Er war froh, sie los zu sein. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie wenig er sich für diese Frau hatte erwärmen können. Ihre Halbwahrheiten, Ausflüchte und Versuche, ihn zu manipulieren, hatten ihn irritiert; schlimmer noch, Signora Altavillas Ende schien die Orsoni nur insofern zu beschäftigen, als es Schuldgefühle in ihr weckte oder eine Gefahr für ihre grandiose Alba Libera darstellte. Wie wenig die sich aus Menschen machten, diese Leute, die sich dem Wohl der Menschheit verschrieben.
In Gedanken versunken, machte er sich auf den Rückweg zur Questura und kam erst wieder zu sich, als er plötzlich merkte, wie sehr das Licht des Tages geschwunden war. Er sah auf die Uhr: schon kurz vor fünf. Eigentlich dumm, jetzt noch in die Questura zu gehen, doch er behielt die eingeschlagene Richtung bei, sah sich von oben wie ein Schaf zum heimischen Stall zurücktrotten.
In der Questura fand er Signorina Elettra an ihrem Schreibtisch; sie las offenbar dasselbe Buch wie beim letzten Mal. Als sie ihn hereinkommen hörte, blickte sie auf, klappte das Buch gelassen zu und legte es beiseite. »Sie sehen aus wie jemand, der Arbeit mitbringt«, sagte sie lächelnd.
»Ich habe eben mit der Leiterin von Alba Libera gesprochen«, sagte er.
»Ah, Maddalena. Was halten Sie von ihr?«, fragte sie so sachlich, dass ihr nicht anzuhören war, was sie selbst von ihr hielt.
[219] »Sie möchte anderen Menschen helfen«, antwortete Brunetti ebenso neutral.
»Das ist gewiss ein löbliches Anliegen«, räumte Signorina Elettra ein.
Brunetti fragte sich, wer von ihnen als Erster nachgeben und eine Meinung äußern würde.
»Sie erinnert mich ein wenig an jene Frauen in Romanen aus dem neunzehnten Jahrhundert, die sich dafür engagieren, die Moral der niederen Klassen zu heben«, sagte sie.
Brunetti fragte sich, ob nach über einem Jahrzehnt Zusammenarbeit seine Weltanschauung auf sie abgefärbt haben könnte, erkannte aber sofort, dass er sich damit nur selbst schmeichelte: Signorina Elettra war von Natur aus mit einem reichlichen Vorrat an Skepsis ausgestattet.
Plötzlich hatte er von dem Geplänkel genug. »Eine ihrer Schutzbefohlenen hat bis zum Abend vor Signora Altavillas Tod bei ihr gewohnt, aber nun stellt sich heraus, dass diese Frau auch schon in anderen Häusern und unter ähnlichen Umständen gelebt hat ...«
»Und mit dem Silber durchgebrannt ist?«, scherzte Signorina Elettra.
»So etwa.«
Sie war offensichtlich überrascht, und das gefiel ihm. »Ihr Name?«, fragte sie.
»Gabriela Pavon, aber das ist wohl nicht ihr richtiger Name. Und der Mann, vor dem sie angeblich auf der Flucht ist, heißt Nico Martucci, ein Sizilianer. Dieser Name stimmt vermutlich. Lebt in Treviso.« Während Signorina Elettra schon die Namen notieren wollte, sagte er: »Bemühen Sie [220] sich nicht. Ich habe einen Freund in Treviso, den ich fragen kann. Das spart Zeit.«
Als er sich zum Gehen wandte, wies sie auf ein paar Papiere auf ihrem Schreibtisch und sagte: »Ich habe einiges über Signora Sartori und den Mann herausgefunden, mit dem sie zusammengelebt hat.«
»Die sind also nicht verheiratet?«, fragte er.
