33
Wie sich beim Röntgen herausstellte, war Lous Fuß am Knöchel und am unteren Teil des Schienbeins gebrochen. Sechs Wochen lang musste sie einen Gips tragen, dann vier Wochen eine Schaumstoffschiene.
Auf einer Bahre war sie ins Anchorage General Hospital gerollt worden. Nun lag sie in einem Untersuchungsraum und fragte sich: Wieso bekommen die Filmheldinnen, die ihr Leben riskieren, um andere Leute zu retten, immer nur ein paar Kratzer ab? Während die Heldinnen des wirklichen Lebens wie ich eine Spiralfraktur am Schienbein erleiden, einen hässlichen Gips kriegen und herumhumpeln müssen wie Sigourney Weaver in Die Waffen der Frauen? Übrigens keine besonders sympathische Filmfigur …
Natürlich war die Verletzung noch nicht alles, was Lou von einer Filmheldin unterschied. Da war noch die Sache mit den Typen. Lou bekam einfach keinen ab. Die Filmheldinnen bekamen am Ende immer ihre Typen. Nur Lou nicht.
Klar, Jack hatte sie zu Sheriff O’Malleys Geländewagen getragen, er hatte sie auf der Fahrt zum Flughafen begleitet und während des Flugs sogar ihre Hand gehalten. Er ging mit ihr in die Notaufnahme, wo mehrere Patienten warteten, die nach der Schwere ihrer Verletzungen eingeteilt waren, und ihn fragten, ob er Dr. Rourke sei und sich mal ihren Nesselausschlag ansehen könne …
Und da hatte Lou ihn zum letzten Mal gesehen, denn sie war auf die Unfallstation gebracht worden, die Besucher nicht betreten durften.
Nun wartete sie im Untersuchungsraum, bis der Arzt zurückkehren und ihr den Gips anlegen würde. Solange sie sich nicht bewegte, schmerzten ihr Knöchel und der untere Teil des Schienbeins nicht. Sie hatte sich auf der Untersuchungsliege ausgestreckt und starrte durch das Fenster auf den Parkplatz des Krankenhauses, es war eine trostlose Aussicht. Inzwischen hatte es wieder zu schneien begonnen. Hinter einem Discounter auf der anderen Straßenseite ragte der Mount McKinley empor, weiß und grau und majestätisch. Seit sie mit Jack Townsend auf diesem Berg gestrandet war, schienen tausend Jahre verstrichen zu sein. Beinahe wünschte sie sich in Donalds Hütte zurück. Dort waren sie wenigstens sicher vor so grausigen Szenen gewesen, wie sie sich diesen Vormittag am Drehort abgespielt hatten.
Wer hätte gedacht, dass Tim Lord, der Oscar-Preisträger und größenwahnsinnige Regisseur, in krankhafter Eifersucht einen so tückischen Plan schmieden würde, um den Ex seiner Frau loszuwerden? Lou jedenfalls nicht. Sie hatte geglaubt, dass Vicky und Tim eine glückliche Ehe führten.
Wie ahnungslos war sie gewesen …
Während sie über ihr mangelndes Vorstellungsvermögen nachdachte, klopfte es an der Tür. Sofort beschleunigte sich Lous Puls, denn sie hoffte, Jack würde endlich zu ihr kommen. Andererseits war er nicht der Typ, der anklopfte. »Herein!«, rief sie.
Zu ihrer Verblüffung trat Vicky ein – bleich und zerbrechlich und erschöpft. »Lou«, sagte sie mit schwacher Stimme.
