[162] 16

Sie nannte ihm nicht nur die Namen, sondern auch die Zimmernummern. Zwei Frauen und ein Mann, alle über achtzig und einer der drei geistig nicht mehr ganz auf der Höhe, wie sie es ausdrückte. Brunetti hatte den Eindruck, sie wolle das nicht näher erläutern, und beließ es dabei. Er dankte ihr und fragte, ob es möglich sei, jetzt gleich mit ihnen zu sprechen.

»Versuchen können Sie es«, sagte die Oberin. »Wir haben Mittag, und für viele unserer Bewohner sind die Mahlzeiten das wichtigste Ereignis des Tages; ich fürchte, sie werden sich erst auf Ihre Fragen konzentrieren können, wenn sie damit fertig sind.« Das erinnerte ihn an seine Mutter, an die Zeit ihres Verfalls, als sie nur noch ans Essen denken konnte und trotzdem immer weiter abmagerte, egal, was sie zu sich nahm. Dann aber hatte sie eines Tages einfach vergessen, was Essen war, und musste ständig daran erinnert und schließlich beinahe dazu gezwungen werden.

Als sie ihn seufzen hörte, meinte sie: »Wir tun all das aus Liebe zum Herrn und aus Liebe zu unseren Mitmenschen.«

Er nickte beklommen, und sie bemerkte: »Ich weiß nicht, wie auskunftsfreudig die Leute sein werden, wenn sie erfahren, dass Sie Polizist sind. Vielleicht sollten Sie nur sagen, Sie seien ein Freund von Costanza.«

»Mehr nicht?«, fragte er lächelnd.

»Das reicht doch«, sagte sie, ohne sein Lächeln zu erwidern. »Schließlich ist es nicht direkt gelogen, oder?«

[163] Brunetti stand auf, ohne auf ihre Frage einzugehen. Er bückte sich und reichte ihr die Hand. Sie drückte sie kurz und sagte: »Wenn Sie hier aus der Tür kommen, gehen Sie nach links bis zum Ende des Flurs und dort nach rechts. Da ist der Speisesaal.«

»Ich danke Ihnen, Madre«, sagte er.

Sie nickte und wandte sich wieder ihrem Buch zu. Am liebsten hätte er sich an der Tür schnell umgewandt, ob sie ihn beobachtete, ließ es aber sein.

Brunetti brauchte keine polizeilichen Ermittlungsmethoden, um festzustellen, was es zu Mittag gab: Schweinebraten und Kartoffeln. Das hatte er schon beim Betreten des Gebäudes gerochen. Wie verheißungsvoll sie duften konnten, erkannte er, als er jetzt an der Küchentür vorbeikam.

Sechs oder sieben Tische, die Hälfte davon klein und nur für ein, zwei Personen gedeckt, standen an den Fenstern, die auf den campo hinaussahen. Etwa ein Dutzend Leute saßen dort, manche zu zweit, einmal zu viert, einige allein. Kein Tisch war unbesetzt. Auf allen Tischen standen Wein- und Mineralwasserflaschen, die Teller waren offenbar aus Porzellan. Köpfe wandten sich nach ihm um, als er den Raum betrat, dann aber erschienen hinter ihm zwei dunkelhäutige junge Frauen, gekleidet in eine ähnliche Tracht wie Madre Rosa und die ältere Nonne, nur schlichter. Kopftuch und Schleier der Ersten umrahmten die Mandelaugen und die lange gebogene Nase einer toltekischen Statue. Um die Lippen in ihrem mahagonifarbenen Gesicht zog sich eine schmale Linie hellerer Haut, die das natürliche Rot noch konturierte. Brunetti ließ sie nicht aus den Augen, bis sie sich ihm zuwandte, dann tat er, [164] was er immer tat, wenn ein Verdächtiger ihn ansah: Er schaute in die Ferne, ließ den Blick durch den Raum schweifen, als sei sie gar nicht da oder als schenke er ihr keinerlei Beachtung.

Die zwei Novizinnen bewegten sich flink um die Tische herum und sammelten die Pastateller ein. Als sie an Brunetti vorbei damit zur Küche gingen, sah er dunkelgrüne Reste von Pesto, eine Sauce, die er noch nie gemocht hatte. Gleich darauf kamen die beiden mit je drei Tellern kleingeschnittenem Schweinefleisch, Karotten und Bratkartoffeln zurück, stellten sie vor die Leute an den ersten Tischen, verschwanden und erschienen alsbald mit den restlichen Tellern.

