft eines Nashorns half hier nichts. Endlich wieder der Moment, seine Gehirnzellen zum Einsatz zu bringen. Alles eine Frage der Kinetik. Kinderleicht, zumindest in der Theorie.
An den vorderen Rand des Waggons geklammert, schob Artemis sich Zentimeter für Zentimeter auf das Dach. Der Wind drückte ihm unter die Beine und hob sie eine Handbreit an, als wolle er ihn vom Zug wehen.
Artemis schlang die Finger um den Rand. Sie waren es nicht gewohnt, fest zuzupacken. Seit Monaten hatten sie nichts Schwereres mehr gehalten als sein Handy. Wenn es galt hundert Seiten in weniger als zwanzig Minuten abzutippen, okay, da war Artemis genau der Richtige. Aber im eisigen Wind auf Zugdächern herumzuturnen, war ganz und gar nicht sein Ding. Was zum Glück wunderbar zu seinem Plan passte.
Kurz bevor seine Fingergelenke nachgaben, ließ er los. Der Fahrtwind drückte ihn direkt auf den Metallrand der Dachluke zu. Ihm blieben nur noch Sekunden, bis der Wind sich unter seinen Körper graben und ihn in die eisige Steppe wehen würde. Kanonenfutter für die Kobolde.
Artemis zerrte die Sprühflasche aus seiner Tasche und riss den Deckel mit den Zähnen ab. Ein Tropfen Säure flog an seinem Auge vorbei. Doch er hatte keine Zeit, sich deswegen Sorgen zu machen.
Die Dachluke war mit einem schweren Vorhängeschloss gesichert. Artemis sprühte zweimal auf das Schlüsselloch; mehr konnte er nicht opfern.
Das Zeug wirkte sofort. Die Säure fraß sich durch das Metall wie Lava durch Eis. Elfentechnik. Unschlagbar.
Mit einem Ruck sprang das Vorhängeschloss auf. Der Wind packte die Luke, riss sie auf, und Artemis stürzte hinunter auf eine Palette voller Fässer. Nicht gerade der klassische Auftritt des galanten Helden.
Schon das nächste Rütteln des Zugs warf ihn weiter zu Boden. Er landete auf dem Rücken und starrte direkt auf das Dreieckssymbol für radioaktive Strahlung, das auf jeden einzelnen Behälter gedruckt war. Zumindest waren die Fässer versiegelt, obwohl einige bereits ziemlich angerostet waren.
Artemis rollte über den Lattenboden und zog sich am Türgriff hoch bis auf die Knie. Hing Captain Short noch da draußen, oder war er inzwischen allein? Zum ersten Mal in seinem Leben mutterseelenallein?
»Fowl! Mach die Tür auf, du nichtsnutziges oberirdisches Bleichgesicht!«
Aha. Also nicht allein. Den Unterarm schützend vor das Gesicht gelegt, besprühte Artemis das Sicherheitsschloss des Waggons mit der Elfensäure. Innerhalb von Sekunden schmolz der Stahlzylinder und floss wie ein Rinnsal aus Quecksilber zu Boden. Artemis drückte die Schiebetür auf.
Holly klammerte sich noch immer an die Leiter. Ihr Gesicht schien zu dampfen, wo die Strahlung sich durch das Schutzgel gefressen hatte.
Artemis packte sie am Gürtel. »Bei drei?«
Holly nickte. Zum Sprechen reichte ihre Kraft nicht mehr.
Artemis bewegte seine Finger. Lasst mich jetzt nicht im Stich, beschwor er sie im Stillen. Wenn er hier lebend rauskam, würde er sich einen von diesen albernen Hometrainern kaufen, die immer auf den Werbekanälen angeboten wurden.
»Eins.«
Sie näherten sich der Kurve. Er konnte sie bereits aus dem Augenwinkel sehen. Der Zug würde gleich abbremsen.
»Zwei.«
Captain Short war fast am Ende ihrer Kräfte. Ihr Körper flatterte in der Luft wie ein Windsack.
»Drei!«
Artemis zog mit aller Kraft, die seine dünnen Arme hergaben. Holly schloss die Augen und ließ los, fassungslos, dass sie diesem Menschenjungen ihr Leben anvertraute.
Artemis verstand einiges von Physik. Er passte seinen Countdown so ab, dass er den Schwung, die Geschwindigkeit und die Vorwärtsbewegung des Zugs für sich nutzen konnte. Doch die Natur hält immer eine Überraschung bereit. In diesem Fall bestand die Überraschung in einer kleinen Lücke zwischen zwei Schienenstücken. Nicht genug, um den Zug entgleisen zu lassen, aber auf jeden Fall genug, um einen Ruck zu verursachen.
