Es war noch viel einfacher, als Brunetti sich vorgestellt hatte: Signorina Elettra gab lediglich »Tierarzt« in den Gelben Seiten der beiden Städte ein, und schon hatte sie die Nummer der Praxis von Dott. Claudio Niccolini in Vicenza ermittelt.
Brunetti ging zum Telefonieren in sein Büro, erfuhr aber nur, dass der Arzt heute nicht in der Praxis war. Als er seinen Rang und Namen nannte und erklärte, er müsse mit dem Arzt über den Tod seiner Mutter sprechen, antwortete die Frau am anderen Ende der Leitung, Dr. Niccolini sei schon informiert und auf dem Weg nach Venedig, vermutlich sei er bereits eingetroffen. In ihrer Stimme schwang unverkennbarer Tadel mit. Brunetti hielt sich nicht mit einer Rechtfertigung für den verspäteten Anruf auf und bat stattdessen um die Handynummer des Arztes. Die Frau gab sie ihm und beendete das Gespräch ohne einen weiteren Kommentar.
Brunetti wählte die Nummer; beim vierten Läuten meldete sich eine Männerstimme: »Si?«
»Dottor Niccolini?«
»Si. Chi parla?«
»Commissario Guido Brunetti, Dottore. Zunächst einmal möchte ich Ihnen mein Beileid aussprechen«, sagte Brunetti. Er schwieg ein wenig und fügte dann hinzu: »Ich würde gern mit Ihnen über Ihre Mutter reden.« Brunetti hatte keine Ahnung, was ihn eigentlich dazu berechtigte, denn er hatte die Wohnung der Frau nur aus Routine aufgesucht und keinen [57] offiziellen Auftrag, sich näher mit den Umständen ihres Todes zu befassen.
Der andere ließ sich sehr viel Zeit mit einer Antwort und platzte schließlich heraus: »Also ...«, verstummte aber gleich wieder und sagte nach einer weiteren, schier endlosen Pause mit hörbarer Beunruhigung: »Ich wusste nicht, dass die Polizei eingeschaltet wurde.«
Brunetti hielt es für das Beste, ihn in diesem Glauben zu lassen. »Wir wurden schlichtweg als Erste benachrichtigt, Dottore«, sagte er unverbindlich. Dann schaltete er auf den geplagten Beamten um, dem die Unfähigkeit seiner Mitmenschen schwer zu schaffen machte, und fügte hinzu: »Normalerweise schickt das Krankenhaus ein Team; wir sind nur dort hingegangen, weil die Person, die Ihre Mutter gefunden hat, als Erstes uns angerufen hat.«
»Aha, verstehe«, sagte Niccolini schon etwas ruhiger.
Brunetti fragte: »Darf ich wissen, wo Sie jetzt sind, Dottore?«
»Im Krankenhaus, ich warte auf den Pathologen.«
»Ich bin schon auf dem Weg«, log Brunetti, ohne zu zögern. »Es gibt einige Formalitäten zu erledigen; das können wir dann gleich machen.« Er ließ Niccolini keine Chance, darauf zu antworten, sondern erklärte knapp: »In zehn Minuten bin ich da«, und klappte sein Handy zu.
Ohne nachzusehen, ob Vianello im Bereitschaftsraum war, verließ Brunetti die Questura und machte sich auf den Weg. Dabei ließ er sich noch einmal durch den Kopf gehen, wie Niccolini auf seinen Anruf reagiert und was er gesagt hatte. Dass jemand nichts mit der Polizei zu tun haben wollte, war völlig normal, demnach war die Nervosität, die er in der [58] Stimme des Mannes bemerkt hatte, wohl nicht weiter verwunderlich. Dazu kam noch, dass Dottor Niccolini von dem Krankenhaus aus gesprochen hatte, in dem seine tote Mutter lag.
Die Schönheit des Tags weckte ihn aus seinen Grübeleien. Scharfer Geruch brennenden Laubs entführte ihn in längst vergangene Zeiten, als er und sein Bruder in spätherbstlicher Freiheit auf den Inseln der laguna herumstromerten, den Bauern bei der letzten Ernte des Jahres halfen und von unbändigem Stolz erfüllt ihren Lohn - Tüten voller Obst und Gemüse - nach Hause trugen.