Das Stimmengewirr, das bei seinem Eintritt verstummt war, hob wieder an, und die Köpfe - die meisten weiß, einige aber trotzten dem Grau - beugten sich über das Essen. Gabeln klapperten, Flaschen stießen an Gläser; die üblichen Geräusche einer Mahlzeit.

Plötzlich erschien neben ihm die Nonne, die ihm die Haustür geöffnet hatte, und fragte: »Soll ich Ihnen die Leute zeigen, Signore?«

Brunetti nahm an, dass die Oberin sie geschickt hatte. »Das wäre sehr freundlich, Suora.«

»Dottor Grandesso speist heute auf seinem Zimmer, Signora Sartori sitzt dort drüben am zweiten Tisch, die Frau im schwarzen Kleid. Und die Rothaarige bei den Leuten am Tisch daneben, das ist Signora Cannata.«

Brunetti sah sich nach den beiden Frauen um. Signora Sartori aß weit nach vorn gebeugt, den linken Arm um den Teller geschlungen, als fürchte sie, jemand könnte ihr das Essen wegnehmen. Er sah sie im Profil: den spitzen hohen Wangenknochen, das faltige Doppelkinn. Grellroter Lippenstift, [165] an den Rändern verschmiert. Ihre Haut schimmerte wie die Haut von Leuten, die nicht mehr ans Tageslicht kommen, in einem fahlen Grün, eine Fahlheit, die durch ihr tiefschwarzes schulterlanges Haar noch unterstrichen wurde.

Die knorrige Faust um die Gabel geklammert, schaufelte sie Kartoffeln in sich hinein. Brunetti bemerkte, dass man ihr den Braten in kleine Stücke geschnitten hatte. Nach den Kartoffeln schlang sie ebenso schnell die Karotten hinunter. Dann nahm sie ein Stück Brot, wischte damit die eine Hälfte ihres Tellers sauber, dann mit dem Rest des Brots die andere Hälfte. Anschließend aß sie noch zwei Scheiben Brot, und als nichts mehr da war, blieb sie einfach reglos sitzen. Eine der Novizinnen trug ihren Teller weg und musste sich dafür einen zornigen Blick gefallen lassen.

Brunetti ging auf die Frau mit den flaumigen roten Haaren zu. Die Novizinnen huschten an ihm vorbei und servierten jedem der drei Leute am Tisch ein Stück Apfelkuchen. Brunetti blieb kurz davor stehen und fragte vorsichtig: »Signora Cannata?«

Das Lächeln, mit dem sie zu ihm aufblickte, signalisierte automatische Flirtbereitschaft. Heftig zwinkernd hob sie eine Hand, wie um Brunetti auf Distanz zu halten, als sei sie ein Teenager und er der erste Junge, der ihr ein Kompliment gemacht hatte. Ihre Nase war schmal und fein gezeichnet, die Haut unter ihren Augen gestrafft und ein wenig heller als der Rest des Gesichts. Ihr Mascara war mit unbeholfener Hand aufgetragen, ebenso der Lippenstift, von dem Spuren an ihrer Serviette und in den Fältchen um ihren Mund zu sehen waren. Sie konnte sechzig sein; sie konnte ein Kind von sechzig Jahren haben.

[166] Die anderen am Tisch drehten sich zu ihm um, ein Mann mit schütterem weißem Haar und verdächtig schwarzem Schnurrbart, und eine blonde Frau, deren Gesicht und das, was Brunetti von ihrem Oberkörper sah, aus gegerbtem Leder zu sein schien. Ihr Kopf und auch ihre Hände bewegten sich fahrig zitternd hin und her.

Er nickte ihnen lächelnd zu. »Und Sie sind?«, fragte der Mann mit dem Schnurrbart.