»Jedenfalls nicht nach den Unterlagen des Pflegeheims. Ihre gesamte Rente geht direkt dorthin, und ihr Gefährte Morandi zahlt den Rest.« Brunetti sah erstaunt drein, und sie erklärte: »Da sie nicht verheiratet sind, müsste er nicht zahlen. Aber er tut es.« Brunetti brachte das immer noch nicht mit dem Hitzkopf zusammen, dem er in Signora Sartoris Zimmer begegnet war.
»Was kostet das Heim?«, fragte er und dachte daran, was er und sein Bruder in all den Jahren für ihre Mutter bezahlt hatten.
»Beinahe zweitausendvierhundert im Monat«, sagte sie, und als er die Augenbrauen hochzog: »Es ist eins der besten in der Stadt.« Sie hob eine Hand und ließ sie wieder sinken. »So sind die Preise nun mal.«
»Wie hoch ist ihre Rente?«, fragte er.
»Sechshundert Euro. Sie ist vorzeitig in den Ruhestand gegangen, vier Jahre, deshalb bekommt sie nicht den vollständigen Betrag.«
Bevor er sich aufs Rechnen verlegte, fragte Brunetti: »Und seine?«
»Fünfhundertzwanzig.« Zusammen deckten die beiden Renten nicht einmal die Hälfte der Kosten.
Der Mann hatte keinen wohlhabenden Eindruck gemacht; [221] und die Frau bei näherer Betrachtung ebenso wenig. Wenn er wirklich nur Rentner war und auch für sich selbst Miete, Nebenkosten und Essen bezahlen musste - wo nahm er dann das Geld für das Pflegeheim her?
Signorina Elettra reichte ihm die Papiere von ihrem Schreibtisch; zu seiner Überraschung waren es mehr als ein paar Blätter. Was konnten alte Leute wie diese beiden denn schon auf dem Kerbholz haben?
Er hielt den Packen theatralisch hoch. »Was ist das alles?«
Signorina Elettra sah ihn sibyllinisch an und raunte: »Ganz ereignislos ist ihr Leben nicht verlaufen.«
Zum ersten Mal an diesem Tag musste Brunetti lächeln. Er schwenkte die Papiere und meinte: »Ich seh’s mir an.« Sie nickte und wandte sich wieder ihrem Computer zu.
Von seinem Büro aus rief er als Erstes zu Hause an.
Paola meldete sich mit einem so unwirschen »Si«, dass selbst der abgebrühteste Telefonvertreter den Mut verloren hätte; und ihre Kinder wären bei diesem Ton in Panik nach Hause gelaufen und hätten ihre Zimmer aufgeräumt.
»›Und die Stimme der Turteltaube lässt sich hören in unserem Lande‹«, entfuhr es ihm.
»Guido Brunetti«, sagte sie immer noch ungnädig, »komm mir bloß nicht mit der Bibel.«
»Ich lese das Hohelied als Literatur, nicht als heiligen Text.«
»Und benutzt es, um zu provozieren«, sagte sie.
»Nicht anders als alle Apologeten des Christentums.«
»Was hegst du nur für Absichten«, sagte sie schon etwas freundlicher, und er wusste, die Gefahr war vorüber.
»Die Absicht, dich zum Essen auszuführen.«
»Du willst dir turbanti di soglie entgehen lassen - friedlich [222] in deinem Zuhause, im harmonischen Kreis deiner Familie?«, fragte sie, wobei sie ihn im Unklaren ließ, ob der Gedanke an seine Gegenwart oder an das Essen ihre Stimmung gehoben hatte.
»Ich versuche, pünktlich zu sein.«
»Gut«, sagte sie, und als er schon dachte, sie werde auflegen, fügte sie hinzu: »Freut mich, dass du hier sein wirst.« Dann war sie weg, und Brunetti hatte auf einmal das Gefühl, es sei wärmer oder irgendwie heller um ihn herum geworden. Über zwanzig Jahre, und sie vermochte es immer noch, dachte er; er schüttelte den Kopf, suchte die Nummer seines Freundes in Treviso heraus und rief ihn an.
