Brunetti erhob sich und rückte Signora Orsoni den Stuhl. Sie setzte sich wieder und legte ihr telefonino auf den Tisch. »Ich verstehe nicht, warum sie sich nicht meldet. Sie sieht doch, wer anruft«, sagte sie in einem Ton, der Brunetti ziemlich gekünstelt vorkam.
Er nahm selbst wieder Platz und griff nach seinem Glas, aber das war leer. Er schob es zur Seite und sagte: »Ja, sicher.« Er betrachtete den welken Toast und sah dann Signora Orsoni an.
Er wartete mit unversöhnlicher Miene.
»Sie hat mich angerufen«, sagte Signora Orsoni.
»Wer?«, fragte Brunetti. Da sie nicht antwortete, hakte er nach: »Wer hat Sie angerufen, Signora?«
»Signora ... Costanza. Sie hat mich angerufen.«
Brunetti fragte sich, wann sie endlich einknicken würde. »Warum?«
»Sie hat mir erzählt ... hat mir erzählt, dass sie mit ihm gesprochen hat.« Sie bemerkte, dass Brunetti ihr nicht folgen konnte, und erklärte: »Mit dem Freund.«
»Dem Sizilianer? Wie hat sie ihn ausfindig gemacht?«
Maddalena Orsoni stützte beide Ellbogen auf den Tisch, dann den Kopf in die Hände, schwenkte ihn ein paarmal hin und her und starrte die Tischplatte an. »Er hat sie ausfindig gemacht. Die Frau hatte ihn aus der Wohnung angerufen, und als er später auf dieser Nummer zurückrief, meldete sich Costanza mit ihrem Namen, und er fragte, ob er sie sprechen [212] könne.« Brunetti musste sich erst einmal durch die vielen Pronomen arbeiten, aber es schien ziemlich klar, dass die Frau, die bei Signora Altavilla gewohnt hatte, so dumm gewesen war, ihren Freund von Signora Altavillas Privattelefon aus anzurufen. Was ihm wiederum auf seinem Telefon angezeigt wurde. Und dann brauchte er nur noch diese Nummer zu wählen, um festzustellen, ob sie dort wohnte.
»Hat er sie bedroht?«
Signora Orsoni schob ihre Hände wie einen Schutzschild über ihren Augen zusammen und schüttelte abwehrend den Kopf.
»Was wollte er?«
Nach langer Zeit sagte sie: »Er hat gesagt, dass er nur mit ihr reden wolle. Sie könne den Ort selbst bestimmen, er werde sich dann dort mit ihr treffen. Er hat gesagt, er würde sich auch vor einer Polizeiwache oder im Florian mit ihr treffen: irgendwo in der Öffentlichkeit, wo sie sich sicher fühlen könne.« Sie verstummte, nahm aber nicht ihre Hände vom Gesicht.
»Hat sie sich mit ihm getroffen?«, fragte Brunetti.
Die Hände immer noch vorm Gesicht, bejahte sie.
Da es wohl keine große Rolle spielte, wo sie sich getroffen hatten, fragte Brunetti: »Was wollte er?«
Sie legte ihre Hände auf den Tisch und ballte sie zu Fäusten. »Er hat gesagt, er wolle sie warnen.«
Das Verb überraschte Brunetti. Seine Gedanken überschlugen sich. Hing dieser junge Mann einem perversen Glauben an irgendeine verrückte sizilianische Vorstellung von Ehre an und wollte die alte Frau aus der Schusslinie bringen? Oder wollte er ihr eine Lügengeschichte über die Frau in ihrem Haus auftischen?
[213] »Was ist passiert?«, fragte er mit so ruhiger Stimme, als erkundige er sich nach der Uhrzeit.
»Sie hat gesagt, er habe sie gewarnt.«
»Vor sich selbst?«, fragte Brunetti, immer noch mit seinen wüsten Phantasien beschäftigt.
