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Acht Etagen unter dem Bett, in dem Lou und Jack lagen – emotional und körperlich erschöpft -, ergriff Frank Calabrese ein Mikrofon. »My love burns for you tonight«, sang er mit seiner erstaunlich wohlklingenden Tenorstimme. »Nothing ever felt this right.«
Vergnügt applaudierte Eleanor Townsend, der einzige andere Gast in der Bar des Anchorage Four Seasons. Sie hatte zuvor noch nie etwas von Karaoke gehört und war erstaunt, dass ein Hotel dieser Klasse so etwas tolerierte. Aber das war schließlich Alaska.
Außerdem fand sie Karaoke sehr amüsant. Schade, dachte sie, dass Jack zu müde war, um mit uns zu essen. Es hätte ihm Spaß gemacht, besonders der Elch-Burger, den sie gegessen hatte – köstlich und so fettarm. Auf Franks Vorschlag hin hatte sie ein Bier dazu getrunken. Das passte wunderbar zusammen.
So wie Frank und Karaoke. »And when my heart fire’s burning«, sang er, »you know, it’s for you I’m yearning.«
Unglücklicherweise hatte Eleanor bei der letzten Zeile einen Schluck Bier genommen. Und als sie verächtlich schnaufte – absurd, dieser Text, und völlig lächerlich, dass er einen Oscar gewonnen hatte -, stieg ihr das Getränk in die Nase.
Großer Gott, sie musste so heftig lachen, dass ihr die Flüssigkeit aus den Nasenlöchern rann. Zum letzten Mal war ihr das als Kind passiert, als sie mit ihren Eltern in den Adirondacks gezeltet hatte. Verlegen presste sie eine Serviette auf ihre Nase. Zu ihrer Erleichterung schienen weder Frank noch der Barkeeper etwas zu bemerken.
»When the world goes up in flame«, sang Frank und näherte sich dem großen Finale, »and nothing stays the same, I will whisper your name …« Mit einer schwungvollen Geste verstummte er, verneigte sich zum Dank für Eleanors Applaus und kehrte zum Tisch zurück. »Jetzt sind Sie dran.«
»O nein, Frank«, protestierte sie und legte die Serviette beiseite, »ich kann nicht singen.«
»Wen interessiert das schon? Hier, das Textbuch … Sicher kennen Sie einen dieser Songs. Wie wär’s mit dem da? ›You Light Up My Life.‹ Den kennt jeder.«
»O Frank …« Sie lachte wieder, aber diesmal ohne vorher an ihrem Bier zu nippen. »Sie wissen ja gar nicht, was Sie da von mir verlangen. Wirklich, ich treffe keinen einzigen richtigen Ton.«
»Das hier kennen Sie bestimmt auch.« Er hielt das Buch hoch. »›You’re So Vain.‹ Singen Sie das.«
»Nein, Frank.« Wann hatte sie sich das letzte Mal so herrlich amüsiert? Sie wusste es nicht. Nach Gilberts Tod wohl kaum. Trotz seiner steifen Art konnte er sehr humorvoll sein, wenn er wollte. Seit er gestorben war, führte sie ein ziemlich langweiliges Leben. Sie hatte zwar versucht, sich mit Wohltätigkeits-Events abzulenken. Doch die interessierten sie nicht sonderlich. Gewiss war es viel lustiger, einen Elch-Burger zu essen und mit einem pensionierten Polizisten aus New York City Karaoke zu singen. Wer hätte gedacht, dass sie in Alaska, auf der Suche nach ihrem vermissten Sohn, einem Mann begegnen würde, in dessen Gesellschaft sie sich wieder wie ein Teenager fühlte? Sie selbst gewiss nicht.
»Natürlich müssen Sie was singen«, beharrte Frank. »Das hab ich ja auch getan.«
»Also gut«, gab sie nach und seufzte dramatisch. »Aber ich suche mir meinen Song selber aus, besten Dank.« Sie ergriff das Buch, blätterte darin und las die Titel. Beinahe in jedem kam das Wort »Liebe« vor. Und gab es ein besseres Thema als dieses eine, das in normalerweise vernünftigen Menschen so alberne, schwindelerregende Emotionen erzeugte?
Wie auch bei Eleanor an diesem Abend.