Wie vermutet, hieß die Frau nicht Gabriela Pavon: Die Polizei in Treviso nannte ihm sechs Decknamen der Person, deren Fingerabdrücke überall in der Wohnung gewesen waren, die sie mit ihrem Gefährten geteilt hatte, aber ihr richtiger Name war nicht bekannt. Der Sizilianer - Brunetti sagte sich, er sollte endlich aufhören, ihn so zu nennen und als typischen Südländer zu sehen - war Chemielehrer in einer Berufsschule, nicht vorbestraft und, zumindest nach Ansicht der dortigen Polizei, das Opfer einer Straftat. Von der Frau fehlte jede Spur, und sein Freund meinte resigniert, man werde erst wieder von ihr hören, wenn sie irgendwo im Land erneut ihre Masche abziehen würde.
Brunetti erklärte ihm, was die Frau offenbar in Venedig getrieben hatte, worauf sein Freund ihn wenig begeistert bat, ihm einen Bericht zu schicken, »obwohl das auch nicht viel bringt. Sie hat kein Verbrechen begangen.«
Nach diesem Telefonat widmete er sich den Papieren, die Signorina Elettra ihm gegeben hatte. Signora Maria Sartori [223] war achtzig Jahre alt, geboren in Venedig; Benito Morandi war dreiundachtzig. Allein schon der Vorname sprach Bände darüber, in was für einer Familie er aufgewachsen war. Die beiden Namen zusammen aber riefen in Brunetti eine Vorstellung wach, als seien Ginger und Fred wieder vereint. Oder Bonnie und Clyde. Er sah von den Papieren auf, kramte in seinem Gedächtnis und ließ sich auf dem trägen Strom der Erinnerungen treiben. Irgendwas mit alten Leuten, aber nicht mit diesen beiden; andere alte Leute, als sie noch nicht alt waren. Es war eine Erinnerung aus sehr früher Zeit, vor Paola und allem, was mit ihr zusammenhing. Seine Mutter würde sich erinnern, dachte er, seine Mutter, wie sie früher einmal gewesen war.
Er wählte Vianellos Handynummer. »Bist du unten?«, fragte er, als der Ispettore sich meldete.
»Ja.«
»Kannst du mal eben raufkommen?«
»Schon unterwegs.«
Ablenkung half. Brunetti ging ans Fenster und starrte auf den Kanal; vielleicht half es seinem Gedächtnis auf die Sprünge, wenn er die Namen einfach so in seinem Kopf herumgeistern ließ.
So traf Vianello ihn an: die Hände auf dem Rücken, versunken in den Anblick der Kirche oder des dreistöckigen Hauses für obdachlose Katzen, das man vor die Kirchenfassade gebaut hatte.
Vianello nahm schweigend auf einem Stuhl vor dem Schreibtisch seines Vorgesetzten Platz und wartete.
Ohne sich umzudrehen, sagte Brunetti: »Maria Sartori und Benito Morandi.«
[224] Von Vianello kam nur das Scharren seiner Absätze auf dem Boden, als er die Beine ausstreckte. Nach einiger Zeit atmete er hörbar auf. »Madame Reynard«, sagte er grinsend, weil er als Erster darauf gekommen war.
Jeder Venezianer ihrer Generation kannte die Geschichte. Nachdem Vianello den Namen genannt hatte, fiel auch Brunetti alles wieder ein. Madame Marie Reynard, eine legendäre Schönheit, war - konnte das sein? - vor Ewigkeiten zusammen mit ihrem Mann nach Venedig gekommen. Ihnen blieben noch etwa fünf Jahre, bis er bei einem spektakulären Unfall ums Leben kam. An die genauen Umstände konnte Brunetti sich nicht erinnern: Auto, Schiff, Flugzeug. Außer sich vor Trauer, erlitt sie eine Fehlgeburt, und nachdem sie davon genesen war, zog sie sich in ihren Palazzo am Canal Grande zurück, um das einsame Leben einer Witwe zu führen.
