[123] 12

Sind Sie je dahintergekommen, was sie gemacht hat?«, fragte Brunetti schließlich.

»Da gibt es nicht viel zu verstehen, oder?«

»Wie meinen Sie das?«, fragte Brunetti.

»Na ja, ich nehme an, sie hat in ihrer Wohnung Frauen aufgenommen, denen von irgendwo Gefahr drohte.« Sie kam seiner Frage zuvor: »Von ihren Partnern oder Ehemännern, oder bei diesen Frauen aus dem Osten vielleicht von den Männern, denen sie gehören.«

»Gehören?«

»Sie sind Polizist. Davon sollten Sie doch etwas verstehen«, sagte sie so provozierend, dass die beiden überrascht aufsahen. Dann fuhr sie ruhiger fort: »Das konnten doch nur Prostituierte sein, oder? Diese Alessandra oder Alexandra war keine Italienerin, sie konnte sich kaum verständlich machen. Verheiratet war sie bestimmt nicht. Aber Angst hatte sie, furchtbare Angst, dass der, der ihr die Nase gebrochen hatte, noch einmal kommen und sein Werk vollenden würde. Deswegen ist sie dann wohl auch verschwunden.«

»Hat Ihre Nachbarin«, fing Brunetti an, »seit der Zeit, als Ihnen die Besucherinnen zum ersten Mal aufgefallen sind, einmal etwas gesagt, woraus man schließen könnte, dass sie sich bedroht fühlte?«

Sichtlich um Geduld bemüht, sagte Signora Giusti: »Wie gesagt, Commissario, Costanza lebte sehr zurückgezogen. [124] So etwas hätte sie sich nie anmerken lassen. Das war nicht ihre Art.«

»Nicht einmal im Scherz?«, fragte Vianello dazwischen.

»Über solche Dinge scherzt man nicht«, entgegnete Signora Giusti heftig.

Das sah Brunetti ganz anders; er kannte zahlreiche Beweise für die Fähigkeit des Menschen, sich über alles Mögliche lustig zu machen, auch über die schlimmsten Dinge. Er sah das als eine völlig legitime Art an, den Schrecken zu beschwören. In dieser Beziehung bewunderte er die Briten, die mit ihrem Sarkasmus, ihrem Galgenhumor, dem Tod tollkühn die Stirn boten.

»Signora«, fragte er, »haben Sie daraus für sich irgendwelche Schlüsse gezogen?« Zur Verdeutlichung fügte er hinzu: »Ich frage nach Ihrem allgemeinen Eindruck, was da vor sich gegangen sein könnte.«

Aus irgendeinem Grund machte seine Frage sie merklich ruhiger. Ihre Schultern entkrampften sich. »Sie hat getan, was sie für richtig hielt, um diesen armen Frauen zu helfen.« Sie hob eine Hand, verließ das Zimmer und kam gleich darauf mit einem kleinen Zettel zurück, einem Einzahlungsbeleg von der Post. Sie reichte ihn Brunetti und nahm wieder auf dem Sofa Platz.

»Alba Libera«, las er und fragte sich, was das für eine Morgenröte sein mochte, mit der sie sich da eingelassen hatte.

»Ja«, sagte sie und tat die Plumpheit des Namens mit einer Handbewegung ab. »Der Name dient wohl eher der Verschleierung.«

»Und wer sind die?«, erkundigte sich Brunetti: Das war nicht die Organisation, die Signorina Elettra ermittelt hatte.

[125] »Ein Verein für Frauen. Nicht auf Profit ausgerichtet«, sagte sie und wies auf die Abkürzung hinter dem Namen.

Brunetti verkniff sich die Bemerkung, dass eine solche Abkürzung keine Garantie für Steuerehrlichkeit darstellte, und fragte stattdessen: »Und was macht diese Organisation?«

»Das Gleiche wie Costanza. Sie helfen Frauen, die davongelaufen sind oder sich absetzen wollen. Die haben eine Hotline, die rund um die Uhr besetzt ist. Und wenn eine Frau ernsthaft in Gefahr ist, besorgen sie ihr eine sichere Unterkunft.«

»Und dann?«, fragte der immer praktisch denkende Vianello.

