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Als sie in die Questura kamen, übernahmen es Foa und sein Mitarbeiter, Signorina Elettra mit den Blumen zu helfen, und Brunetti begab sich direkt in sein Büro. Auf dem Schreibtisch erwarteten ihn einige Berichte und Vermerke, Bürokram, den er als Erstes hinter sich brachte.

Interessant war nur eine Anfrage wegen einer Rumänin - der Name kam Brunetti bekannt vor. Sie hatten die Frau mindestens ein Dutzend Mal verhaftet, und jedes Mal hatte sie einen anderen Namen, Geburtsort und -datum angegeben. Diesmal war die Frau offenbar in Ferrara aufgetaucht, wo man sie im Bahnhof festgenommen hatte, als sie einer Polizistin, die gerade nicht im Dienst war, die Handtasche zu stehlen versuchte. Bis auf den Namen verweigerte sie jegliche Auskunft zu ihrer Person, aber in ihrer Tasche fand sich die Quittung für einen Kaffee in einer Bar in Castello, weshalb die Kollegen in Ferrara nun ein Foto und Fingerabdrücke von ihr nach Venedig geschickt hatten.

Als er im Archiv anrief und den Namen, den sie in Ferrara benutzt hatte, sowie den Namen durchgab, unter dem sie seiner Erinnerung nach in den Akten geführt wurde, bemerkte der Archivmitarbeiter kichernd: »Und ich dachte, die wären wir los.«

»Wir schon, aber jetzt haben die in Ferrara sie am Hals«, sagte Brunetti. »Könnten Sie eine Kopie der Akte rüberschicken?«

»Damit sie jetzt von denen ein Schreiben mit der Aufforderung [147] bekommt, das Land binnen achtundvierzig Stunden zu verlassen?«, fragte Tomasini. Nach kurzem Nachdenken meinte er trocken: »Ich finde, wir sollten uns zu einer Künstlergemeinschaft erklären und um Erlaubnis bitten, bei der Biennale auszustellen. Man braucht uns bloß den italienischen Pavillon zu geben.«

»Wer ist ›uns‹?«

»Wir hier, vor allem aber ich, weil ich über sämtliche Dokumente und die Kopien der Briefe verfüge.«

»Was würden Sie damit machen?«, fragte Brunetti.

»Alle Wände des Pavillons tapezieren. Aber in keiner bestimmten Reihenfolge; weder chronologisch noch alphabetisch oder nach Verbrechen geordnet. Einfach ein paar Tausend wild durcheinander an die Wände kleben, alle diese Briefe, mit denen immer wieder dieselben Leute aufgefordert werden, das Land binnen achtundvierzig Stunden zu verlassen, weil sie sich irgendeines Verbrechens schuldig gemacht haben. Und das Ganze nennen wir ›Italia Oggi‹

Und gar nicht mehr scherzhaft fügte Tomasini hinzu: »Das trifft es doch genau, oder? Italien heute.« Als Brunetti nicht antwortete, fragte der Jüngere nach: »Hab ich nicht recht?«

»Fabio«, sagte Brunetti ruhig, »schicken Sie die Akte nach Ferrara, ja?«

»Si, Dottore«, antwortete er und legte auf.

Umweltforscher verkündeten unermüdlich, die Stadt werde in wenigen Jahren im Wasser versinken: Was genau unter »wenigen Jahren« zu verstehen sei, blieb offen, aber an der eigentlichen Voraussage zweifelte niemand. Wann, fragte sich Brunetti, wird das ganze Land in Papier versinken? Die Räume im hinteren Teil des Erdgeschosses waren bereits mit [148] Metallregalen voller Akten zugestellt, die vom Boden bis zehn Zentimeter unter die Decke reichten. Dem acqua alta vor drei Jahren waren die unteren zwei Regalreihen zum Opfer gefallen, lange bevor sie ins Computersystem eingegeben werden konnten, und damit war dieser Teil der Kriminalakten für immer verloren. Vielleicht hatte Tomasini gar nicht so unrecht: Eine Ausstellung auf der Biennale war auch nicht vergänglicher als die Akten unten im Erdgeschoss.

Sein Telefon klingelte. »Ich habe mit ihnen gesprochen, Commissario«, sagte Signorina Elettra. »Soll ich raufkommen?«

»Ja. Bitte.«

Sie brachte Blumen mit. »Ich fürchte, ich habe heute früh etwas übertrieben, Dottore«, sagte sie. »Wenn Sie nichts dagegen haben, stelle ich Ihnen welche hierhin.« Die Blüten sahen aus wie große Gänseblümchen, weiß und gelb, und machten den Raum gleich etwas freundlicher. Sie stellte die Vase auf seinen Schreibtisch, trat mit kritischem Blick zurück und trug sie dann zum Fensterbrett. Endlich zufrieden, nahm sie auf einem Stuhl vor seinem Schreibtisch Platz.