Sie stutzte. »Nein, vor ihr.«
»Vor der Frau?«, fragte Brunetti. »Vor der in ihrer Wohnung?«
»Ja.«
Wie ein Rugbyspieler hatte Brunetti kurz eine Bewegung angetäuscht und rannte jetzt mit dem Ball in die andere Richtung. »Was hat er ihr erzählt?«
Ein Geräusch an der Tür lenkte beide ab; zwei Männer stießen die Eingangstür auf, warteten auf einen dritten, der noch seine brennende Zigarette auf die Straße warf, dann gingen sie alle drei an die Bar und bestellten Kaffee. Arbeiter, die Pause machten, ihre Stimmen schallten rauh und munter durch den Raum.
»Signora?«, machte Brunetti sie wieder auf sich aufmerksam.
»Dass sie ein Dieb sei, sie dürfe sie nicht bei sich zu Hause verstecken.« Brunetti merkte ihr an, wie schwer ihr diese Worte über die Lippen kamen. Er verstand das: Signora Orsoni engagierte sich mit aller Kraft, um Frauen vor Gewalt zu schützen. Und jetzt das.
»Was ist passiert?«
Ihr blieb kein Ausweg mehr. Erst zögerte sie noch, dann räumte sie ein: »Er hatte recht.«
»Woher wissen Sie das?«
»Er hat ihr Zeitungsartikel gezeigt, Polizeiberichte.« Als [214] sie Brunettis Überraschung bemerkte, erklärte sie: »Signora Altavilla hat sich unten auf dem campo mit ihm getroffen.«
»Was stand in den Berichten?«, fragte Brunetti.
»Alles über ihre Taktik. Sie geht in eine Stadt, angelt sich einen Mann, zieht entweder bei ihm ein oder lässt ihn bei sich wohnen. Dann fängt sie Streit mit ihm an und sorgt dafür, dass es in Gewalt ausartet. Und wenn die Polizei endlich kommt ...«, sie drückte sich die Fäuste in die Augen, entweder aus Scham oder weil sie nicht wollte, dass er ihre Miene sah, »... er sagte, das sei für sie das Günstigste gewesen: Wenn die Nachbarn die Polizei gerufen hätten.«
Angespannt fuhr sie fort: »Sie war das Opfer, und die Polizei stellte den Kontakt zu einer Organisation her, die misshandelten Frauen hilft; so kam sie in eine sichere Wohnung und blieb dort, bis sie einen eigenen Schlüssel hatte und wusste, was dort zu holen war. Dann verschwand sie mit allem, was sie tragen konnte.«
Ihr versagte vor Abscheu die Stimme, und Brunetti hörte Tassen klappern, herzhaftes Lachen, Münzen klimpern; die Tür ging auf, fiel zu, und die Arbeiter waren gegangen.
In die wiederhergestellte Stille hinein sagte sie: »Er hat das Costanza erzählt, ihr die Berichte gezeigt und sie angefleht, ihm zu glauben.«
»Und die Verbrennungen?«, fragte Brunetti. Sie sah ihn verwirrt an. »Von dem Nudelwasser«, erklärte er.
Sie fuhr mit dem Fingernagel in einer tiefen Furche in der Tischplatte hin und her. »Costanza hat erzählt, er habe immer noch gehumpelt, diese Geschichte aber nicht mehr erwähnt.«
Sie stand auf, ging zur Bar, kam mit zwei Gläsern Wasser zurück, stellte ihm eins hin und setzte sich wieder.
[215] »Wann war das, Signora?«, fragte er.
Sie trank ihr Glas halb aus, stellte es auf den Tisch und sah Brunetti lange an, ehe sie antwortete: »Einen Tag bevor Costanza gestorben ist.«
»Wie haben Sie davon erfahren?«, fragte er; das Wasser interessierte ihn vorerst nicht.