Lou starrte ihre beste Freundin an, die noch nie so kaputt ausgesehen hatte. »Geht es dir gut, Vicky?«
»Ich bin hier, um rauszufinden, wie es dir geht …« Plötzlich verzerrte sich Vickys Gesicht, das trotz Leid und Kummer immer noch hübsch war, dann warf sie sich auf Lou, wobei der gebrochene Fuß qualvoll erschüttert wurde. »O Lou, Lou«, schluchzte sie, »es tut mir so schrecklich leid! Wirst du mir jemals verzeihen?«
»Was … was denn?«, stammelte Lou. Es fiel ihr schwer zu sprechen, weil heftige Schmerzen durch ihr ganzes Bein schossen. Mühsam würgte sie hervor: »Es war nicht deine Schuld.«
»Doch!« Vickys Tränen fielen auf Lous Haar. »Hätte ich bloß den Mund gehalten! Hätte ich bloß nachgedacht, bevor ich was sagte! Niemals hätte ich Tim von Jack erzählen dürfen. Ich weiß nicht einmal, ob es wirklich stimmt. Dass ich ihn immer noch liebe. Als Jack Tim heute zusammenschlug – da machte ich mir viel mehr Sorgen um meinen Mann. Also muss er mir wohl mehr bedeuten, nicht wahr?«
»Hoffentlich«, bemerkte Lou trocken. »Immerhin bist du seine Frau.«
»Nicht mehr lange«, erwiderte Vicky. Seufzend richtete sie sich auf. »Er wurde verhaftet. Und ich fürchte, nicht einmal Johnnie Cochran wird ihn da rauslavieren. Natürlich will ich nicht mit einem – Sträfling verheiratet bleiben. Ich meine, genauso gut könnte ich in die Wohnwagensiedlung zurückkehren, aus der ich mich hochgearbeitet habe.«
Bestürzt zuckte Lou zusammen. »Tut mir so leid …«
»Schon gut.« Offenbar fühlte Vicky sich etwas besser, denn sie kämmte mit kunstvoll manikürten Fingern ihr zerzaustes Haar. »Außerdem überlege ich mir … ob ich diesen Sheriff nicht sexy finden soll.«
Lou rang fassungslos nach Luft. »Vicky!«
Lässig zuckte ihre Freundin die Schultern. »Dagegen bin ich machtlos, er hat nun mal diese große – Waffe. Jedenfalls, ich wollte nur sehen, ob du okay bist, und mich entschuldigen. Jetzt sollte ich gehen.«
»Warte …« Lou hob eine Hand, um sie zurückzuhalten. »Da gibt es etwas, das ich dir sagen muss. Über Jack … und mich.«
»Oh …« Vicky stand bereits vor der Tür und blinzelte. »Meinst du die Tatsache, dass ihr die letzte Nacht zusammen verbracht habt?«
Jetzt war es Lou, die irritiert blinzelte. »Wie … wieso weißt du das?«
Vicky verdrehte die schönen blauen Augen. »Das weiß doch jeder im Hotel. Und ich würde mich nicht wundern, wenn es nächste Woche im Us-Magazin steht.«
Nervös biss Lou sich auf die Lippen. »Macht es dir … etwas aus?«
»Ob es mir etwas ausmacht?« Vicky schüttelte den Kopf. »Du bist ein großes Mädchen, Lou. Du hast es selbst im Hotel gesagt. Also kannst du auf dich aufpassen. Tu mir bloß einen Gefallen …« Beinahe brach ihre Stimme. »Lass dir nicht das Herz brechen.«
Ohne ein weiteres Wort verließ sie den Untersuchungsraum, bevor Lou ihr nachrufen konnte: Zu spät!