Der kühle Blick, mit dem Signora Giusti dieser Frage zu begegnen trachtete, misslang ihr ein wenig. »Ihnen Unterschlupf gewähren ist doch schon mal ein Anfang, oder?«, erklärte sie. »Und dann versuchen sie, ihnen eine Wohnung in einer anderen Stadt zu besorgen. Und eine Arbeitsstelle.« Sie wollte noch etwas sagen, brach aber ab und meinte dann: »Und manchmal helfen sie ihnen auch, ihren Namen zu ändern. Legal.«

Brunetti nickte. »Und woher beziehen sie ihre finanzielle Unterstützung?«, fragte er. »Beziehungsweise, wie haben Sie von ihnen erfahren?«

Sie senkte den Kopf und betrachtete eingehend ihre Hände. »Ich habe einmal einen von Costanzas Briefen geöffnet«, sagte sie leise. »Versehentlich. Wir haben uns mit der Zeit angewöhnt, uns gegenseitig die Post unten aus dem Briefkasten zu bringen. Es gibt nur einen für alle vier Wohnungen. Wir tun das, damit unsere Briefe nicht mit denen für die anderen Mieter durcheinanderkommen. Oder von deren Kindern [126] genommen werden. Das ist ein paarmal passiert. Wer von uns also als Erste kommt«, erklärte sie, und Brunetti fiel auf, dass sie unversehens wieder ins Präsens zurückgefallen war, »nimmt die Post. Ich lege ihre auf die Matte vor ihrer Tür, und sie legt meine auf den Tisch neben ihrer Tür. Aber einmal - vor ein, zwei Jahren - habe ich einen ihrer Briefe aus Versehen zusammen mit meinen mit nach oben genommen und aufgemacht. Da war eine Broschüre drin, und die habe ich gelesen. Ziemlich schrecklich. Hinten war ein Einzahlungsformular dran«, sagte sie und zeigte auf die Quittung. »Und da stand ihr Name drauf.« Sie brach ab und senkte den Blick, Inbegriff eines schuldbewussten Schulmädchens. »Und dann habe ich ihren Namen auch auf dem Umschlag gesehen.«

»Was haben Sie getan?«, fragte Vianello.

»Ich habe auf sie gewartet, und als ich sie hörte, bin ich nach unten gegangen, habe ihr den Umschlag gegeben und erklärt, was passiert war. Sie hat mich seltsam angesehen: Irgendwie denke ich, sie hat mir nicht geglaubt. Aber dann nahm sie die Broschüre heraus - ich hatte sie wieder reingesteckt, um nicht so neugierig zu erscheinen - und meinte, ich sollte mir das vielleicht mal durchlesen.«

Sie sah zwischen den beiden hin und her. »Jedenfalls habe ich denen dann etwas Geld überwiesen, und das tue ich jetzt immer noch, etwa alle sechs Monate. Die können es weiß Gott brauchen.«

»Verstehe«, sagte Brunetti. Plötzlich knurrte sein Magen. Wie in solchen Situationen üblich, taten alle so, als hätten sie nichts gehört. Er beugte sich vor und zog seine Brieftasche heraus, entnahm ihr eine seiner Visitenkarten und schrieb [127] seine Handynummer auf die Rückseite. »Signora«, sagte er, »das ist meine Privatnummer. Wenn Ihnen noch etwas einfällt oder falls irgendetwas passiert, das ich Ihrer Meinung nach wissen sollte, rufen Sie mich bitte an.«

Sie legte die Karte achtlos auf die Sofalehne und stand auf, brachte die beiden zur Tür, gab ihnen die Hand, wünschte einen guten Tag und machte hinter ihnen zu, kaum dass sie die Wohnung verlassen hatten.

»Und?«, fragte Vianello im Treppenhaus.

»Ein Beweis mehr, dass die Leute uns nicht trauen.«

»Dir und mir, oder der Polizei allgemein?«, fragte Vianello, als sie die letzte Treppe erreichten.

»Der Polizei«, antwortete Brunetti und zog die Haustür auf. Sie traten ins Tageslicht hinaus. »Ich denke, dir und mir vertraut sie. Sonst hätte sie uns nicht von dieser Sache mit Alba Libera erzählt.« Dann meinte er: »Komischer Name, oder?«

Vianello zuckte die Schultern. »Du meinst, weil er sich so hochtrabend anhört?«

Brunetti nickte. »Aber auch nicht mehr als Opus Dei, finde ich.«

Vianello fuhr sich lachend mit beiden Händen durchs Haar, als wollte er die Ereignisse des Vormittags von sich abstreifen. »Ich nehme die 51«, sagte der Ispettore. »Die ist schneller.«

Brunetti begriff erst mit einiger Verzögerung: Vianello wollte ihn nicht nach Rialto zurückbegleiten, wo er die Eins nach Castello nehmen könnte. Wie Brunetti zog es ihn zum Mittagessen nach Hause, und mit dem Boot, das um die Insel herum zur Anlegestelle Celestia fuhr, ging das am schnellsten.