»Sie hat mich angerufen. Costanza. Sie rief mich an, als sie nach dem Gespräch mit dem Mann nach Hause kam, und bat mich - flehte mich an -, zu ihr zu kommen.« Ihr Atem ging wieder schneller. »Als ich dann bei ihr war, gab sie mir die Zeitungsartikel und Polizeiberichte zu lesen.«
»Wo ist der Mann abgeblieben?«
»Sie hat mir erzählt, ihm sei es nur darum gegangen, sie zu warnen und auf die Gefahr hinzuweisen; er dankte ihr, dass sie ihm zugehört hatte, und ging. Das war alles. Ihm lag nur daran, dass sie ihm glaubte. Er sagte, die meisten täten das nicht, weil er Sizilianer sei.« Sie hing ihren Worten lange nach, bis sie schließlich meinte: »Sie hat mir gesagt, er habe einen freundlichen Eindruck auf sie gemacht.«
Ihr Gesicht war aschfahl, und Brunetti war taktvoll genug, ihre Erzählung nicht zu kommentieren. Stattdessen fragte er: »Und was weiter?«
»Costanza bat mich, die Frau anzurufen und ihr zu sagen, dass ich mit ihr reden müsse.«
»Und haben Sie das getan?«
Jetzt brach ihr Zorn hervor. »Natürlich habe ich das getan. Was blieb mir anderes übrig?« Sie riss sich zusammen und fuhr fort: »Ich hatte ihr einen Job als Aushilfe bei einer alten Frau besorgt. Da brauchte sie eigentlich kaum etwas zu tun, nur Mittagessen machen und für alle Fälle in der Nähe sein.«
[216] »Verstehe«, sagte Brunetti. »Und dann?«
»Ich bat sie, wenn um vier Uhr die Tochter der alten Frau nach Hause käme, solle sie sich bei mir melden, und sie sagte, das werde sie tun.«
»Und?«
»Als wir uns bei Costanza trafen, sagte ich ihr, wir müssten sie in eine andere Stadt bringen.«
»Hat sie Ihnen geglaubt?«
Sie zuckte die Schultern. »Keine Ahnung.«
»Und weiter?«
»Sie ist in ihr Zimmer gegangen und hat gepackt.«
»Standen Sie daneben?«
»Nein. Wir haben im Wohnzimmer gewartet, während sie ihren Koffer gepackt hat.«
Sie wollte noch etwas sagen, aber etwas in Brunettis Miene ließ sie verstummen.
»Sie hat keinen Verdacht geschöpft?«, fragte Brunetti.
»Das weiß ich nicht. Ist mir auch egal.«
»Und was war dann?«
»Sie kam mit ihrem Koffer, verabschiedete sich von Costanza, gab ihr den Schlüssel, und dann haben wir die Wohnung verlassen.«
»Und weiter?«
»Wir haben das Vaporetto zum Bahnhof genommen, sind zusammen zum Fahrkartenschalter gegangen, und ich habe sie gefragt, wo sie hinmöchte.«
»Sie wusste also inzwischen, was los war?«
»Das nehme ich an«, sagte Signora Orsoni; ihre ausweichende Art regte Brunetti allmählich auf.
»Und?«
[217] »Ich habe ihr ein Ticket für den letzten Zug nach Rom gekauft. Der fährt kurz vor halb acht.«
»Haben Sie sie in den Zug einsteigen sehen?«
»Ja.«
»Haben Sie gewartet, bis er abgefahren ist?«
Sie ließ ihrer Entrüstung freien Lauf. »Natürlich habe ich das. Aber was weiß ich - sie könnte ja in Mestre schon wieder ausgestiegen sein.«
»Aber den Schlüssel hatte sie zurückgegeben?«
»Costanza hat nicht mal drum bitten müssen«, sagte sie, und beinahe zufrieden: »aber vielleicht hat sie eine Kopie anfertigen lassen.«
Brunetti ließ das unkommentiert.
»Wie heißt sie?«, fragte er.
Er sah sie zögern; wenn sie jetzt nicht antwortete, würde er sie zur Vernehmung auf die Questura bringen. »Ich will auch wissen, wie der Mann heißt. Der Sizilianer«, setzte er nach.
»Gabriela Pavon und Nico Martucci.«
»Ich danke Ihnen«, sagte Brunetti und stand auf. »Falls ich weitere Informationen brauche, werde ich Sie in die Questura bestellen.«
»Und wenn ich nicht kommen will?«, fragte sie.
Brunetti sparte sich die Antwort.