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Kaum war er zurück auf der Straße, streifte Brunetti den gereizten Bürokraten wieder ab und bereute sein überstürztes Verhalten. Das Theater hätte er sich sparen können, diesen plumpen Auftritt, aber irgendwie hatte er das Gefühl, der Mann solle besser nichts davon ahnen, dass die Behörden sich für das Pflegeheim oder die Leute darin interessierten. Daher hatte er, ohne lange zu überlegen, dem Impuls nachgegeben, sein wahres Anliegen zu verschweigen: Sollte er mit dem Alten jemals in seiner Eigenschaft als Vertreter des Gesetzes zu tun bekommen, konnte sein Verwirrspiel allerdings zu juristischen Scherereien führen. Er hatte Prozesse erlebt, die an geringeren Lappalien gescheitert waren.

Doch wie kam er darauf, an einen Prozess zu denken? Was war denn passiert? Ein alter Choleriker hatte ihn angefaucht, und eine geistig nicht unbedingt zurechnungsfähige Frau hatte ihn vor Problemen gewarnt. Wann gab es die nicht?

Der alte Mann bemerkte einen Fremden in ihrem Zimmer und witterte Unheil, weil er annahm, dass Brunetti Fragen gestellt hatte. Wozu diese Aufregung? Brunetti ließ die Szene vor seinem inneren Auge noch einmal ablaufen. Er hatte erklärt, es sei unmöglich, irgendwelche Auskünfte von ihr zu erhalten. Der Zorn des Mannes war jedoch erst verraucht, als sich die Möglichkeit abzeichnete, dass die Frau Geld bekommen könnte.

[188] Brunetti gestattete sich selten den Luxus, Leute, die er im Zusammenhang mit seiner Arbeit kennenlernte, unsympathisch zu finden. Natürlich sammelte er erste Eindrücke, manchmal sehr starke. Und häufig waren sie korrekt, aber nicht immer. Im Lauf der Jahre hatte er gelernt, dass die negativen seltener zutrafen als die positiven: Es war zu einfach, sich von seiner Abneigung leiten zu lassen.

Aber wenn er eins hasste, dann waren es Grobiane. Ihr arrogantes Verhalten, und dass sie nichts anderes im Kopf hatten, als andere zu unterwerfen. Nur ein einziges Mal in seinem Berufsleben hatte er die Beherrschung verloren, vor fast zwanzig Jahren, bei der Vernehmung eines Mannes, der eine Prostituierte zu Tode getreten hatte. Seine Initialen waren in das leinene Taschentuch gestickt, mit dem er sich das Blut von den Schuhen gewischt und das er dann nicht weit von der Leiche der Frau weggeworfen hatte.

Für die Vernehmung des Mannes, eines Steuerberaters, der zusammen mit einem Zuhälter mehrere Mädchen auf den Strich geschickt hatte, waren zum Glück drei Beamte eingeteilt worden. Als sie ihn aufforderten, das Taschentuch als seines zu identifizieren, war keinem der Polizisten entgangen, dass er ein identisches Tuch in seiner Brusttasche trug.

Sobald dem Verhörten aufging, welche Konsequenzen die Sache mit den Taschentüchern für ihn haben konnte, erklärte er - von Mann zu Mann, also mal unter uns, Leute, nur damit ihr wisst, was für ein harter Kerl ich bin -: »Das war doch bloß ’ne Nutte. Hätte kein Leinentaschentuch an die verschwenden sollen.« An dieser Stelle sprang der jüngere, noch unerfahrene Brunetti auf und wollte ihm an die Gurgel. Klügere Kollegen warfen sich dazwischen und zogen [189] Brunetti auf seinen Stuhl zurück, wo er dann bis zum Ende des Verhörs schweigend sitzen blieb.

Das waren noch andere Zeiten damals, und sein Ausbruch blieb ohne juristische Folgen. Im heutigen Klima jedoch - käme es je zu einem Verfahren gegen den alten Mann - wäre ein unbedachter Schritt für jeden Verteidiger ein gefundenes Fressen, sowie sich herausstellte, was Brunetti von Beruf war.

Gedankenverloren ging Brunetti zur Questura zurück und dort direkt in Signorina Elettras Büro; sie las gerade, aber keine Zeitschrift wie sonst in müßigen Momenten, sondern ein Buch.

Signorina Elettra schob einen Zettel zwischen die Seiten und klappte das Buch zu. »Wenig zu tun heute?«, erkundigte er sich.

»So könnte man es nennen, Commissario«, antwortete sie und legte das Buch mit dem Titel nach unten neben ihren Computer.

Er trat vor ihren Schreibtisch. »Ich habe heute eine der Frauen kennengelernt, die Signora Altavilla in der casa di cura oft besucht hat ...«

»... und möchte Sie bitten, einmal nachzusehen, was wir über sie herausfinden können«, beendete sie den Satz für ihn, als könne sie seine Gedanken lesen; aber seine Stimme imitierte sie nicht.