Allzu lange blieb sie nicht allein, um darüber nachzudenken, was sie soeben gehört hatte. Die Tür öffnete sich erneut. Da sie den Arzt erwartet hatte – der ziemlich lange brauchte, um ein bisschen Gips zu suchen -, hob sie beim Anblick ihres Vaters erstaunt die Brauen. Frank legte einen Finger an seine Lippen. Dann eilte er mit Eleanor Townsend ins Zimmer. Verschwörerisch lächelte er seine Tochter an. »Vorerst keine Besuche, haben sie uns erklärt«, sagte er und schloss die Tür hinter sich. »Aber wir sind am Wachtposten vorbeigeschlichen, während Melanie Dupre ihn abgelenkt hat. Ihr muss bei der Explosion ein Stück vom Mount McKinley ins Auge geflogen sein – oder so.«
»Oh.« Verblüfft schaute Lou von ihrem Vater zu Jacks Mutter. Wie sie zugeben musste, sahen die beiden wie glückliche Kinder aus. »Freut mich, euch zu sehen.«
»Wir haben Ihnen was mitgebracht.« Eifrig kramte Eleanor in den Tiefen ihrer Gucci-Tasche und nahm eine große Schachtel Pralinen heraus, die sie Lou überreichte. »Ihr Vater hat mir gesagt, so was würden Sie gern essen.«
Erfreut musterte Lou den Inhalt der Schachtel. Sündteure Schokolade. Wie sie anerkennend feststellte, waren einige Pralinen mit Erdnusskrokant gefüllt. »Wow! Danke.«
»Es ist nur eine Kleinigkeit …« Verlegen zuckte Eleanor die Schultern. »Immerhin haben Sie Ihr Leben riskiert, um meinen Sohn zu retten. Schon mehrmals – nach allem, was ich gehört habe. Keine Ahnung, wie ich Ihnen das jemals vergelten soll … Aber ich würde gern mit einer Einladung in mein Haus in Cape Cod beginnen. Ich würde mich so freuen, wenn Sie im Sommer eine Zeit lang zu mir kommen würden. Vielleicht mit Ihren Brüdern.«
»Ich fahre auch hin«, warf Frank ein.
Erst jetzt bemerkte Lou, dass er Eleanors Hand festhielt, und sie spürte einen seltsamen Stich im Herzen. Eifersucht konnte es nicht sein – Eifersucht auf das Glück ihres Vaters, nachdem er so viele Jahre allein gewesen war? Ganz sicher nicht.
Aber warum war es für Dad und Jacks Mutter so einfach?
Sie mochten einander, sie hielten sich an den Händen. Da gab es kein Hinterfragen oder die Sorge, man könnte nächste Woche für Cameron Diaz verlassen werden.
Nein. Lou musste sich zusammenreißen und lernen, wie eine Heldin zu leben, ihren Instinkten zu vertrauen, Risiken einzugehen … Während sie darüber nachdachte, entdeckte sie eine große Beule in Eleanor Townsends Handtasche. Im nächsten Augenblick war die Beule verschwunden. »Äh … Mrs. Townsend … ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber Ihre Tasche bewegt sich.«
Lachend schaute Eleanor nach unten. »Oh, das ist nur Alessandro. In dieser Klinik haben Hunde keinen Zutritt. Kaum zu glauben. Also, ich muss schon sagen – was Hunde betrifft, sind die Europäer wesentlich toleranter als die Amerikaner. Wirklich, Alessandro ist weitaus sauberer als einige der Kinder, die hier herumlaufen.«
Lou schenkte ihr ein schwaches Lächeln. Dann beugte sich Frank zu ihr herab und tätschelte ihr den Arm. »Das hast du gut gemacht da draußen, Schätzchen. Ich war so stolz auf dich. Ich wünschte nur, deine Mom wäre dabei gewesen.«
In Lous Augen brannten Tränen. Fabelhaft, dachte sie. Jetzt heule ich auch noch. Wie eine richtige Heldin … »Danke, Dad«, flüsterte sie und wischte mit einem Ärmel über ihr Gesicht.
»Oh, schau doch, was du getan hast, Frank!«, warf Eleanor ihm besorgt vor. »Alles in Ordnung, meine Liebe? Hat man Ihnen kein Schmerzmittel gegeben? Ich kenne den Chefarzt. Soll ich mit ihm reden? Dass man Sie einfach hier liegen lässt ohne Tylenol – das begreife ich nicht.«
»Nein danke, ich bin okay.« Die Augen immer noch voller Tränen, schaute Lou zu ihr auf. »Haben Sie vielleicht Jack irgendwo gesehen?«
»Äh … nein«, antwortete Eleanor und wechselte einen kurzen Blick mit Frank.
Es war eine offensichtliche Lüge. Also hatten sie Jack gesehen, wollten ihr aber nicht verraten, wo. Oder was er getan hatte. Und das konnte nur eins bedeuten – was immer er trieb, sie vermuteten, Lou würde es missbilligen.