Er wusste nicht mehr, wann er die Geschichte zum ersten Mal gehört hatte, aber schon bevor er in die scuola media kam, war Madame Reynard zur Legende geworden - typisches Schicksal trauernder Witwen, zumindest wenn sie reich und schön sind. Man sagte, dass die geheimnisvolle Französin niemals ihren Palazzo verließ oder dass sie nachts leise weinend durch die Stadt wanderte, dass sie einzig Priestern Zutritt gewährte, mit denen sie, in ihren Witwenschleier gehüllt, endlose Rosenkränze für das Seelenheil ihres Mannes betete. Oder aber, dass sie, von Trauer zerfressen, gar niemand bei sich empfing. Nur zwei Konstanten gab es in diesen Geschichten: Sie war schön, und sie war reich.
Hundert Jahre hatte sie gelebt, drei Viertel davon im Witwenstand, als sie vor über zwanzig Jahren starb. Zum [225] Alleinerben hatte sie ihren Anwalt bestimmt - von dem in all den Legenden nie die Rede gewesen war: Er bekam den Palazzo mit allem, was darin war, Ländereien und Wertpapiere sowie das Patent auf ein Verfahren, mit dem man Baumwollfasern widerstandsfähiger gegen Hitze machen konnte. Genaueres war nicht bekannt - ebenso wenig, ob es wirklich Baumwolle war oder doch Seide oder Schafswolle -, auf jeden Fall erwies sich das Patent als unermesslich viel wertvoller als der Palazzo und alles andere.
»Natürlich, natürlich«, sagte Brunetti, als die winzigen Gestalten sich in seinem Gedächtnis zusammenfügten und Maria ihren Benito fand: Denn genau so - Sartori und Morandi - hießen die Zeugen, die Madame Reynards Testament beglaubigt hatten und als solche Gegenstand von Gerüchten und Spekulationen waren, die die Stadt monatelang in Atem hielten. Sie hatten im Krankenhaus gearbeitet, hatten die Sterbende vorher nicht gekannt, waren im Testament nicht als Begünstigte aufgeführt und wurden daher allgemein für unparteiisch gehalten.
»Gab es da nicht irgendwelche französischen Verwandten?«, fragte Vianello.
Brunetti stöberte in seinen verschütteten Erinnerungen und fand, was er suchte: »Nein, das waren Leute, die von dem Vermögen gelesen hatten und sich dachten, sie könnten es ja mal versuchen.« Allmählich fiel ihm immer mehr ein. »Aber es stimmt, das waren Franzosen«, sagte er.
Beide kramten weiter in ihrem Gedächtnis. »Und hat da nicht eine Versteigerung stattgefunden?«, fragte Vianello.
»Richtig«, sagte Brunetti. »Eine der letzten großen. Nach ihrem Tod. Es wurde alles verkauft.« Und da er mit Vianello [226] sprach, dem er so etwas sagen konnte, fügte er hinzu: »Mein Schwiegervater hat erzählt, sämtliche Sammler der Stadt seien damals erschienen. Ja, sämtliche Sammler aus dem Veneto.« Brunetti wusste von zwei Zeichnungen aus dieser Auktion. »Er hat zwei Blätter aus dem Skizzenbuch von Giovannino de Grassi erworben.«
Vianello schüttelte ahnungslos den Kopf.
»Vierzehntes Jahrhundert. In Bergamo haben sie ein vollständiges Skizzenbuch mit Zeichnungen - prächtig wie Gemälde - von Vögeln und Tieren und einem phantastischen Alphabet.« Sein Schwiegervater bewahrte die zwei Zeichnungen vor Licht geschützt in einer Mappe auf. Brunetti hielt seine Hände etwa zwanzig Zentimeter auseinander. »Es sind lose Blätter, ungefähr so groß. Wunderschön.«
»Wertvoll?«, fragte der wesentlich praktischer veranlagte Vianello.