Er überquerte den Campo SS. Giovanni e Paolo und erfreute sich am Spiel des Lichts in den bunten Fenstern der Basilika. Dann gelangte er ins Ospedale. In der riesigen Eingangshalle herrschte Dämmerung, und auf dem Weg zum obitorio, der zwar durch Wandelgänge und Innenhöfe führte, verlor sich durch die Mauern ringsum das Gefühl, im Freien zu sein.
Im Warteraum vor der Pathologie stand ein Mann. Groß und kräftig gebaut, hatte er den Körper eines Ringers am Ende seiner Karriere; die Muskeln verloren bereits ihre Spannung, waren aber noch nicht zu Fett geworden. Er sah auf, als Brunetti eintrat, schien ihn aber nicht wirklich wahrzunehmen.
»Dottor Niccolini?«, fragte Brunetti und streckte die Hand aus.
Der Arzt musste sich offensichtlich erst von seinen Gedanken losreißen, ehe er die Anwesenheit eines Gegenübers zur Kenntnis nehmen konnte. »Ja«, sagte er schließlich. »Sind Sie der Polizist? Entschuldigen Sie, aber ich habe Ihren Namen vergessen.«
Niccolini nahm wie automatisch die dargebotene Hand, packte fest zu, ließ aber sofort wieder los. Brunetti fiel auf, dass sein linkes Auge etwas kleiner als das rechte war oder ein wenig schief stand. Beide waren dunkelbraun, ebenso sein Haar, das an den Schläfen zu ergrauen begann. Nase und Mund waren überraschend zierlich für einen Mann seiner Statur, als seien sie für ein kleineres Gesicht gedacht gewesen.
»Es tut mir leid, dass wir uns unter diesen Umständen treffen müssen«, sagte Brunetti. »Das muss sehr schwer für Sie sein.« Für solche Fälle sollte es eine Formelsprache geben, dachte Brunetti, die einem über die Befangenheit hinweghilft.
Niccolini nickte, presste die Lippen zusammen, schloss die Augen und wandte sich plötzlich von Brunetti ab, als habe er an der Tür zum Leichenraum ein Geräusch gehört.
Brunetti legte die Hände auf den Rücken. Viel zu oft hatte er hier schon gestanden und den typischen Geruch dieses Raums wahrgenommen: etwas durchdringend Chemisches, das vergeblich versuchte, diese andere, animalische, feuchtschwüle Ausdünstung zu überlagern. An der Wand gegenüber hing eins dieser Horrorplakate, denen man in Krankenhäusern nicht entgehen kann: grotesk vergrößerte Abbildungen von Zecken, die Enzephalitis und Borreliose übertrugen.
Der Mann stand wieder von ihm abgewandt, und Brunetti fielen nur Banalitäten ein. »Ich möchte Ihnen mein Mitgefühl aussprechen, Dottore«, sagte er, bevor ihm einfiel, dass er das bereits getan hatte.
Niccolini antwortete nicht sofort, er drehte sich auch nicht [60] um. Schließlich sagte er leise und mit gequälter Stimme: »Ich habe selbst schon Obduktionen durchgeführt.«
Brunetti schwieg. Der andere zog ein Taschentuch aus der Hosentasche, fuhr sich damit übers Gesicht und putzte sich die Nase. Als er sich kurz umdrehte, schien er irgendwie gealtert. »Die wollen mir nichts sagen - weder wie sie gestorben ist, noch warum eine Autopsie vorgenommen wird. Ich kann nur hier herumstehen, allein mit meinen Gedanken.« Er verzog den Mund zu einer schmerzlichen Grimasse, und Brunetti fürchtete schon, der Arzt werde in Tränen ausbrechen.