Nun, was hatte sie erwartet? Jack hatte sie bereits erobert, die Herausforderung existierte nicht mehr, die Rose war verblüht. Deshalb brach er zu neuen Ufern auf.
O Gott, warum bin ich so ein paranoider Freak?
»O meine Liebe …« Eleanor schaute wieder auf ihre Tasche hinab, die sich erneut ausbeulte. »Jetzt wird es Alessandro zu heiß da drinnen. Frank, wir sollten gehen.«
»Okay«, stimmte er zu und streichelte die Wange seiner Tochter. »Wir warten draußen, bis du entlassen wirst, Schätzchen, und bringen dich ins Hotel.«
Klar. Weil Jack nicht bereit war, diese Aufgabe zu übernehmen.
Trotzdem brachte Lou noch ein Lächeln zustande, winkte den beiden zu, und sie verließen das Zimmer, in der festen Überzeugung, mit ihr wäre alles in Ordnung.
Natürlich war alles in Ordnung. Zumindest würde es bald so sein. Sie war ein starkes Mädchen. Immerhin hatte sie zweiundsiebzig Stunden auf dem Mount McKinley und eine Minensprengung überlebt. Und Bruno di Blase. Also würde sie auch Jack Townsend überleben. Kein Problem.
Und es war pure Ironie, dass, gerade als Lou diesen Gedanken nachhing, Bruno di Blase höchstselbst die Tür öffnete und eintrat, einen rosa Nelkenstrauß in der Hand, den er vermutlich im Souvenirladen des Krankenhauses gekauft hatte. »Klopf, klopf«, sagte er und entblößte grinsend alle seine schneeweißen überkronten Zähne. »Wie geht’s meiner kleinen Heldin? Was du geleistet hast, wird in sämtlichen Nachrichtensendungen gewürdigt.«
Lou starrte ihn einfach nur an. Mein Gott, genügte es nicht, dass ihr Fuß an zwei Stellen gebrochen war und dass sie einem Mordanschlag entkommen war? Dass sie die Flucht eines Mannes verkraften musste, den sie eine Zeit lang für den Richtigen gehalten hatte? Warum tauchte zu allem Überfluss nun auch noch ihr Ex auf?
»Für dich.« Er nahm den Deckel vom Trinkwasserkrug, den eine Schwester für Lou bereitgestellt hatte, und stopfte die Nelken hinein. »Klar, ich weiß, du magst lieber Rosen. Aber die gab’s nicht im Souvenirladen des Krankenhauses. Nun, wie fühlst du dich?«
Lou schaute auf ihre zerrissene Strumpfhose und den geschwollenen Knöchel hinab. »Was glaubst du denn, Barry? Das tut höllisch weh.«
»Oh, das meine ich nicht.« Aus unerfindlichen Gründen runzelte er nervös die Stirn. »Sondern … nun, du weißt schon … du hast einen kaltblütigen Mörder zur Strecke gebracht.«
»So großartig, wie du vielleicht glaubst, fühle ich mich nicht«, entgegnete sie sarkastisch.
»Eigentlich müsstest du vor lauter Freude an die Decke springen.« Barry setzte sich zu ihr auf die Untersuchungsliege. Natürlich, ohne vorher um Erlaubnis zu fragen. »Bald werden alle Produzenten bei dir Schlange stehen. Und People wird es die Story des Jahres nennen. Klar, so was musste ja mal passieren. Jack Townsend konnte sich noch nie am Riemen rei ßen. Dauernd ließ er die Hosen runter. Kein Wunder, dass mal jemand durchgedreht ist und ihn umbringen wollte!«
»Barry …« Zu ihren anderen Besuchern war Lou höflich gewesen, weil – nun, weil sie sie mochte. Bei Barry konnte sie das nicht behaupten. »Was willst du?«
»Was ich will?« Verwirrt runzelte er die Stirn. »Natürlich möchte ich mich vergewissern, dass es dir gut geht. Wir sind doch immer noch Freunde, nicht wahr? Wir waren so lange zusammen. Zehn Jahre kann man nicht einfach abhaken.«
»Warum nicht? Das hast du doch auch getan.«
»Nun ja …« Barry schaute auf seine Hände hinab. Noch bevor sich sein Gesicht veränderte, sah sie die Miene voraus, die er aufsetzen würde – reumütige Zerknirschung. Du meine Güte, dachte sie, er wird sich tatsächlich entschuldigen.