»Genaues weiß ich nicht«, sagte Brunetti. »Aber ich nehme es an. Immerhin hat mein Schwiegervater erzählt, die meisten Interessenten seien wegen der Zeichnungen gekommen - das war nicht wie heute, wo man sich alle Gegenstände einer Versteigerung vorher online ansehen kann. Er sagt, Überraschungen gab es immer. Aber diesmal bestand die Überraschung darin, dass es nur so wenige Zeichnungen waren. Trotzdem gelang es ihm, diese beiden zu erwerben.«
»Ein Jammer, das mit Cuccetti«, meinte Vianello. Brunetti staunte, dass der Ispettore sich an den Namen des Anwalts erinnerte, der die Erbschaft abgeräumt hatte.
»Wieso? Weil er wenig später gestorben ist? Nach zwei Jahren?«
[227] »So ungefähr. Zusammen mit seinem Sohn. Der Sohn war am Steuer, oder?«
»Ja, und betrunken. Aber das wurde alles vertuscht.« Mit solchen Dingen hatten die beiden viel Erfahrung. »Cuccetti hatte viele einflussreiche Freunde«, fügte Brunetti hinzu.
Auf die düstere Feststellung Brunettis hin bemerkte Vianello trocken: »Das Testament wurde nicht angefochten, oder?«
»Nur von diesen Franzosen, und die wurden binnen kürzester Zeit abgeschmettert.« Brunetti nahm die Papiere vom Schreibtisch, die Signorina Elettra ihm gegeben hatte, und sagte: »Das hat sie herausgefunden.« Er las das erste Blatt und reichte es Vianello. Und so ging es in einträchtigem Schweigen weiter, bis sie den ganzen Stapel durchgelesen hatten.
Maria Sartori hatte als Hilfsschwester gearbeitet, erst im Ospedale al Lido, dann im Ospedale Civile, von wo sie vor über fünfzehn Jahren in Rente gegangen war. Unverheiratet hatte sie einen Großteil ihres Lebens an derselben Adresse wie Benito Morandi gelebt. Auf ihrem Konto, immer bei derselben Bank, gab es keine auffälligen Bewegungen: bescheidene Einzahlungen, ebensolche Abhebungen. Sie war nie als Patientin im Krankenhaus gewesen und nie mit der Polizei in Konflikt geraten. Mehr war nicht zu erfahren: keine Freuden, keine Sorgen, keine Träume, keine Enttäuschungen. Jahrzehntelang gearbeitet, Ruhestand und eine Rente, und jetzt ein Zimmer in einer privaten casa di cura, finanziert von ihrer Rente und dem Beitrag ihres Gefährten.
Beigelegt war eine Fotokopie ihrer carta d’identità, Brunetti erkannte die Frau mit den weichen Zügen auf dem Passfoto [228] kaum wieder: Das sollte die Vorläuferin der Frau mit dem tief zerfurchten Gesicht sein, die er gesehen hatte? Am liebsten hätte er sie gewarnt, ihr die weise Prophezeiung der Älteren zugeflüstert: Unglück kommt.
Nachdem er Vianello das nächste Blatt weitergegeben hatte, wandte Brunetti sich ihrem Lebensgefährten zu. Morandi hatte im Zweiten Weltkrieg gedient. Brunettis erster Gedanke war, Morandi habe sich das aus den Fingern gesogen, aber dann rechnete er nach und stellte fest, dass es knapp noch gehen könnte.
Brunettis Vater hatte oft von dem Chaos erzählt, das in diesen furchtbaren Jahren geherrscht hatte, dass man gegen Kriegsende auch die jüngeren Jahrgänge in den Kampf hatte ziehen lassen. Laut Morandis Wehrpass war er allerdings in Abessinien, Albanien und zuletzt in Griechenland zum Einsatz gekommen, wo er verwundet wurde; danach schickte man ihn in die Heimat und ins bürgerliche Leben zurück.