Der Ruck ließ die Waggontür zurück ins Schloss knallen wie eine tonnenschwere Guillotine. Aber es sah so aus, als hätte Holly es geschafft. Genau konnte Artemis das nicht sagen, weil sie auf ihn geschleudert worden war, worauf sie beide gegen die Holzverkleidung geprallt waren. Zumindest saß ihr Kopf noch auf den Schultern, was ja schon mal gut war. Aber sie schien bewusstlos zu sein. Wahrscheinlich der Schreck.
Auch Artemis spürte, dass er ohnmächtig wurde. Dunkelheit breitete sich vom Rand seines Sichtfelds aus wie ein bösartiger Computervirus. Er rutschte zur Seite und landete auf Hollys Brust.
Dies hatte schwerwiegendere Folgen, als Sie vielleicht meinen. Denn da Holly bewusstlos war, schaltete ihre Magie auf Autopilot. Und unkontrollierte Magie fließt wie Strom. Artemis berührte zufällig mit dem Gesicht die linke Hand der Elfe und lenkte den blauen Funkenfluss um. Das war zwar gut für ihn, aber ausgesprochen schlecht für sie. Denn auch wenn Artemis es nicht wusste, brauchte Holly jeden Funken Magie, den sie noch im Körper hatte - nicht alles von ihr hatte es ins Innere des Zugs geschafft.
Commander Root aktivierte gerade die Seilwinde an seinem Gürtel, als ihn völlig unerwartet etwas ins Auge traf.
D'Nall zog einen kleinen Spiegel aus seinem Waffenrock und kontrollierte, ob seine Schuppen auch glatt anlagen. »Diese Koboi-Flügel sind klasse. Meinst du, wir dürfen sie hinterher behalten?«
Aymon verzog das Gesicht. Was allerdings kaum auffiel. Die Abstammung der Kobolde von den Echsen sorgte dafür, dass ihre mimischen Fähigkeiten recht begrenzt waren. »Schnauze, du dämliches Heißblut!«
Heißblut - das war eine ziemlich üble Beleidigung für jemanden von der B'wa Kell.
»Pass auf, was du sagst, Freundchen«, fauchte D'Nall, »sonst reiße ich dir deine gespaltene Zunge aus dem Kopf.«
»Wir werden wohl beide keine mehr haben, wenn wir die Elfen entwischen lassen!«, gab Aymon zurück.
Und da hatte er Recht. Die Generäle mochten keine Fehlschläge.
»Was sollen wir denn deiner Meinung nach tun? Da ich hier der Bestaussehende bin, musst du ja wohl der Intelligenteste sein.«
»Ist doch ganz einfach«, meldete sich Nyle zu Wort. »Wir schießen auf den Zug.«
D'Nall zog an der Steuerung der Double-Dex und flog zu dem jüngsten der Truppe hinüber. »Idiot«, zischte er und versetzte Nyle eine Kopfnuss. »Das Ding ist radioaktiv, riechst du das denn nicht? Ein falscher Treffer, und wir sind ein Häufchen Asche.«
»Stimmt auch wieder«, gab Nyle zu. »Du bist gar nicht so dumm, wie du aussiehst.«
»Danke.«
»Gern geschehen.« Aymon drosselte den Motor und ließ sich auf zweihundertfünfzig Meter Höhe sinken. Es war so verführerisch. Ein gut gezielter Strahlensatz, und die Elfe, die am Waggon hing, wäre ausgeschaltet. Dann ein weiterer Schuss, um den Menschen auf dem Dach loszuwerden. Aber das Risiko war zu groß. Ein Grad Abweichung, und er hatte seine letzten Stinkwurm-Spaghetti geschlürft.
»Okay, Jungs«, sprach er in sein Helmmikro. »Hier ist mein Plan: So verstrahlt, wie die Ladung ist, sind unsere Zielobjekte vermutlich sowieso in ein paar Minuten tot. Wir folgen dem Zug noch eine Weile, um sicher zu sein, dann kehren wir nach Hause zurück und sagen den Generälen, wir hätten die Leichen gesehen.«
D'Nall schwirrte zu ihm herunter. »Und werden wir uns die Leichen ansehen?«
Aymon stöhnte. »Natürlich nicht, du Trottel! Willst du, dass dir die Augen vertrocknen und ausfallen?«
»Igitt, nein.«
»Na also. Alles klar?«
»Und ob«, sagte Nyle, zog seinen Softnose Redboy und erschoss seine beiden Kollegen. Von hinten und aus allernächster Nähe. Sie hatten keine Chance. Er verfolgte ihren Sturz in voller Nahaufnahme. Der Schnee würde sie innerhalb weniger Minuten bedecken.
Nyle schob seine Waffe zurück ins Halfter und gab die Koordinaten des Shuttlehafens in den Flugcomputer ein. Wenn man sein Reptiliengesicht genau betrachtete, konnte man den Hauch eines Grinsens erkennen. Schließlich hatte Erdland einen neuen Lieutenant.