»Keine Ahnung, wie ich’s sagen soll, Lou«, begann er. »Jedenfalls … ich bin vielleicht etwas zu überstürzt aus deinem Bungalow ausgezogen. Ich war so verwirrt. Ich habe über das alles nicht richtig nachgedacht. Und mit Greta … um ehrlich zu sein, es läuft nicht so toll.«
»Ihr seid erst seit vier Tagen verheiratet. So schlimm kann es doch noch gar nicht sein.«
»Statt am Schauplatz meiner Flitterwochen zu bleiben, bin ich bei dir«, betonte er und trug sein Markenzeichen zur Schau, ein charmantes Lächeln. »Wenn das kein untrügliches Zeichen ist …«
Mit großen Augen schaute sie ihn an. Und da erkannte sie, dass ihre feindselige Gesinnung verflogen war, von einem Gefühl gutmütiger Toleranz verdrängt. So etwas empfand sie auch für ihre Brüder. Aber die mochte sie wesentlich lieber. »Du hast Greta noch gar keine richtige Chance gegeben.«
»Doch!« Hastig stand er auf, stieß gegen ihren gebrochenen Fuß, und durch den Nebel ihrer Schmerzen hörte sie sein Geständnis kaum. »Keine Ahnung, was ich mir dabei dachte, als ich dich ihretwegen verließ! Mit dir kann sie sich nicht messen, Lou. Immer denkt sie nur an sich, ständig geht es nur um Greta, Greta, Greta. Auf mich nimmt sie keine Rücksicht. Und du hast stets an mich gedacht. Für mich hast du das Hindenburg -Drehbuch geschrieben – das größte Geschenk, das ein Mann jemals von einer Frau bekam! Dieses Geschenk nahm ich an. Und dann beging ich wie ein Narr den unverzeihlichsten Fehler, den ein Mann nur machen kann – ich gab der edlen Spenderin den Laufpass!« Beschwörend ergriff er eine ihrer Hände. »Verzeihst du mir meine Dummheit?«
»Ja«, murmelte sie, die Augen vor Schmerzen verschleiert. »Was auch immer … Würdest du eine Schwester holen? Mein Fuß … wirklich …«
»Meinst du das ernst?«, rief Barry und presste ihre Hand an seine Brust. »O Lou, wenn du mich zurücknimmst, wäre es das größte Glück meines Lebens. Du schreibst das Pompeji-Drehbuch, alles wird wieder so wie früher …«
»Moment mal«, unterbrach sie ihn verwirrt. »Was meinst du damit?«
»Oh, ich wusste es ja, du würdest mir verzeihen!« Dann beugte er sich hinab, um sie zu küssen …
Mit einer Geistesgegenwart, die sie sich niemals zugetraut hätte, ergriff sie den Krug und schüttete das Wasser mitsamt den Nelken über Barrys Kopf.
Im gleichen Moment öffnete sich die Tür, und Jack Townsend trat ein, die Arme voll rosa Rosen – mindestens fünfzig Stück.
»Hallo.« Seine blauen Augen glitten von Lou, die auf der Untersuchungsliege immer noch den Krug umklammerte, zu Barry, der klatschnass war und voller Nelken und sehr überrascht dreinblickte. »Störe ich?«
»Nein«, sagte Lou.
Und Barry fauchte: »Ja!«
Jack schlenderte zum Metalltisch in der Ecke, auf dem Gefäße mit Verbandszeug standen, und legte die Blumen daneben. »Tut mir leid, dass ich erst jetzt zu dir komme, Lou. Weißt du, wie schwierig es ist, in dieser Stadt anständige Rosen zu finden?«
Als ihr Blick von dem prachtvollen Strauß zu dem Mann schweifte, der ihn mitgebracht hatte, brannten neue Tränen unter ihren Lidern. Fantastisch, nun weinte sie schon wieder … »Danke, die Rosen sind wunderschön«, murmelte sie und errötete.