»No, eh?«, hörte Brunetti sich sagen. Vianello sah erschrocken zu ihm hin. Wenn das Geburtsdatum in diesen Akten stimmte, wäre Morandi als Zwölfjähriger nach Griechenland gegangen, und bei der Kapitulation Italiens wäre er keine sechzehn gewesen. Bei aller Liebe: Auch wenn es seinen Eltern noch so wichtig war, ihren Sohn »Benito« zu nennen - als Kind konnte er schlecht für den anderen Benito in den Krieg ziehen.
Einige Jahre nach Morandis Rückkehr - oder jedenfalls nachdem sein Kriegsdienst Eingang in die Akten gefunden hatte - bekam er einen Job im Hafen von Venedig und blieb dort gut zehn Jahre als »Arbeiter«, wie es wenig aussagekräftig [229] hieß. Brunetti las, dass er ohne nähere Begründung entlassen worden war.
Ein paar Jahre später begann er als Reinigungskraft im Ospedale Civile. Brunetti griff nach den Papieren, die Vianello auf seinen Schreibtisch gelegt hatte; Signora Sartori war zu dem Zeitpunkt bereits im Ospedale angestellt gewesen.
Morandi hatte zwei weitere Jahrzehnte lang als portiere und Reinigungskraft gearbeitet und war vor zwanzig Jahren mit einer winzigen Rente aus dem Dienst geschieden.
Brunetti erkannte das Siegel des Justizministeriums auf den nächsten drei Bögen; hier waren Morandis Beziehungen zu den Ordnungskräften aufgelistet, für die er kein Fremder war. Zum ersten Mal wurde er mit Anfang dreißig festgenommen, weil er geschmuggelte Zigaretten an Tabakläden auf dem Festland verkauft haben sollte. Fünf Jahre später die nächste Verhaftung; diesmal hatte er Sachen verkauft, die von Schiffen im Hafen gestohlen worden waren, und bekam ein Jahr Gefängnis auf Bewährung. Sieben Jahre danach wurde er festgenommen, nachdem er einen Kollegen bei der Arbeit angegriffen und schwer verletzt hatte. Die Anklage wurde fallengelassen, weil das Opfer die Aussage verweigerte. Weitere Festnahmen folgten: Widerstand gegen die Staatsgewalt, Weitergabe von Diebesgut an einen Hehler in Mestre. Bei der Beweisaufnahme in letzterem Fall hatten sich irgendwelche Unstimmigkeiten in den Akten ergeben, und nach fünf Jahren wurde das Verfahren eingestellt, Signor Morandi aber schien in der Zwischenzeit unter die Engel gegangen zu sein: Seit er im Krankenhaus angefangen hatte, war er nie mehr festgenommen worden.
[230] Auf den letzten Blättern ging es um Signor Morandis Finanzen. Um die Zeit, als er in Rente gegangen war, hatte Morandi, ohne eine Hypothek aufzunehmen, eine Wohnung in San Marco gekauft. Eine Notiz in Signorina Elettras Handschrift informierte Brunetti, dass Morandi und Signora Sartori kurz darauf in diese Wohnung umgezogen waren; jedenfalls hatten beide binnen weniger Monate ihren Wohnsitz unter dieser Adresse angemeldet.
Die Bewegungen auf seinem Konto, das von dem Wohnungskauf völlig unberührt blieb, waren so unauffällig wie auf dem von Signora Sartori: bescheidene Einzahlungen und Abhebungen und, seit dem Umzug, die Gemeinkosten für die Eigentumswohnung, die im Lauf der Jahre immer weiter gestiegen waren, sich mittlerweile auf über vierhundert Euro im Monat beliefen und daher kaum noch von Morandis kleiner Rente beglichen werden konnten.
Seit Signora Sartori im Pflegeheim lebte, ging es auf Signor Morandis Konto anders zu. Einen Monat, bevor sie dort zum ersten Mal ihre Miete zahlen musste, waren auf sein Konto knapp viertausend Euro eingezahlt worden. Seitdem kam alle drei bis vier Monate ein Betrag zwischen vier- und fünftausend Euro hinzu, und jeden Monat wurden per Dauerauftrag über zwölfhundert Euro von seinem Konto an das Pflegeheim überwiesen.