Sie fühlte sich überschäumend vor Energie, wie Champagnerbläschen in einem Kristallkelch. Einfach lächerlich, denn es musste fast Mitternacht sein – und zu Hause in New York sogar kurz vor drei Uhr morgens. Wann war sie zum letzten Mal so lange aufgeblieben? Sie erinnerte sich nicht. Unmöglich, dass sie sich in einen pensionierten Polizisten verliebt hatte, einen fünffachen Vater, den sie erst seit drei Tagen kannte …
Und doch – Alessandro hatte ihn auf Anhieb gemocht. Und der täuschte sich nie in einem Menschen.
Mit dem Textbuch in der Hand stand sie auf und fühlte sich so übermütig und fröhlich wie ein fünfzehnjähriges Mädchen. »Jetzt werde ich was singen«, verkündete sie.
Frank applaudierte, und der freundliche Barkeeper ließ sich die Nummer des Songs nennen, die er in den Computer tippte.
Dann umklammerte Eleanor das Mikrofon und wandte sich zu ihrem Publikum, das aus einer einzigen Person bestand. Der Barkeeper, in eine Patience vertieft, beachtete sie nicht. Aus voller Kehle begann sie, ein Lied vorzutragen, das sie noch nie gehört hatte, und sie wusste auch gar nicht, wie man es singen musste. Aber es war der erste Titel, den sie im Moment der Erkenntnis ihrer Liebe zu Frank Calabrese gelesen hatte. Und deshalb würde »Kung Fu Fighting« stets einen besonderen Platz in ihrem Herzen einnehmen.
 
Zwölf Etagen über der Bar des Four Seasons Hotels fand Vicky Lord keinen Schlaf.
Sie müsste doch diesen ersten sorgenfreien Nachtschlaf seit Jacks und Lous Verschwinden eigentlich genießen. Immerhin waren sie jetzt in Sicherheit. Als sie erfahren hatte, dass die beiden in einem Hubschrauber abgestürzt und wahrscheinlich tot seien, hatte sie sich gefühlt, als wäre ein Teil von ihr gestorben. Fast sechsunddreißig Stunden lang war sie unfähig gewesen, aus dem Bett zu steigen.
Dann erfuhr sie, dass sie möglicherweise überlebt hatten, und ihre Erleichterung kannte keine Grenzen. Vor lauter Glück hatte sie sogar Lupes Wochenlohn um hundert Dollar erhöht.
Jetzt waren die beiden wieder da, wohlbehalten, in Sicherheit. Sie war darüber so froh gewesen, dass sie eine kleine Willkommensparty im Penthouse arrangiert und den Hotelvorrat an Dom Perignon und Cocktailshrimps aufgekauft hatte. Eine sehr nette Party … Aber Jack und Lou schienen die Geste nicht zu schätzen.
Was während der Party geschehen war und was sie später in den Elf-Uhr-Nachrichten gesehen hatte, raubte ihr den Schlaf. Nicht einmal die Tabletten halfen ihr, die ihr der Doktor kurz vor der Hochzeit verschrieben hatte, weil sie so nervös gewesen war. Hellwach saß sie im Wohnzimmer des Penthouse, und das würde sich auch nicht ändern, solange sie an die verwirrenden, schrecklichen Neuigkeiten denken musste, die Jack ihr erzählt hatte.
Dass auf ihn geschossen worden war.
Nicht nur das, die Killer hatten ihn auch noch durch den Wald verfolgt und ihre Waffen auf ihn gerichtet. Offenbar war der Pilot bei dem Absturz gar nicht gestorben. Das hatte einer der lokalen TV-Sender in einer Sondersendung bestätigt.