Da ihm keine passende Erwiderung einfiel, ließ Brunetti ein wenig Zeit verstreichen, näherte sich und legte Niccolini eine Hand auf den Arm. Der Mann versteifte sich, als könnte der Berührung ein harter Schlag folgen. Sein Kopf fuhr herum, und er starrte Brunetti an wie ein verängstigtes Tier. »Kommen Sie, Dottore«, sagte Brunetti beschwichtigend. »Vielleicht sollten Sie sich hinsetzen.«
Der andere gab seinen Widerstand auf und ließ sich zu einem der Plastikstühle führen. Brunetti ließ seinen Arm los und wartete, bis der Arzt sich gesetzt hatte. Dann zog er sich selbst einen Stuhl heran und nahm neben ihm Platz.
»Die Nachbarin, die über Ihrer Mutter wohnt, hat uns letzte Nacht angerufen«, begann er.
Niccolini schien einige Zeit zu brauchen, ehe er Brunetti verstanden hatte, und sagte dann nur: »Sie hat mich heute früh benachrichtigt. Deswegen bin ich hier.«
»Was hat sie Ihnen gesagt?«, fragte Brunetti.
Niccolini zerrte an seinen Fingern, er schien das kaum zu merken. Es gab ein seltsam lautes Knacken. »Dass sie nach [61] unten gegangen ist, um mamma zu sagen, sie sei wieder da, und um ihre Post zu holen. Und als sie in die Wohnung ging, hat sie ... sie gefunden.«
Er räusperte sich, nahm plötzlich die Hände auseinander und schob sie wie ein Schuljunge während einer schwierigen Prüfung unter seine Oberschenkel. »Auf dem Fußboden. Sie sagte, sie habe gleich gesehen, dass sie tot war.«
Er holte tief Luft, starrte rechts an Brunetti vorbei und fuhr fort: »Sie sagte, als alles vorbei war und man sie weggebracht hatte - meine Mutter -, habe sie beschlossen, mit dem Anruf bei mir noch zu warten. Bis zum Morgen. Und dann hat sie es getan.«
»Verstehe.«
Der andere schüttelte den Kopf, als hätte Brunetti ihn etwas gefragt. »Sie sagte, ich soll mich bei Ihnen melden - bei der Polizei. Und als ich das tat, sagte man mir - einer von Ihnen - jemand in der Questura -, wenn ich was wissen wolle, müsse ich im Krankenhaus anrufen.« Er zog die Hände wieder hervor und faltete sie im Schoß, wo sie reglos liegen blieben. »Also habe ich hier angerufen. Aber die wollten mir keine Auskunft geben. Die haben mir nur gesagt, ich solle hier vorstellig werden.« Dann sagte er noch: »Deshalb war ich so erstaunt, als Sie mich angerufen haben.«
Brunetti nickte verständnisvoll, fand es aber bemerkenswert, wie sehr Niccolini darauf bedacht war, die Polizei aus der Sache herauszuhalten. Aber wer wäre das nicht? Brunetti versuchte, seinen Argwohn und den Gedanken an eine Bürokratie abzuschütteln, die es fertigbrachte, diesen Mann zu dieser Zeit an diesen Ort zu bestellen. »Ich bitte für diesen Kompetenzwirrwarr um Entschuldigung, Dottore«, sagte [62] er. »In dieser Situation muss das doppelt schmerzlich für Sie sein.«
Jetzt schwiegen sie beide. Niccolini wandte sich wieder seinen Händen zu, und Brunetti kam zu dem Schluss, dass er jetzt besser gar nichts mehr sagte. Die Umstände, der Ort, das Unaussprechliche im Raum nebenan - das alles war bedrückend und versiegelte ihnen die Lippen.
Brunetti hatte zwar nicht auf die Uhr gesehen, aber allzu lange mussten sie nicht warten, bis Rizzardi, nicht im Laborkittel, sondern in Anzug und Krawatte, in der Tür erschien. »Ah, Guido«, sagte er, als er Brunetti sah. »Ich wollte ...«, fing er an, bemerkte dann aber den anderen und begriff, wie Brunetti an seiner Miene ablesen konnte, dass es sich um einen Angehörigen der Frau handeln musste, die er soeben obduziert hatte. Übergangslos wandte er sich ihm zu und sagte: »Ich bin Ettore Rizzardi, medico legale.« Er ging hin und reichte ihm die Hand. »Tut mir leid, dass wir uns hier kennenlernen müssen, Signore.« Brunetti hatte diese Szene schon unzählige Male beobachtet, doch Rizzardis Anteilnahme war so echt, als erlebe er die Situation zum ersten Mal und wolle sein Bestes tun, um die Trauer der Angehörigen zu lindern.