Das schien alles zu sein. Brunetti blätterte zurück, verglich ein paar Daten und stellte fest: Die Wohnung war zwar nach Morandis Renteneintritt gekauft worden, aber Signora Sartori hatte danach noch weiter im Krankenhaus gearbeitet. Unwahrscheinlich, dass Leute mit solchen Jobs, selbst wenn sie ihr Geld zusammenlegten, genug für den Erwerb [231] einer Wohnung sparen konnten: Angesichts der fehlenden Hypothek und der geringen Entlohnung der einen, die noch arbeitete, war das nahezu unmöglich. Weder sein kurzes Gespräch mit Morandi noch der Inhalt dieser Papiere ergaben für Brunetti das Bild eines Mannes, dem man finanzielle Weitsicht unterstellen würde.
Brunetti stand auf, ging ans Fenster und schaute auf die Fassaden hinaus. Dann starrte er die Wand an, überdachte das eben Gelesene und fragte sich, was Signorina Elettra daran für wichtig halten mochte. Er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass die Papiere alle Informationen enthielten, die sie gesammelt hatte: Etwas wegzulassen wäre - seltsam, dass ihm kein anderes Wort einfiel - Betrug. Er wartete, dass Vianello seine Betrachtungen beendete und sich zu den Papieren äußerte.
Unterdessen dachte Brunetti über das Phänomen Ruhestand nach. In anderen Ländern, so hatte er gehört, träumten die Leute vom Ruhestand, weil sie dann in ein wärmeres Klima ziehen und ein neues Kapitel aufschlagen konnten: eine Sprache lernen, eine Tauchausrüstung kaufen, sich als Tierpräparator versuchen. Wie vollkommen fremd waren solche Wünsche innerhalb seiner eigenen Kultur. Die Leute, die er kannte, die Leute, die er sein Leben lang beobachtet hatte, wollten im Ruhestand nichts anderes, als sich noch genüsslicher in ihrer Häuslichkeit einrichten, die sie sich jahrzehntelang aufgebaut hatten, und nichts sollte sich an ihrem Leben ändern, außer dass sie nicht mehr jeden Morgen zur Arbeit mussten und vielleicht gelegentlich auf Reisen gehen konnten, aber nicht zu oft und nicht zu weit. Er kannte keinen Einzigen, der sich im Ruhestand ein neues [232] Haus gekauft oder auch nur mit dem Gedanken gespielt hätte, woanders hinzuziehen. Genau das aber hatte Signor Morandi getan. Und dafür musste es einen Grund geben. Existierte womöglich noch ein zweiter Morandi? War Signorina Elettra ein Fehler unterlaufen? Ein Fehler? Wo dachte er hin? Brunetti nahm die Hand vor den Mund, als wolle er die unbedachte Vermutung zurücknehmen.
»Warum hat er eine Wohnung gekauft?«, fragte Vianello in die Stille hinein.
»Wovon hat er sie bezahlt?«, setzte Brunetti hinzu. »Von einer Hypothek steht hier nichts.«
Vianello legte bedächtig eine Hand auf die Papiere. »Nichts hier drin lässt auf einen Mann schließen, der sein Leben lang für eine Eigentumswohnung gespart hat.«
Brunetti rief Signorina Elettra an.
»Si, Commissario?«, meldete sie sich.
»Der Ispettore und ich wüssten gern, wovon Signor Morandi seine Wohnung bezahlt hat«, sagte er.
Nach kurzem Überlegen fragte sie: »Haben Sie das Kaufdatum gesehen?«
Brunetti klemmte den Hörer zwischen Schulter und Ohr, um mit beiden Händen in den Papieren blättern zu können. Er fand das Datum und sagte: »Das war drei Monate, nachdem er zu arbeiten aufgehört hat. Aber ich verstehe nicht, was daran wichtig sein könnte.«
»Vielleicht sehen Sie einmal nach Madame Reynards Todesdatum«, schlug sie vor.