»Ist das so offensichtlich?«, fragte er lächelnd.

»Sie haben dann immer diesen Raubtierblick.«

»Und weiter?«

»Normalerweise beschränken Sie sich nicht auf eine einzelne Person, Signore, also werde ich auch nachsehen, was ich [190] über ihren Mann und womöglich vorhandene Kinder herausfinden kann.«

»Sartori. Ihren Vornamen weiß ich nicht, und ich weiß auch nicht, wie lange sie schon dort ist. Aber bestimmt schon ein paar Jahre. Ihr Mann ist ein cholerischer Hitzkopf. Wie er heißt, weiß ich nicht, und von Kindern weiß ich auch nichts.«

»Meinen Sie, sie ist da als Privatpatientin?«, fragte Signorina Elettra zu seiner Verwunderung.

»Ich habe keine Ahnung«, sagte er. Er vergegenwärtigte sich - ein gewöhnliches Zimmer in einem Altersheim. Keine Spur von Luxus, keine persönlichen Gegenstände. »Warum? Was macht das für einen Unterschied?«

»Wäre sie auf Staatskosten da, würde ich mir als Erstes die amtlichen Unterlagen vornehmen, bei einer Privatpatientin könnte ich mir Zugang zu den Akten der casa di cura verschaffen.« Allein das Wort »Zugang« von den Lippen Signorina Elettras versetzte Brunetti in einen Zustand ähnlich dem eines Kaninchens beim Anblick einer Boa Constrictor.

»Was wäre einfacher?«, fragte er, wobei er Wörter wie »Zugang« oder »verschaffen« bewusst vermied.

»Die casa di cura natürlich«, sagte sie mit der Herablassung eines Schwergewichtschampions, der von einem Türsteher herausgefordert wird.

»Und das andere?«, fragte er, neugierig wie immer, wie viel Wert der Staat auf den Schutz und die Exaktheit der Informationen legte, die er über seine Bürger besaß.

Über die Frage konnte sie nur seufzend den Kopf schütteln. »Bei Regierungsstellen«, sagte sie abfällig, »besteht das Problem nicht darin, ins System hineinzukommen - das ist [191] in den meisten Fällen ein Kinderspiel sondern herauszufinden, wo die Informationen abgelegt sind.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich den Unterschied verstehe«, gab Brunetti zu.

Sie überlegte, wie sie das jemandem mit seinen beschränkten Talenten verständlich machen könnte. »Das ist so ähnlich wie bei einem Einbruch, Signore. Ins Haus einzudringen ist einfach, besonders wenn die Tür nur ins Schloss gefallen ist. Aber wenn Sie einmal drin sind, müssen Sie feststellen, dass die Bewohner unordentliche Leute sind: schmutziges Geschirr im Schlafzimmer, alte Schuhe und Zeitungen in der Küche.« Als sie merkte, dass er zu begreifen begann, fuhr sie fort: »Und in diesem Durcheinander leben sie von Beginn an, das heißt, alles, was sich im Lauf der Jahre angesammelt hat, ist zu einem undurchdringlichen Chaos geworden, und selbst wenn man nur so etwas Simples wie einen Teelöffel braucht, muss man das ganze Haus absuchen, Zimmer für Zimmer.«

Nicht dass er das unbedingt wissen wollte, aber ihre Erklärung drängte ihm die Frage auf: »Geht es in allen öffentlichen Ämtern so zu?«

»Zum Glück nicht, Commissario.«

»Welche sind die Besten?«, fragte er, ohne sich der Zweideutigkeit bewusst zu sein.

»Oh«, sagte sie. »Von ›Besten‹ kann keine Rede sein; es gibt nur welche, die weniger schlecht sind.« Als er damit nicht zufrieden schien, meinte sie: »Herauszufinden, wer einen Pass bekommen hat, ist normalerweise einfach. Oder einen Waffenschein. Diese Akten werden in Ordnung gehalten. Aber ab da wird es verworren, kein Mensch weiß, wer einen permesso [192] di soggiorno oder eine Arbeitserlaubnis hat, und niemand kennt die Vorschriften oder Kriterien, nach denen sie vergeben werden.«

Da all dies in die Zuständigkeit des Ministeriums fiel, für das Brunetti arbeitete, überraschte es ihn kaum. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen und fragte: »Und die Schlimmsten?«