»Im Fall um den Absturz des Helikopters, in dem der Action-Star Jack Townsend und ein anderer Passagier zum Set von Copkiller IV fliegen sollten, trat eine erstaunliche Wende ein«, erklärte der Reporter von Channel Eleven. »Wie das Büro der Pathologie von Anchorage meldet, starb der Hubschrauberpilot Samuel Kowalski nicht wie ursprünglich vermutet bei der Bruchlandung. Stattdessen wurde er von einer Kugel getötet, die in seinen Schädel eindrang, bevor seine sterblichen Überreste im Wrack des R-44 verkohlten. Er hatte diesen Hubschrauber für eine vom Filmstudio engagierte Privatfirma geflogen. Das Büro des Sheriffs von Myra weigert sich, die neuesten Entwicklungen in diesem bizarren Fall zu kommentieren. Fast zweiundsiebzig Stunden lang saß Townsend zusammen mit der Drehbuchautorin des Kassenschlagers Hindenburg in der Wildnis von Alaska fest. Wie sein PR-Manager berichtet, ruht sich Jack Townsend, ehemaliger Star der bekannten Arztserie STAT und aktueller Star der erfolgreichen Copkiller-Filme, zurzeit von seinem Martyrium aus. Aber er wird planmäßig an den Dreharbeiten zu seinem aktuellen Film teilnehmen. Nun zu weiteren Nachrichten des Tages …«
Die weiteren Nachrichten hatte Vicky sich nicht angehört. Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit galt einem einzigen Wort – Kugel. Eine Kugel war in Samuel Kowalskis Schädel eingedrungen. Und er war nicht, wie man zunächst vermutet hatte, bei der Bruchlandung ums Leben gekommen. Was Jack und Lou auf der kleinen Party erzählt hatten – sie seien auf einer Strecke von mehreren Dutzend Kilometern von bewaffneten Männern verfolgt worden – stimmte also tatsächlich. Das konnte nur eins bedeuten.
Und aus diesem einen Grund saß Vicky jetzt auf der Couch im Wohnzimmer der Hotelsuite, die Fernbedienung in der Hand, und zappte von einem Kanal zum anderen, ohne wahrzunehmen, was auf dem Bildschirm geschah.
Jemand versuchte, Jack zu töten. Nicht Lou. Nein, Lou schwebte nicht in Gefahr. Ihr Leben war nur bedroht worden, weil sie Jack auf dem Flug begleitet hatte. Die Killer hatten es auf Jack abgesehen – immer noch.
Natürlich musste sie ihn warnen. Das wusste sie. Dazu hatte sich bisher keine Gelegenheit ergeben. Auf der Party war er nur ganz kurz geblieben, bevor seine Mutter ihn entführt hatte. Verständlicherweise wollte sie mit ihrem Sohn, den sie verloren geglaubt hatte, für eine Weile allein sein.
Nach der Party rief Vicky in seinem Zimmer an, doch er meldete sich nicht. Immer wieder hatte sie es versucht, ohne Erfolg.
Jedenfalls musste sie ihn verständigen, bevor es zu spät war …
»Vicky?«
Die Stimme kam aus dem dunkelsten Teil des Zimmers und erschreckte sie so sehr, dass sie beinahe von der Couch fiel. Doch es war nur ihr Ehemann, der nebenan im Bett lag und verschlafen nach ihr rief.
»Vicky …« Nun trat Tim Lord in einem grauen Seidenpyjama und einem schwarzen Morgenmantel aus dem Schatten und kam zu ihr. Wie er während der Arbeit aussah, interessierte ihn kaum. Er trug am liebsten Jeans und seine unvermeidlichen Cowboystiefel. Aber fürs Bett kleidete er sich hochelegant. Das tat er, wie er ihr anvertraut hatte, für seine Mutter, die ihn als Kind ganz allein großziehen musste, nachdem sein Vater für immer verschwunden war, und die sich außer Essen und Schulkleidung für ihn nichts leisten konnte.
»Warum bist du noch auf?«, wollte er wissen. »Fühlst du dich nicht gut?«
Hastig schaltete sie den Fernseher aus. Im bläulichen Licht sollte Tim nicht merken, wie blass sie ohne Make-up aussah. »Doch, es geht mir gut.«
»Dann komm ins Bett. Ohne dich kann ich nicht schlafen, das weißt du. Und morgen habe ich einen anstrengenden Tag vor mir. Da drehen wir die Minenszene. Die allerletzte. Danach packen wir alles zusammen und reisen ab.«
Gehorsam stand sie von der Couch auf und ließ sich von ihrem Ehemann ins Schlafzimmer führen.
Dass er nicht herausfand und nicht einmal ahnte, was sie wusste, verdankte sie ihren schauspielerischen Fähigkeiten. Es gab keinen Anhaltspunkt, der sein Misstrauen erregen konnte. Und er nahm auch nicht wahr, dass sie die ganze Nacht wach neben ihm lag …
… bis alle Hotelbewohner – ausgenommen des Personals, das schon auf den Beinen war – von der Explosion aus dem Schlaf gerissen wurden, die zwei Etagen tiefer in Jack Townsends Zimmer einschlug.