»Guido Brunetti«, erklärte er und fügte bewusst sachlich hinzu: »Ein Freund von Costanza Altavilla.«

Ihre Augen blieben ausdruckslos, immerhin bezwang die Blonde ihr Zittern, zog die Mundwinkel nach unten, drehte den Kopf zur Seite und sagte: »Ah, povera donna«, und der Mann schüttelte den Kopf und machte ein schnalzendes Geräusch mit der Zunge. War das der Lauf der Dinge?, fragte sich Brunetti. Erreichten wir alle einen Punkt im Leben, wo uns der Tod anderer Menschen nicht mehr berührte und man von uns bestenfalls noch so etwas wie eine Nachahmung von Trauer, eine vermeintliche Betroffenheit erwarten konnte? Was er hier beobachtete, schien ihm weit mehr mit Missbilligung als mit Trauer gemein zu haben. Schande über den Tod, dass er sich am Fenster unseres Lebens zeigt; Schande über den Tod, der uns daran erinnert hat, dass er draußen auf uns lauert.

»Oh, ein Freund von Costanza«, seufzte Signora Cannata.

»Genauer gesagt von ihrem Sohn. Er hat mich gebeten, mit den Schwestern zu reden«, begann er wahrheitsgemäß und fuhr mit einer Lüge fort: »Er hat mich gebeten, dann auch gleich mit ein paar Leuten zu sprechen, die sie erwähnt hat, und ihnen zu sagen, dass sie sie sehr gern gehabt hat.«

[167] Signora Cannata führte die Hand zur Brust, als wolle sie fragen: »Wen? Meine Wenigkeit?«

Brunetti schenkte ihr ein gütiges Lächeln. »Ich hatte gehofft, Sie könnten mir Ihrerseits für ihren Sohn ein paar tröstliche Erinnerungen mit auf den Weg geben.«

Der Mann erhob sich unvermittelt, als habe er dieses sentimentale Getue satt. Auch die Blonde stand auf und hakte sich bei ihm unter. »Wir gehen jetzt Kaffee trinken«, erklärte sie Brunetti oder Signora Cannata oder - wer weiß - den himmlischen Heerscharen. Er nickte Brunetti zwar zu, machte aber keinerlei Anstalten, ihm die Hand zu geben, sondern wandte sich wortlos ab, und die Frau mit ihm.

Ohne die beiden zu beachten, fragte Brunetti: »Darf ich mich zu Ihnen setzen, Signora?« Als Signora Cannata lächelnd auf die freien Stühle zeigte, wählte er den links von ihr, auf dem vorher niemand gesessen hatte, und meinte, ebenfalls lächelnd: »Wie Sie sicher nachfühlen können, Signora, ist ihr Sohn sehr niedergeschlagen. Sie wissen ja, wie gut die beiden miteinander ausgekommen sind.«

Signora Cannata nahm ihre Serviette - aus Stoff, nicht aus Papier, wie Brunetti bemerkte -, legte sie sorgsam zusammen und betupfte mit einer sauberen Stelle vorsichtig den linken, dann den rechten Augenwinkel. »Es ist schrecklich«, sagte sie. »Aber ich nehme an, ihr Sohn - er ist doch Arzt? - hat gewusst, dass sie nicht bei guter Gesundheit war.« Sie bog die Mundwinkel nach unten. »Es war doch ein Herzversagen. Nicht wahr?«

»Ja, in der Tat. Wenigstens hat die Arme nicht leiden müssen«, sagte er, wobei er jenen pietätvollen Ton anschlug, den er aus seiner Kindheit kannte.

[168] »Dem Himmel sei Dank«, erwiderte sie. »Immerhin.« Unwillkürlich legte sie wieder die Hand auf ihre Brust, und diesmal hatte die Geste nichts Künstliches.

»Ich weiß von ihrem Sohn, dass sie oft von Ihnen erzählt hat. Und dass sie Freude daran hatte, mit Ihnen zu sprechen.«

»Oh, wie überaus schmeichelhaft«, sagte Signora Cannata. »Nicht dass ich viel zu erzählen hätte. Na ja, vielleicht, als ich jünger war und mein Mann noch lebte. Er war Steuerberater, müssen Sie wissen, und hat vielen wichtigen Leuten in der Stadt geholfen.«

Brunetti stützte behaglich sein Kinn in die rechte Hand, als sei er bereit, sich den ganzen Nachmittag lang von den buchhalterischen Triumphen ihres Mannes erzählen zu lassen. Und Signora Cannata enttäuschte ihn nicht: Ihr Mann hatte im Lauf seines Berufslebens nicht nur den Eigentümer einer Schifffahrtsgesellschaft davor bewahrt, zu viel Steuern zu zahlen, sondern auch einem berühmten Chirurgen geholfen, ein privates Abrechnungssystem für ausländische Patienten einzurichten, und obwohl die ganze Sache mit den Computern erst spät in seinem Leben angefangen hatte, war es ihm gelungen, die komplette Buchhaltung seines Büros noch darauf umzustellen.