[128] »Also bis später«, sagte Brunetti und machte sich auf den Heimweg. Während seine Füße sich um die Navigation kümmerten, ließ Brunetti sich noch einmal durch den Kopf gehen, was sie eben gehört hatten. Er gelangte aus der Calle Bernardo auf den Campo San Polo, war aber blind für alles und jeden, dachte nur an die junge Frau, die mit blutüberströmtem Gesicht auf dem Treppenabsatz gelegen hatte. Und er versuchte sich vorzustellen, wie sie dort hingekommen war und wohin sie gegangen sein mochte, nachdem Signora Giusti sie gefunden hatte.

Allein schon die Existenz des Mannes, der das Mädchen geschlagen hatte - Brunetti hegte keinen Zweifel am Geschlecht des Angreifers -, gab einen ersten Hinweis darauf, dass Signora Altavillas Engagement für die Unglücklichen nicht nur für helle Freude gesorgt haben könnte. Als ihm klar wurde, wie zynisch er seine Überlegungen formulierte, stöhnte Brunetti unwillkürlich auf, wie so oft, wenn ihm von seinen düsteren Gedanken selbst das Fürchten kam.

Angenommen, ihr Sohn hatte vom Kommen und Gehen dieser Mädchen und Frauen gewusst, so könnte das seine Nervosität erklären. Vielleicht hatte er seine Mutter davor gewarnt, die Frauen in ihrer eigenen Wohnung aufzunehmen: Brunetti fand es kaum denkbar, dass ein Sohn das nicht tun würde. Aber er lebte in Lerino, sie in Venedig, und daher dürfte sein Einfluss auf das, was sie tat oder nicht tat und wen sie in ihre Wohnung ließ oder nicht, relativ gering gewesen sein.

Vor seinem Haus angekommen, kreiselten seine Gedanken immer noch wie ein Aufziehspielzeug, das an eine Wand gelaufen war, sich aber auch davon nicht bremsen lassen [129] wollte: Signora Giustis Aussage über die Frauen, die in der Wohnung ein und aus gegangen waren, dazu die Erinnerung an Dottor Niccolini, wie er vor der Pathologie gewartet hatte, ließen ihn einfach nicht los. Gleichzeitig hatte er wie einen Tinnitus Pattas Mahnung im Ohr, die Öffentlichkeit so wenig wie möglich zu beunruhigen.

Jemand kam von hinten näher und wünschte einen guten Tag. Brunetti drehte sich um und grüßte Signor Vordoni, der seinen Schlüssel ins Schloss steckte, die Tür aufmachte und Brunetti den Vortritt ließ. Brunetti dankte, hielt seinerseits dem Älteren die Tür auf, schloss sie leise hinter ihm und ging erst einmal zum Briefkasten, um nicht mit Signor Vordoni die Treppe hinaufgehen zu müssen.

Der Briefkasten war leer, aber bis er ihn zugeklappt und wieder abgeschlossen hatte, war der Signore verschwunden. Brunetti ging nach oben, ohne den Essensgerüchen, die ihn auf jedem Absatz begrüßten, groß Beachtung zu schenken.

Erst als er seine Wohnung betrat und ihm die Düfte von Kürbis und Huhn in die Nase stiegen, fand er sein Interesse an Nahrung und den Düften wieder, die sie verströmte.

Paola saß am Küchentisch, in eine Zeitschrift vertieft: Im Lauf der Jahre hatte sie sich angewöhnt, Hefte und Zeitungen in der Küche zu lesen, Bücher in ihrem Arbeitszimmer und im Bett. »Streik an der Uni?«, fragte er, während er sich bückte und ihr einen Kuss gab. Sie drehte sich bei seinen Worten um, so dass sein Kuss nicht auf ihrem Scheitel, sondern auf ihrem Ohr landete. Beide störten sich nicht daran.