Niccolini stand auf und klammerte sich an Rizzardis Hand. Der Pathologe verzog den Mund, so kräftig packte der andere zu. Dann kam er näher und legte ihm die Linke auf die Schulter. Niccolini entspannte sich ein wenig, stöhnte auf, presste die Lippen zusammen und legte den Kopf in den Nacken. Er atmete ein paarmal tief durch die Nase ein und gab Rizzardis Hand schließlich frei. »Also?«, fragte er beinahe flehend.
[63] Rizzardi schien Niccolinis Tonfall nicht aus der Ruhe zu bringen. »Vielleicht sollten wir das besser in meinem Büro besprechen«, sagte er leise.
Brunetti folgte ihnen zu Rizzardis Büro, das links am Ende des Korridors lag. Auf halbem Weg dorthin blieb Niccolini stehen, und Brunetti hörte ihn sagen: »Ich glaube, ich muss an die frische Luft. Ich möchte nicht mehr hier drin sein.« Brunetti war nicht entgangen, dass der Tierarzt nach Luft rang, also schritt er an Rizzardi vorbei und dann den beiden voraus durch die verschiedenen Gänge und Höfe zum Haupteingang und auf den campo hinaus, wo er feststellte, dass die Schönheit des Tages immer noch auf sie wartete.
Zurück in der Sonne und in der Welt der Lebenden, überkam Brunetti ein heftiges Verlangen nach Kaffee, vielleicht brauchte er auch nur den Zucker. Während die drei die flachen Stufen hinunter- und über den campo gingen, legte Niccolini wieder den Kopf nach hinten und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen - eine Geste, die für Brunetti beinahe etwas Rituelles hatte. An der Colleoni-Statue blieben sie stehen, und Brunetti sah sehnsüchtig nach den Cafés auf der anderen Seite des campo hinüber. Ohne zu fragen, brach Rizzardi in Richtung Rosa Salva auf, drehte sich um und bedeutete ihnen, ihm zu folgen.
An der Bar bestellte Rizzardi Kaffee, die beiden anderen bestätigten mit einem Nicken, dass sie auch einen wollten. Leute standen herum, aßen Gebäck, manche auch schon tramezzini, tranken Kaffee oder einen vormittäglichen spritz. Wie wunderbar, und doch wie entsetzlich, von dort drüben hier hineinzukommen, zum Zischen der Kaffeemaschine und [64] dem Klappern der Tassen, jäh konfrontiert zu sein mit dem, was wir alle wissen und immer gern verdrängen: dass das Leben weitergeht, ganz gleich, was einem von uns geschieht. Es setzt einen Fuß vor den anderen und pfeift mal traurig, mal heiter vor sich hin, hält aber niemals inne.
Als die drei Tassen vor ihnen auf dem Tresen standen, rissen Rizzardi und Brunetti Zuckertütchen auf und rührten den Inhalt in ihren Kaffee. Niccolini starrte seine Tasse an, als wisse er damit nichts anzufangen. Erst als ihn jemand anstieß, der an ihm vorbei seine Tasse zurückstellte, nahm auch er sich Zucker.
Als sie ausgetrunken hatten, legte Rizzardi Geld auf die Theke, und die drei gingen auf den campo hinaus. Ein kleiner Junge, der Brunetti kaum übers Knie reichte, flitzte jauchzend auf einem Tretroller an ihnen vorbei, verfolgt von seinem Vater, der ihm außer Atem nachschrie: »Marco, Marco, fermati.«
Rizzardi lehnte sich an das Geländer vor der Colleoni-Statue und sah die Barbaria delle Tole hinunter, die Basilika zu seiner Linken. Brunetti und Niccolini nahmen ihn in die Mitte. »Ihre Mutter ist an Herzversagen gestorben, Dottore«, sagte Rizzardi unvermittelt und ohne Niccolini anzusehen. »Es muss sehr schnell gegangen sein. Ich weiß nicht, ob sie große Schmerzen hatte, aber ich kann Ihnen versichern, dass es sehr schnell gegangen ist.«
Unterdessen schallte weiterhin Marcos Jubel über die Entdeckung der Geschwindigkeit über den Platz.