»Das kann ich nicht wirklich beurteilen«, sagte sie mit bewundernswert geheuchelter Bescheidenheit, »aber die, wo ich mich am schlechtesten, na ja, zurechtfinde - auch wenn es noch so leicht ist, dort hineinzukommen -, das sind die Ämter, die irgendwelche Zulassungen erteilen, oder vielleicht sollte man besser sagen, die Behörden, die uns eigentlich beschützen sollen.« Als sie sein Stirnrunzeln sah, erklärte sie: »Ich meine die Ämter, die zum Beispiel überprüfen sollen, ob Krankenschwestern die richtigen Diplome haben oder ob sie ihre Ausbildung wirklich an der von ihnen angegebenen Schule gemacht haben. Oder auch Ärzte, Psychiater und Zahnärzte.« Sie sprach so leidenschaftslos wie ein frustrierter Forscher, der seine Ergebnisse mitteilt. »Dort herrscht eine erschreckende Verwahrlosung. Wie gesagt, in deren Computer zu gelangen, ist ganz einfach, aber danach wird es äußerst schwierig.« Barmherzig und großmütig wie immer meinte sie dann noch: »Für die Leute dort natürlich auch, die Ärmsten.«

Brunettis Familie sah gelegentlich ein Fernsehmagazin, das sich der Aufdeckung besonders krasser Fälle staatlicher Nachlässigkeit widmete. Aus Gründen, die er nicht nachvollziehen konnte, fanden seine Kinder das herrlich komisch, während er und Paola nicht fassen konnten, mit welcher [193] Gleichgültigkeit die Behörden auf den Vorwurf reagierten, bestimmte Missbrauche nicht bemerkt oder nicht abgestellt zu haben. Wie viele falsche Ärzte hatte man nicht schon entlarvt, wie viele Scharlatane? Und wie viele von ihnen hatten danach einfach weitermachen dürfen?

Brunetti verscheuchte diese Gedanken. »Ich wäre sehr dankbar für alles, was Sie über die Frau oder ihren Mann herausfinden könnten.«

»Selbstverständlich, Signore«, atmete Signorina Elettra auf, weil das Gespräch über ihre Forschungen im Cyberspace damit offenbar beendet war. »Ich werde sehen, was sich machen lässt.« Und dann wieder ganz sachlich: »Wie weit zurück soll ich gehen?«

»Bis Sie auf etwas Interessantes stoßen«, sagte er leichthin, doch irgendwie war es gar nicht lustig. Also machte er sich auf den Weg in sein Büro.

Kaum saß er am Schreibtisch, bekam Brunetti Hunger; er sah auf die Uhr: schon nach drei, wie er überrascht feststellte. Er rief zu Hause an, niemand meldete sich, und er legte auf, bevor sich der Anrufbeantworter einschaltete. Paola nahm grundsätzlich kein Handy mit, und die Kinder, beide wahrscheinlich wieder in der Schule, wären sowieso keine Hilfe. Er konnte versuchen, Paola in ihrem Büro zu erreichen, nur dass sie selten ans Telefon ging: Ihre Studenten wussten, wo sie zu finden war, und Kollegen, die sie sprechen wollten, konnten die paar Meter zu ihrem Büro auch zu Fuß gehen.

Er überlegte, ob er noch einmal zu Hause anrufen und doch noch eine Nachricht hinterlassen sollte, aber das würde auch nichts daran ändern, dass er wieder einmal nicht zum [194] Mittagessen aufgetaucht war und vergessen hatte, wenigstens Bescheid zu sagen. Wenn die Kinder sich das erlauben würden, bekämen sie es noch tagelang zu hören.

Sein Telefon läutete, und er meldete sich mit seinem Namen.

»Hier spricht Maddalena Orsoni. Ich bin früher zurück als geplant.«

Normalerweise hätte Brunetti darauf mit irgendeiner Floskel reagiert, etwa, dies sei doch hoffentlich nicht einem bedauerlichen Zwischenfall zuzuschreiben, aber Maddalena Orsoni schien ihm nicht die Frau zu sein, der man mit Gemeinplätzen oder Sentimentalitäten kommen konnte, also fragte er nur: »Können wir uns jetzt gleich treffen?«

Ihm fiel auf, dass sie beide das eigentliche Thema unerwähnt ließen. Er war Staatsdiener und brauchte Informationen, und doch vermied er es instinktiv, am Telefon irgendwelche konkreten Fragen zu stellen. Wie leicht Venedig es einem machte, sich wie zufällig in einer calle zu begegnen und auf einen Plausch in eine Bar zu gehen.

»Ja«, antwortete sie schließlich.

»In einer Bar?«

»Sicher.«

»Ich weiß nicht, wo Sie gerade sind«, sagte er, »aber ich bin in der Nähe von San Lorenzo. Also sagen Sie mir, wo es Ihnen am besten passt. Ich komme dann dorthin.«

Sie dachte kurz nach und sagte dann: »Am Ende der Barbaria delle Tole am Campo Santa Giustina gibt es eine Bar, an der Ecke links, wenn Sie von SS. Giovanni e Paolo kommen. In zehn Minuten kann ich dort sein.«

»Also bis gleich«, sagte er und legte den Hörer auf.