»Nein«, antwortete sie. »Heute kam nur ein einziger meiner Studenten, da habe ich die Stunde ausfallen lassen und bin nach Hause gegangen.« Sie legte die aufgeschlagene Zeitschrift [130] auf den Tisch, und Brunetti sah so etwas wie einen weißen Wirbelsturm, der fast die ganze obere Hälfte der linken Seite einnahm. »Was ist das?«, fragte er, nahm die Zeitschrift und hielt sie so weit von sich weg, wie seine Sehkraft es inzwischen verlangte. Paola reichte ihm ihre Lesebrille; er klappte einen Bügel ein und hielt sich die Gläser vor die Augen. »Hühner?«, fragte er. Er sah genauer hin. Hühner.

Er ließ die Zeitschrift auf den Tisch sinken und gab ihr die Brille zurück. »Worum geht es?«

»Einer der üblichen Horrorartikel, den man am besten gar nicht erst angefangen hätte, dann aber unbedingt zu Ende lesen muss. Was man denen antut.«

»Es geht um Hühner? Horrorhühner?«, fragte er und lauschte dem verheißungsvollen Brutzeln, das aus dem Backofen drang.

»Chiara hat es mitgebracht, ich soll das lesen.« Paola stützte ihren Kopf auf eine Hand und fragte: »Meinst du, das ist auch ein Zeichen dafür, dass sie unserem Einfluss entwachsen sind?«

»Was?«

»Wenn sie einen nicht mehr bitten, etwas zu lesen, sondern sagen, man soll das lesen?«

»Schon möglich«, sagte er und ging zum Kühlschrank auf der Suche nach etwas, das den Hühnerhorror dämpfen könnte. In einer der Schubladen unten entdeckte er ein paar Flaschen Moët. »Woher kommt der Champagner?«, fragte er.

»Von einem meiner Studenten«, antwortete sie.

»Wie bitte?«

»Ja. Er hat vor ein paar Tagen das Examen geschafft und mir ein paar Flaschen geschickt.«

[131] »Warum?«

»Ich habe seine Dissertation betreut. Eine hervorragende Arbeit, es ging um die Metaphorik des Lichts im Spätwerk.« Brunetti schreckte auf: Jetzt hieß es, schnellstens einzugreifen. Wenn er nicht sofort etwas unternahm und sie von diesem Thema abbrachte, würde er sich einen unabsehbar langen Vortrag darüber anhören müssen, was irgendein von seiner werten Gattin betreuter Student über die Lichtmetaphorik im Spätwerk von Henry James geschrieben hatte. Angesichts der Tatsache, dass er sich erst kürzlich einer Unterredung mit Vice-Questore Giuseppe Patta hatte unterziehen müssen und gestern nur drei tramezzini - eines durch Mundraub ergattert - zu Mittag gegessen hatte, fand er, dass er keine Zeit verlieren durfte.

»Wie viele Flaschen hat er dir geschickt?«, fragte er, um Zeit zu gewinnen.

»Ein paar Kisten.«

»Was?«

»Ein paar Kisten. Drei oder vier, ich weiß nicht mehr.«

So ist das, dachte Brunetti, wenn man aus einer adligen Familie stammt, die nicht nur eine lange Ahnenreihe, sondern auch enorme Reichtümer besitzt: Man verliert den Überblick, wie viele Kisten Moët man von einem Studenten geschickt bekommen hat.

»Das ist Bestechung«, erklärte er, den bösen Polizisten spielend.

»Was?«

»Bestechung. Ich bin schockiert, dass du so was annimmst. Hoffentlich hast du ihm keine gute Note für seine Dissertation gegeben.«

[132] »Die beste. Die Arbeit war ausgezeichnet.«

Brunetti vergrub stöhnend sein Gesicht in den Händen. Er zog eine Flasche heraus, nahm zwei Gläser aus dem Schrank und stellte sie mit viel Getöse auf den Tisch. Dann wandte er sich der Flasche zu und riss die Goldfolie ab. Er zielte mit dem Korken in die hintere Ecke und ließ ihn knallen: Die Explosion schallte durchs ganze Haus und wärmte sein Herz.

Da er die Flasche geschüttelt hatte, schäumte der Champagner nur so heraus und strömte ihm über die Hand. Eilends goss er etwas in das erste Glas, das gleich überlief, dann ins zweite, wo dasselbe geschah. Um die Gläser breiteten sich zwei kleine Pfützen aus.

»Schnell, schnell«, sagte er und reichte ihr ein Glas. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, stieß er mit ihr an, sagte »Cin, cin« und nahm einen großen Schluck. »Ah«, sagte er, wieder mit der Welt versöhnt. Dann trank er aus.