Brunetti blieb die Höflichkeit in Person, nickte lächelnd zu jeder Großtat, die sie zu berichten hatte, und fragte sich, ob diese Frau jemals irgendwen in Gefahr hätte bringen können - außer sich selbst, wenn ihren Zuhörern die Geduldsschnur riss.

»Und wie lange halten Sie sich hier schon auf, Signora?«, erkundigte er sich.

[169] Ihr Lächeln wurde gezwungener. »Vor ein paar Jahren habe ich erkannt, dass ich hier viel mehr Freiheit haben würde. In Gesellschaft von Leuten meines Alters. Nicht mit Leuten aus der Generation meines Sohnes, oder gar noch jüngeren. Sie wissen ja, wie das ist, wie gefühllos die sein können«, erklärte sie und machte große runde Augen, um Ehrlichkeit und Offenherzigkeit zu demonstrieren und vor allem ihre große menschliche Wärme. »Im Übrigen hat jeder gern Leute um sich, mit denen er seine Erinnerungen teilen kann.« Sie lächelte, und Brunetti nickte so heftig Zustimmung, dass er plötzlich wieder hellwach war.

»Nun«, sagte er und erhob sich mit allen Anzeichen des Bedauerns. »Ich möchte Sie nicht länger aufhalten, Signora. Es war überaus großzügig von Ihnen, mir so viel Zeit zu widmen, ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll.«

»Nun ja«, sagte sie und setzte ein Lächeln auf, das kokett sein sollte, »Sie könnten mich zum Beispiel noch einmal besuchen.«

»Sie haben recht, Signora«, sagte Brunetti und reichte ihr die Hand. Sie hielt sie lange fest, und Brunetti überkam so etwas wie Mitgefühl. »Ich werde sehen, was ich tun kann.«

Ihr aufgeweckter Blick sagte ihm, dass sie beide sich nicht von seinen Worten täuschen ließen, aber entschlossen waren, ihre Rollen bis zum Ende der Szene weiterzuspielen. »Ich freue mich darauf«, sagte sie, zog ihre Hand zurück und legte sie zu der anderen in ihren Schoß.

Brunetti lächelte. Ihm war klar, dass er jetzt nicht einfach zu dem anderen Tisch gehen und mit Signora Sartori sprechen konnte, die sich, seit sie mit ihrem Kuchen fertig war, nicht von der Stelle gerührt hatte. Er ging auf den Flur hinaus [170] Richtung Küche. Eine Novizin kam ihm mit einem großen Tablett entgegen.

»Entschuldigen Sie«, sagte er, unsicher, wie er sie anreden sollte, »könnten Sie mir sagen, wo ich Dottor Grandesso finde?«

»Oh, der wohnt am Ende des Flurs, Signore, die letzte Tür rechts.« Sie sah an ihm vorbei und zeigte dorthin, als fürchte sie, er könne ihrer Wegbeschreibung nicht folgen.

»Vielen Dank«, sagte Brunetti und machte sich auf den Weg. Die letzte Tür rechts war zu, also klopfte er an. Er klopfte noch einmal, und da nichts geschah, machte er die Tür vorsichtig auf und rief ins Zimmer: »Dottor Grandesso?«

Er vernahm ein Geräusch. Vielleicht ein Wort, vielleicht ein Knurren, auf jeden Fall etwas, das Brunetti eindeutig als Einladung auffasste. Also trat er ein und sah als Erstes ein Bett und auf dem Kopfkissen einen Schädel. Doch an dem Schädel klebten Haarbüschel und faltige Haut. Die Decke spannte sich über eine schmale längliche Gestalt, am unteren Ende bildeten die Füße eine winzige Bischofsmitra. Und da waren auch Augen auf ihn gerichtet. Sie blinzelten nicht und regten sich nicht, stellten lediglich eine Verbindung zwischen ihm und dem Schädel her. Brunetti erkannte den Geruch wieder, den er im Zimmer seiner Mutter kennengelernt hatte.