Gelassen zuckte Jack die Schultern. »Deine Lieblingsblumen, nicht wahr?« Er wandte sich zu Barry, der nasse Nelken von seinem Hemd pflückte. »Äh, Barry … würden Sie Lou und mich ein paar Minuten allein lassen?«
Erst jetzt schien Barry zu registrieren, was Jacks Anwesenheit und die Rosen und Lous glückseliges Erröten bedeuteten. »Großartig!«, stieß er hervor. Auch sein Gesicht nahm eine rötliche Farbe an, die allerdings nicht so attraktiv wirkte. »Einfach großartig, Lou. Also hast du dich mit ihm eingelassen? Bist du verrückt? Er hat allen Frauen in Hollywood das Herz gebrochen. Frag doch Greta!«
Bevor Lou antworten konnte, übernahm Jack die Situation.
Gebieterisch zeigte er auf Barry, und Lou sah, dass seine Fingerknöchel von den Schlägen, die er Tim Lord verpasst hatte, immer noch aufgeschürft waren. »Verschwinden Sie!«, donnerte er.
Barry wich blitzschnell zurück. »Okay, okay, ich räume das Feld. Aber glaub mir, Lou, du machst einen Fehler.« Nach einem letzten angstvollen Blick in Jacks Richtung flüchtete er aus dem Zimmer.
Nachdem die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, ging Jack zu Lou. »Da hat er recht.«
Sie ergriff seine Hand und inspizierte die wunden Fingerknöchel. »Darum müsste sich jemand kümmern.«
»Ich meine es ernst.« Jack schob einen Stuhl zu der Untersuchungsliege und setzte sich. »Bisher hatte ich keine einzige … äh … längere Beziehung.«
Lou schaute in sein Gesicht, das jemand zu reinigen versucht hatte, vielleicht er selber. Doch am Haaransatz zog sich immer noch ein Rußstreifen entlang, der so aussah, als würde er sich niemals entfernen lassen. »Die sind manchmal gar nicht so erstrebenswert, wie man immer glaubt – die langen Beziehungen, meine ich.«
»Bei uns schon«, beteuerte er. »Mit dir ist es anders, Lou. Weder Vicky noch Greta oder Melanie habe ich geliebt. Bei dir ist es – anders.«
Sie starrte ihn an, vergaß ihren gebrochenen Fuß, vergaß seine verletzte Hand, vergaß sogar zu atmen. Nur eins wusste sie – das Happy End, auf das sie niemals zu hoffen gewagt hatte, rückte plötzlich in greifbare Nähe.
»Weil ich dich liebe«, fügte er hinzu. Eindringlich erwiderte er ihren Blick. »Und wegen unseres Zusammenlebens – ich weiß, du hast es mit Barry versucht, und es ist schiefgelaufen. Deshalb dachte ich, wir sollten es auf andere Weise versuchen und heiraten. Das hat noch keiner von uns ausprobiert, und ich glaube, es könnte klappen …«
Lou musste eine neue Tränenflut bekämpfen. Das war nicht der Heiratsantrag, den sie für Jack Townsend in einem Drehbuch geschrieben hätte. Aber es war sein Vorschlag, und er kam von Herzen, und das genügte ihr vollkommen.
»Okay«, antwortete sie mit halb erstickter Stimme. »Klingt gut. Nur noch eins …«
Die strahlende Freude, die sein Gesicht gerade erhellt hatte, verwandelte sich in Angst. »Was?«, fragte er vorsichtig.
»Keine Filme mehr.«
»Abgemacht«, versprach er erleichtert, beugte sich hinab und küsste sie leidenschaftlich. Eine Minute später öffnete eine Krankenschwester die Tür. Sie hörten es nicht – ebenso wenig wie den hastigen Rückzug der verlegenen jungen Frau.
Dieser Kuss jedoch sorgte, ohne dass Jack und Lou sich dessen bewusst waren, noch wochenlang für Gesprächsstoff im Anchorage General Hospital.