Er fand die Kopie ihrer Sterbeurkunde und sah, dass Morandi die Wohnung exakt einen Monat nach ihrem Tod gekauft hatte. Er räusperte sich.
[233] Als er nichts weiter dazu bemerkte, fragte sie: »Ist Ihnen der Name der Person aufgefallen, die die Wohnung verkauft hat?«
Er sah nach. »Matilda Querini.« Um Vianello nicht von dem Gespräch auszuschließen, schaltete er den Lautsprecher ein und legte den Hörer hin.
Wieder bemerkte er nichts dazu. »Sie und der Ispettore erinnern sich also nicht an den Fall?«, fragte sie.
»Ich erinnere mich an die Leute, die das Testament beglaubigt haben, und dass Cuccetti der Alleinerbe war.«
»Ah«, machte sie vielsagend.
»Erzählen Sie«, bat Brunetti.
»Matilda Querini war seine Frau.«
»Ah, seine Frau«, ahmte Brunetti sie bewusst nach und fragte dann: »Lebt sie noch?«
»Nein. Sie ist vor sechs Jahren gestorben.«
»Wohlhabend?«
»Geld wie Heu.«
»Und wer hat das geerbt? Der Sohn war ihr einziges Kind, nicht wahr?«
»Es gibt Gerüchte, dass sie alles der Kirche vermacht hat.«
»Nur Gerüchte, Signora?«
»Na schön«, sagte sie. »Fakten. Sie hat alles der Kirche vermacht.« Sie kam seiner Frage zuvor: »Ich habe einen Freund, der im Amtssitz des Patriarchen arbeitet. Von ihm habe ich erfahren, dass es die größte Summe war, die ihnen jemals überlassen worden ist.«
»Hat er gesagt, wie viel es war?«
»Ich fand es unhöflich, danach zu fragen.«
Vianello gab ein leises Stöhnen von sich.
[234] »Und?«, fragte Brunetti, da er wusste, dass sie so etwas niemals auf sich beruhen lassen würde.
»Also habe ich meinen Vater gefragt. Ihr Geld war nicht auf seiner Bank, aber er kennt den Direktor der Bank, bei der sie ihr Konto hatte, und hat ihn gefragt.«
»Verraten Sie’s mir?«
»Sieben Millionen Euro, plus minus ein paar Hunderttausend. Und das Patent für dieses Verfahren. Und mindestens acht Wohnungen.«
»An die Kirche?«, fragte Brunetti, worauf Vianello ziemlich melodramatisch das Gesicht in den Händen vergrub und heftig den Kopf schüttelte.
»Ja«, antwortete sie.
Ihm kam eine Idee. »Haben Sie sich die Konten von Cuccetti und seiner Frau angesehen?« Wenn sie das getan hatte, hatte sie gegen die Vorschriften verstoßen. Wenn er davon wusste und es für sich behielt, wurde er zum Mittäter.
»Selbstverständlich«, sagte sie.
»Lassen Sie mich raten«, sagte Brunetti. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, ein wenig anzugeben. »Nach dem Verkauf wurde auf keins der Konten Geld eingezahlt.«
»Kein bisschen«, antwortete sie. »Natürlich könnte sie Morandi die Wohnung aus reiner Herzensgüte überlassen haben.« Ihr Tonfall schloss diese Möglichkeit a priori aus.
»Cuccettis Ruf macht das wenig wahrscheinlich, meinen Sie nicht auch?«, fragte Brunetti.
»Stimmt«, sagte sie. »Aber genau deshalb ist auch die Entscheidung seiner Frau, alles der Kirche zu vermachen, so ...«, begann sie, aber ihr schien kein passendes Wort einzufallen.
[235] »Grotesk?«, schlug Brunetti vor.
»Ah«, entfuhr es ihr anerkennend, weil er das Richtige getroffen hatte.