»Dottor Grandesso?«, fragte Brunetti.

»Si«, antwortete der Schädel, ohne die Lippen zu bewegen, aber mit überraschend volltönender Stimme.

»Ich bin ein Freund von Signora Altavillas Sohn. Er hat mich gebeten, mit den Schwestern und auch mit den Leuten [171] zu sprechen, die seine Mutter am besten gekannt haben. Das heißt, falls es Ihnen nicht unangenehm ist.«

Die Augen blinzelten. Oder genauer, sie fielen zu, und als sie nach geraumer Zeit wieder aufgingen, hatten sie sich in die Augen eines Lebenden verwandelt und einen schmerzlichen Ausdruck angenommen. »Was ist passiert?«, fragte er mit seiner tiefen Stimme.

Als Brunetti sich dem Bett näherte, fühlte er sich förmlich durchbohrt von Dottor Grandessos Blicken, deren Intensität so gar nicht zu der leblos dort liegenden Gestalt zu passen schien. »Sie ist an einem Herzversagen gestorben«, sagte Brunetti. »Laut Obduktionsbericht ist es sehr schnell gegangen, so dass sie, wenn überhaupt, nur für kurze Zeit Schmerzen erlitten hat.«

»Rizzardi?«, fragte der Mann zu Brunettis Verblüffung.

»Ja. Sie kennen ihn?« Brunetti hatte nicht bedacht, dass Grandessos Doktortitel der eines Arztes sein konnte.

»Ich habe von ihm gehört. Früher, als ich noch gearbeitet habe. Zuverlässiger Mann«, sagte er. Jetzt bewegten sich seine Lippen beim Sprechen, und er sah Brunetti aufmerksam an, aber die Furchen in seinen Wangen blieben starr, der Ausdruck kam allein aus seinen Augen.

Seine Bemerkung über Rizzardi war überzeugend sachlich und anerkennend gewesen, wenn man auch kaum glauben mochte, dass solcher Nachdruck aus einem so ausgezehrten Körper kam. Jetzt schloss er die Augen wieder - schon wich alles Lebendige von ihm, und nichts blieb zurück als jener Schädel und die leblosen Stöcke unter der Bettdecke.

Um nicht zu stören, wollte Brunetti sich abwenden, doch das Fenster neben dem Bett ging auf eine schmale calle, und [172] er sah nur eine Hausmauer und Fensterläden. Er starrte so lange darauf, bis der Dottore fragte: »Haben Sie sie gekannt?« Leben und Interesse waren in seine Augen zurückgekehrt.

»Nein«, antwortete Brunetti, »nur ihren Sohn. Ich war bei ihm, als Rizzardi ...« Unschlüssig ließ er den Satz in der Luft hängen.

»Er hat mich gebeten, mit den Schwestern hier zu sprechen«, begann er von neuem. »Er sagte, seine Mutter sei immer sehr gern hierhergekommen. Und nachdem ich mit der Oberin gesprochen hatte, wollte ich auch noch die Leute kennenlernen, die sie besonders ins Herz geschlossen hatte.«

»Hat der Sohn unsere Namen gekannt?«, fragte er, und Brunetti hörte, wie erfreut er war.

Ihm lag die Lüge schon auf der Zunge, doch er brachte es nicht über sich. Stattdessen sagte er: »Das weiß ich nicht. Ich bin zu Ihnen gekommen, nachdem ich mit der Oberin gesprochen habe. Sie hat mir Ihren Namen genannt.«

Der Mann im Bett wandte den Kopf ab, eine Bewegung, die Brunetti überraschte. Aber seine Augen blieben offen, das völlige Verschwinden alles Lebendigen aus seinem Gesicht wiederholte sich nicht.

Dann sah er Brunetti wieder an und fragte ruhig: »Was möchten Sie wissen?«

Brunetti überlegte kurz, ob er vielleicht fragen sollte, wie er das meinte. Aber Dottor Grandesso sah ihn unverwandt an, und Brunetti erkannte, dass dieser Mann keine Zeit zu verschwenden hatte. Und dies war keine hohle Redensart. Der Doktor hatte eine Verabredung - nicht mit ihm und keine, die irgendjemand einhalten wollte, vor der sich aber niemand drücken konnte.