Niccolini atmete erleichtert auf, wie jeder es bei einer solchen Auskunft tun würde. Die drei Männer lauschten dem Geschrei des Jungen und den mahnenden Rufen seines Vaters.
[65] Niccolini räusperte sich und sagte mit belegter Stimme: »Signora Giusti - die Nachbarin meiner Mutter - sagt, sie hat Blut gesehen.« Er schwieg, und als Rizzardi nichts darauf erwiderte, fragte er: »Stimmt das, Dottore?« Brunetti sah Niccolinis Hände, zu Fäusten geballt, vor Anspannung zittern.
Der kleine Junge sauste lärmend an ihnen vorbei, und als er das andere Ende des campo erreichte, sah Rizzardi Brunetti fragend an, als wünsche er sich von ihm auch einen Beitrag, doch Brunetti blieb stumm, neugierig zu erfahren, was der Pathologe Niccolini zu sagen hatte.
Rizzardi stützte sich mit beiden Händen hinten am Geländer ab. »Ja, es gab Befunde, aber nichts davon steht im Widerspruch zu einem Herzversagen«, sagte Rizzardi. Brunetti entging nicht, dass der Pathologe sich in medizinischen Jargon flüchtete und den schwachen Fleck unerwähnt ließ. Dass Rizzardi den Abdruck für bedeutungslos hielt, schloss er aus: Dann hätte er sich nicht so nebulös ausgedrückt.
Brunetti beobachtete, ob oder wie Niccolini auf diese nichtssagende Formulierung reagierte, aber der nickte nur. Rizzardi fuhr fort: »Wenn Sie wollen, kann ich versuchen, Ihnen genau zu erklären, was geschehen ist. Aus medizinischer Sicht, meine ich.« Der Pathologe hatte, wie Brunetti aus dessen leutseligem Lächeln schloss, keine Ahnung, was Niccolini von Beruf war, und konnte daher auch nicht wissen, wie der andere auf seine Herablassung reagieren würde.
Niccolini bat mit sehr leiser Stimme: »Könnten Sie das mit den ›Befunden‹ etwas genauer ausführen?«
Sein Ton, nicht seine Worte, ließ Rizzardi aufhorchen. [66] »Es gab Hinweise auf ein Trauma«, sagte er. Aha, dachte Brunetti: Jetzt kommen wir zu den Druckstellen.
Niccolini ließ das auf sich wirken und bemerkte schließlich bemüht sachlich: »Es gibt viele Arten von Traumata.«
Brunetti meinte einschreiten zu müssen, bevor Rizzardi zu einer langwierigen Erklärung dieses Ausdrucks ansetzte und Niccolini noch mehr gegen sich aufbrachte. »Ich denke, du solltest wissen, dass Dottor Niccolini Tierarzt ist, Ettore.«
Rizzardi schwieg überrascht, zeigte sich dann aber erfreut. »Ah, dann kann er mir ja folgen«, sagte er.
Niccolini stöhnte laut auf. Eine Hand unwillkürlich zur Faust geballt, das Gesicht bleich vor Zorn, fuhr er zu dem Pathologen herum.
Rizzardi trat vom Geländer weg und hob in instinktiver Abwehr beide Hände. »Dottore, Dottore, nichts für ungut, bitte.« Er musste seine beschwichtigende Geste noch mehrmals wiederholen, ehe der andere, offenbar selbst verblüfft von seinem Verhalten, die Faust sinken ließ. »Ich wollte damit nur sagen«, meinte Rizzardi, »dass Sie etwas von Physiologie verstehen. Das ist alles.« Und schon etwas ruhiger: »Bitte, ich wollte Sie nicht beleidigen.«
War Niccolini so durcheinander, dass er Rizzardis Bemerkung als Abwertung der Tiermedizin aufgefasst hatte? Aber wie konnte man von ihm auch erwarten, in Gegenwart des Mannes, der die Obduktion durchgeführt hatte, einen klaren Kopf zu bewahren?