»Ich habe die Handynummer der Leiterin ermittelt«, sagte sie und legte ihm einen Zettel hin. »Maddalena Orsoni. Eine sehr kluge Frau.«

»Klug genug wofür?«, fragte Brunetti.

»Um sich zu fragen, warum die Polizei sich für Signora Altavilla interessiert. Und für ihren Tod.«

»Und wenn ich sage, das sei nur Routine?«

»Wird sie Ihnen nicht glauben«, meinte Signorina Elettra. »Sie schlägt sich seit Jahren mit den Behörden herum, aber auch mit sozialen Einrichtungen und mit den Männern, vor [149] denen diese Frauen sich verstecken. Also erkennt sie einen Lügner schon von weitem und wird Ihnen vermutlich keinen Glauben schenken.«

»Und wenn ich über ihren Tod die Wahrheit sage?«

»Commissario, sogar ich habe den Verdacht, dass Sie um den heißen Brei herumreden.«

Brunetti überlegte, ob er jetzt böse werden sollte, ließ den Gedanken aber fallen. Lieber wartete er ab, was sie noch zu sagen hatte.

»Bedenken Sie, Signore, der einzige notorische Lügner, mit dem ich zu tun habe, ist Tenente Scarpa, also konnte ich meine Fähigkeiten nicht besonders entwickeln. Maddalena hingegen schon«, sagte sie. Ihr Seitenhieb gegen den Tenente machte Brunetti nicht zum ersten Mal unsicher, wie er mit ihrer Kritik an Vorgesetzten umgehen sollte.

»Wenn Sie meinen, dass ich nicht mit ihr reden sollte, wie kann ich sie dann um Auskunft über Signora Altavilla bitten?«, fragte er, ohne weiter auf Tenente Scarpa einzugehen.

»Ich fürchte«, antwortete sie lächelnd, »wir reden aneinander vorbei, Commissario. Ich habe nicht gesagt, Sie sollen nicht mit ihr reden. Nur, Sie sollen ihr keine Lügen auftischen. Wenn Sie ihr gegenüber aufrichtig sind, wird sie es auch sein.«

»So gut kennen Sie sie?«, fragte er.

»Nein. Aber ich kenne Leute, die sie so gut kennen.«

»Verstehe«, sagte er und ließ es dabei bewenden. Er nahm den Zettel, bedeutete ihr, sitzen zu bleiben, und wählte die Nummer.

Beim dritten Läuten meldete sich eine Frau mit einem schlichten »Si?«.

»Signora Orsoni«, sagte er, »hier spricht Commissario [150] Guido Brunetti.« Er wartete, ob sie, wie viele Leute, jetzt fragen würde, was denn die Polizei von ihnen wolle, aber sie blieb stumm.

»Ich rufe wegen einer Frau an, die für Alba Libera gearbeitet hat.« Sie schwieg weiter. »Costanza Altavilla.«

Diesmal nahm Brunetti sich vor, nichts weiter zu sagen; er wartete, und schließlich fragte sie: »Wie kann ich Ihnen behilflich sein, Commissario?« An ihrer gedämpften Stimme war weder ihr Alter noch irgendein Akzent zu erkennen. Mehr, als dass sie gepflegtes Italienisch sprach, war vorläufig nicht auszumachen.

»Ich möchte mit Ihnen über Signora Altavilla sprechen.«

»Zu welchem Zweck?«, fragte sie sachlich, allenfalls etwas neugierig.

Er brach alle Brücken hinter sich ab. »Um herauszufinden, ob es Anlass gibt, sich näher mit ihrem Tod zu beschäftigen«, erklärte er.

Erst mit einiger Verzögerung fragte sie mit immer noch vollkommen neutraler Stimme: »Heißt das, die Zeitungen haben etwas Falsches berichtet und es war kein Herzversagen, Commissario?«

»Nein, nein, es steht zweifelsfrei fest, dass sie an einem Herzversagen gestorben ist«, sagte er. Und als das klargestellt war, fügte er hinzu: »Mich interessieren die Umstände, die das Herzversagen herbeigeführt haben könnten.«

Er sah nach Signorina Elettra, die sich alle Mühe gab, einen gleichgültigen Eindruck zu machen.

»Und Sie würden gern mit mir sprechen?«, fragte Signora Orsoni.

»Ja.«

[151] »Ich bin zurzeit nicht in der Stadt«, sagte sie.

»Wann kommen Sie zurück?«

»Vielleicht morgen.«

»Und wenn ich behaupten würde, dass ich Sie dringend sprechen muss?«, fragte Brunetti.

»Dann würde ich behaupten, was ich zu tun habe, ist ebenfalls dringend«, erklärte sie, ohne das weiter auszuführen.

Patt. »Dann melde ich mich wieder«, sagte Brunetti so freundlich, als wollte er sie zum Essen einladen.

»Gut«, sagte sie und legte auf.

Nachdem auch er aufgelegt hatte, meinte er zu Signorina Elettra: »Zu beschäftigt, mit mir zu reden.«

»An Selbstunterschätzung leidet sie jedenfalls nicht«, war ihr einziger Kommentar.