[173] »Ich möchte wissen, ob jemand Anlass gehabt haben könnte, ihr Schaden zuzufügen«, sagte Brunetti. Als er sich so reden hörte, überlief es ihn eiskalt, als habe man ihn aufgefordert, diesem Mann eine Münze in den Mund zu legen - als Bezahlung für seine Reise in die andere Welt -, oder schlimmer, als habe er ihm eine schwere Last aufgeladen, die er mit sich nehmen sollte.

»Wenn ich in der Lage wäre, Rizzardi anzurufen, würde er mir sagen, dass sie an einem Herzversagen gestorben ist?«, fragte der Doktor.

»Ja.«

Grandesso sah aus dem Fenster, als könnten die geschlossenen Fensterläden auf der anderen Seite der calle ihm weiterhelfen. »Sie sind kein religiöser Mensch, oder?«

»Nein.«

»Aber Sie sind fromm erzogen worden?«

»Ja«, musste Brunetti zugeben.

»Dann erinnern Sie sich an das Gefühl nach der Beichte - solange Sie noch daran geglaubt haben. Es war ein Hochgefühl - wenn man so sagen kann -, Scham und Schuld waren Ihnen genommen worden. Der Priester sprach seine Worte, Sie sprachen Ihre Gebete, und irgendwie war Ihre Seele wieder sauber und rein.«

Brunetti nickte. Ja, er erinnerte sich daran und war klug genug, über diese Erfahrung froh zu sein.

Der andere sah ihm unentwegt ins Gesicht und fuhr fort: »Ich weiß, es klingt seltsam, aber sie besaß eine ähnliche Fähigkeit, bei ihr konnte man sich erleichtern. Sie hörte zu, saß einfach lächelnd neben mir, hielt manchmal meine Hand, und ich erzählte ihr Sachen, die ich seit dem Tod meiner [174] Frau keinem Menschen mehr anvertraut habe.« Er verzog sich hinter seine Augenlider, und als er zurückkam, sagte er: »Und sogar einiges, was ich meiner Frau auch zu Lebzeiten nie zu erzählen vermochte. Sie drückte mir dann einfach die Hand, und ich war froh, dass ich das endlich einmal loswerden konnte.« Der Doktor versuchte, eine Hand zu heben, bekam sie aber nur ein paar Zentimeter weit hoch, bevor sie wieder aufs Bett sank. »Sie selbst stellte keine Fragen, schien kein bisschen sensationslüstern, und vielleicht hat gerade ihr Schweigen mich dazu gebracht, so offen zu sein. Sie hat sich nie ein Urteil erlaubt, sich niemals überrascht oder missfällig geäußert. Sie hat nur dagesessen und zugehört.«

Brunetti hätte am liebsten gefragt, was er ihr denn erzählt habe. Aber das ging nicht, aus Respekt vor dem alten Mann, wie er sich sagte, tatsächlich aber wusste er, dass ihn so etwas wie ein religiöses Tabu davon abhielt, in das Beichtgeheimnis einzudringen. Also fragte er nur: »Glauben Sie, dass sie jedem so zugehört hat?«

Ein Anflug eines Lächelns huschte über Grandessos Gesicht, aber seine Lippen waren zu schmal, als dass es sich darauf hätte zeigen können. »Sie meinen, ob ich glaube, dass alle sich ihr anvertraut haben?«

»Ja.«

»Das kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Die Menschen sind verschieden. Aber bekanntermaßen reden alte Leute gern, vor allem über sich selbst. Uns selbst.«

Er fuhr fort: »Ich habe die anderen beobachtet und unbefangen mit ihr reden sehen. Und wenn sie die Fähigkeit hatte, einen sozusagen freizusprechen, dann ...« Er verstummte.

[175] Brunetti konnte seine Neugier nicht mehr zügeln. »Und haben Sie das geglaubt?«

Er versuchte, den Kopf zu bewegen, und als ihm das nicht gelang, sagte er: »Nein.«

»Warum?«

»Weil ich wie Sie, Signore«, sagte er, und diesmal erreichte das Lächeln seine Lippen, »nicht an die Absolution glaube.«