Niccolini wurde rot, schloss die Augen und nickte mehrmals, dann sah er Rizzardi an und sagte: »Natürlich, Dottore. Ich habe Sie falsch verstanden. Das ist alles so ...«
[67] »Ich weiß. Es ist furchtbar. Ich habe schon viele dieser Situationen erlebt. So etwas ist niemals einfach.«
Jetzt schwiegen sie wieder. Ein Beagle kam aus einem der Läden am Ende des campo, hob an einem Baum das Bein und trabte in den Laden zurück.
Rizzardis Stimme veranlasste Brunetti, sich von dem Hund abzuwenden. »Ich kann nur wiederholen, Ihre Mutter ist an einem Herzversagen gestorben: Das steht außer Zweifel.« Brunetti hatte den Arzt schon so oft mit Angehörigen reden hören, dass er wusste, Rizzardi sagte die Wahrheit, doch er sah ihm auch an, dass er etwas verschwieg.
Rizzardi fuhr fort: »Und um Ihre Frage zu beantworten: Ja, am Fundort gab es Blutspuren. Commissario Brunetti hat es auch gesehen.« Niccolini sah Brunetti fragend an. Brunetti nickte nur und wartete auf Rizzardis Erklärung. »Nicht weit von dort, wo Ihre Mutter gefunden wurde, stand ein Heizkörper. Alles spricht dafür, dass sie beim Sturz mit dem Kopf dagegengeschlagen ist. Wie Sie wissen, bluten Kopfwunden häufig sehr stark, da aber der Tod nach dem Herzversagen so schnell eingetreten ist, kann sie nicht lange geblutet haben, und auch dies entspricht dem, was wir vorgefunden haben.« Rizzardis Ausdrucksweise rückte mit jedem Satz näher an die Behördensprache schriftlicher Obduktionsberichte und Sitzungsprotokolle heran.
Um Fassung ringend, hakte Niccolini noch einmal nach: »Aber gestorben ist sie an dem Herzversagen?« Brunetti fragte sich, wie oft er sich das noch anhören musste.
»Ohne jeden Zweifel«, erklärte Rizzardi mit der ganzen Autorität einer Amtsperson, was bei Brunetti, dem bei den anfänglich so ausweichenden Auskünften des Pathologen [68] schon leicht unbehaglich zumute gewesen war, endgültig die Alarmglocken schrillen ließ. Brunetti hatte keine Ahnung, was Rizzardi verheimlichte, war sich jetzt aber sicher, dass es da etwas gab.
Niccolini nahm die frühere Haltung des Pathologen ein und lehnte sich mit dem Rücken an das Geländer.
Lautes Kriegsgeschrei lenkte ihre Aufmerksamkeit ans hintere Ende des campo, wo Marco in immer engeren Kreisen um einen der Bäume herumraste. Brunetti sah dem Jungen zu und wunderte sich über Niccolinis Verhalten. Hinterbliebene äußerten Trauer oder brachen in Tränen aus, das war normal. Er hatte in seiner Karriere aber auch das Gegenteil erlebt: kaltherzige Befriedigung über den Tod von Vater oder Mutter. Niccolini hingegen war wie gelähmt, und zugleich wirkte er nervös. Warum sonst nötigte er Rizzardi zu wiederholen, dass seine Mutter eines natürlichen Todes gestorben war?
Rizzardi schob den Ärmel seines Jacketts hoch und sah auf die Uhr. »Entschuldigen Sie, Signori, aber ich habe eine Verabredung.« Nachdem er Niccolini die Hand gegeben und sich höflich verabschiedet hatte, sagte er Brunetti, er werde ihm den schriftlichen Bericht so bald wie möglich zukommen lassen und bitte um Rückruf, falls noch Fragen offen seien.
Niccolini und Brunetti sahen dem Pathologen schweigend nach, während er über den campo ging und im Krankenhaus verschwand.