»Was hast du?«, fragte Paola und nahm nun selbst ein Schlückchen. »Was tust du da?«

»Beweismittel vernichten.«

»Ach, du bist albern, Guido«, sagte sie, und vor Lachen stieg ihr der Champagner in die Nase, und sie musste husten.

Vielleicht lag es am Champagner oder am Lachen oder an beidem, jedenfalls verlief das Mittagessen dann sehr behaglich. Chiara schien zufrieden, als ihre Mutter ihr versicherte, das Huhn sei ein freilaufendes Biohuhn gewesen und habe ein gesundes, glückliches Leben gehabt, und Brunetti, stets um Frieden bemüht, verkniff sich die Frage, woran man denn erkennen könne, ob ein Huhn glücklich gewesen war oder nicht.

[133] Chiara aß natürlich keinen Bissen von dem Huhn, ließ sich aber von den Versicherungen ihrer Mutter hinsichtlich der Lebensweise dieses speziellen Vogels so weit in ihren vegetarischen Grundsätzen beschwichtigen, dass sie die anderen Familienmitglieder nicht mit Kommentaren zu dem überaus widerwärtigen Akt provozierte, welchen der Verzehr besagten Huhns für sie darstellte. Ihrem Bruder Raffi lag nicht das Glück des Huhns, sondern nur sein Geschmack am Herzen.

Als sie danach zum Kaffee ins Wohnzimmer gingen, fragte Brunetti, zutiefst erleichtert, dass niemand sich nach Signora Altavilla erkundigt hatte: »Was machen sie denn nun mit diesen Hühnern?«

»Nicht mit dem, das wir gegessen haben, vergiss das nicht«, sagte Paola.

»Also war das keine Lüge?«

»Was?«

»Das mit dem Biohuhn?«

»Nein, natürlich nicht«, sagte Paola noch nicht entrüstet, aber kurz davor.

»Warum?«

»Weil die anderen mit Hormonen und Chemie und Antibiotika und weiß Gott was sonst noch vollgestopft sind, und wenn ich schon Krebs kriege, dann lieber davon, dass ich zu viel Rotwein getrunken oder zu viel Butter gegessen habe, und nicht, weil ich zu viel Fabrikfleisch zu mir genommen habe.«

»Glaubst du das wirklich?«, fragte er neugierig, nicht skeptisch.

»Je mehr ich lese«, sagte sie und drehte sich auf dem Sofa [134] zu ihm um, »desto mehr bin ich davon überzeugt, dass vieles von dem, was wir essen, in irgendeiner Weise verunreinigt ist.« Sie nahm ihm seinen Einwand aus dem Mund: »Ja, Chiara übertreibt ein wenig, aber im Prinzip hat sie recht.«

Brunetti schloss die Augen und ließ sich in das Sofa sinken. »Anstrengend, sich ständig über diese Dinge Sorgen zu machen«, sagte er.

»Ja, allerdings«, stimmte Paola zu. »Aber immerhin leben wir im Norden, da sind wir weniger gefährdet.«

»Gefährdet?«, fragte er.

»Du hast die Zeitungen gelesen, du weißt, wie es da unten zugeht«, sagte sie. Offenbar nicht geneigt, sich so kurz nach dem Essen über dieses Thema näher auszulassen, nahm Paola, wie er aus dem Augenwinkel sah, ihre Brille und wandte sich dem Buch zu, das sie aus ihrem Arbeitszimmer mitgebracht hatte.

Brunetti setzte sich wieder auf und griff nach seinem eigenen Buch: Tacitus’ Annalen, die er seit mindestens zwanzig Jahren nicht mehr gelesen hatte. Und die er jetzt mit der Aufmerksamkeit eines Mannes las, der um eine Generation älter geworden war. Was Tacitus über die barbarischen Zustände seiner Zeit schrieb, schien Brunetti auch auf die Gegenwart zuzutreffen. Eine von Korruption verseuchte Regierung, die Macht in der Hand eines einzigen Mannes konzentriert, Geschmack und Moral fast bis zur Unkenntlichkeit verdorben: Wie vertraut das alles klang.

Sein Blick fiel auf folgenden Satz: »Betrügereien, die, wie oft auch unterdrückt, stets durch tausendfache Künste wieder auflebten.« Er legte sein Lesezeichen ein und klappte das Buch zu. Diesen Nachmittag würde er nicht zur Arbeit [135] zurückkehren, sondern stattdessen selbst ein wenig mogeln und einen ausgedehnten Spaziergang unternehmen, vielleicht in Gesellschaft seiner werten Gattin.