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»O Gott.« Lou ließ ihren Kopf auf die klebrige Tischplatte in der Wartehalle des Flughafens fallen. »Warum habe ich dieses verdammte Drehbuch jemals geschrieben?«
Vicky Lord saß ihr gegenüber. Mit einem kummervollen Ausdruck im sorgsam geschminkten Gesicht musterte sie ihre Freundin. »Lou, Schätzchen, du schmierst Ketchup in dein Haar.«
»Was für eine Rolle spielt das schon?« Ketchup hin, Ketchup her – die Tischplatte fühlte sich angenehm kühl auf Lous Stirn an. »Wenn ich ihm Starthilfe verschaffen wollte … warum habe ich ihm dann keinen Porsche gekauft?«
»Nimm den Kopf hoch, Schätzchen. Du weißt nicht, was die Leute auf diesem Tisch schon alles gemacht haben.«
»Aber dann wäre er sicher genauso schnell davongerast«, fügte Lou unglücklich hinzu und ließ den Kopf liegen, wo er war. »Wenigstens wüsste dann nicht die ganze westliche Welt, was passiert war. Und CNN hätte die Story nicht breitgetreten.«
»Moment mal, Lou …« Vicky öffnete ihre Prada-Handtasche, die sie auf den Schoß gestellt hatte, um sie vor Flecken zu schützen. »In der westlichen Welt weiß nicht jeder über Barry und Greta Bescheid. Sicher gibt es in Montana einige Einsiedler – die mit den Bomben -, die nichts von den beiden gehört haben.«
»Großer Gott!«, jammerte Lou. »Warum habe ich keine romantische Komödie geschrieben? Dann wären sie sich am Set niemals nähergekommen. Es wäre zu vorhersehbar gewesen. So was hätten die PR-Typen nie erlaubt.«
»Moment mal, Lou«, wiederholte Vicky und wühlte im Inhalt ihrer Handtasche. »Du darfst diesem Hindenburg -Film nicht an allem die Schuld geben. Wenn ich mich recht entsinne, hattest du schon vorher Probleme mit Barry.«
Ohne den Kopf vom Tisch zu heben, blinzelte Lou ihre Freundin an. Durch die Fenster strömte der Morgensonnenschein herein, und ein rosiger Strahl streifte Vicky, die im sanften Licht wie ein Engel aussah.
Aber Vicky Lord sah immer wie ein Engel aus. Sie hatte es nicht allein ihrem makellosen Teint zu verdanken, dass sie nun schon das fünfte Jahr in Folge als Noxema-Mädchen gebucht wurde. Sie leuchtete auch von innen heraus. So würde Lou, die zu viel Zeit am Computer verbrachte, niemals leuchten können. Weder von innen noch von außen.
»Ja, sicher hatten wir Probleme«, gab Lou zu. »Wir waren … wie lange zusammen? Zehn Jahre? Und nach zehn Jahren wollte sich der Kerl noch immer nicht binden. Das war unser Problem.«
Warum sie das Bedürfnis empfand, der engelsgleichen Erscheinung auf der anderen Seite des Tisches so intime Dinge anzuvertrauen, wusste sie nicht. So etwas würde sie nie verstehen. Denn Vicky – Model, Schauspielerin und das aktuelle It-Girl Hollywoods – bekam immer alles, was sie wollte.
Nun, das stimmte nicht ganz. Einmal hatte es etwas gegeben, das sie gewollt und nicht gekriegt hatte, einen Typen, nach dem sie verrückt gewesen war. So wie Lou hatte sie eines Tages von einer festen, dauerhaften Bindung gesprochen und ihn damit in die Flucht geschlagen. Gewiss, das lag einige Jahre zurück. Jetzt war Vicky glücklich verheiratet – mit einem Mann, der sie dermaßen vergötterte, dass die beiden immer wieder als Hollywoods Vorzeigepaar bezeichnet wurden. Aber vielleicht – nur vielleicht – verstand sie trotzdem, was Lou gerade durchmachte.
»Barry hat behauptet, er könne mich unmöglich heiraten, weil er mir eine Ehe mit einem arbeitslosen Schauspieler nicht zumuten wolle«, erklärte Lou. »Also habe ich dieses Drehbuch geschrieben und gehofft, er würde eine Rolle in dem Film bekommen.«
Endlich fand Vicky, was sie in ihrer Handtasche gesucht hatte – ihre Christian-Dior-Puderdose. Sie öffnete sie und inspizierte im Spiegel ihre neuen mit Collagen aufgepolsterten Lippen. »Schätzchen … du hast nicht nur ein Drehbuch mit einer Rolle für Barry geschrieben, sondern einen Mr. Nobody praktisch über Nacht zum Megastar gemacht. Und wie hat er’s dir gedankt?« Sie blickte von der Puderdose auf und fixierte Lou mit der vollen Strahlkraft ihrer azurblauen Augen. »Indem er mit diesem eiskalten blonden Biest weggerannt ist! Aber ich begreife gar nicht, warum dich das so schockiert. Er ist doch schon vorher ausgezogen. Wann war das noch mal?«
»Vor ein paar Wochen«, seufzte Lou. »Aber er hat nicht gesagt, er hätte sich in eine andere verliebt. Nur dass er keine feste Bindung wollte.«
»Offensichtlich meinte er damit, er wollte sich nicht an dich binden. Schätzchen, so was habe ich auch hinter mir. Damals hat Jack mich aus dem gleichen Grund abserviert. Erinnerst du dich? Nur hat er Miss Right noch immer nicht gefunden. Vielleicht, weil es für ihn gar nicht die Richtige gibt.« Vicky schüttelte den Kopf. Da fiel ihr Blick im Spiegel auf die Kaffeetheke. »Kannst du das fassen? Hier kriegt man nicht einmal einen Espresso. Klar, Anchorage ist nicht L.A., aber trotzdem Amerika, oder?«
»Ach Gott«, stöhnte Lou und hob den Kopf von der Tischplatte, stützte aber ihre Stirn in beide Hände. »Wenn ich mir vorstelle, was ich alles für ihn getan habe! Glaub mir, dieses blöde Drehbuch war der schlimmste Fehler meines Lebens.«
Anscheinend zufrieden mit dem Erfolg ihres Lipliners, klappte Vicky die Puderdose zu und steckte sie in die Handtasche. »Dein schlimmster Fehler war deine Liaison mit Barry – aber das Drehbuch für Hindenburg war ein Geniestreich. Mensch, Lou, es ist schon jetzt ein amerikanischer Kultfilm.«
»Kultmist«, konterte Lou verbittert.
»Ja, stimmt, nicht besonders viel Tiefgang.« Vicky zuckte die Schultern. »Aber die Action … einsame Spitze. Und die Liebesszenen zwischen Barry und Gret …« Sie sah, wie Lou unsanft aus ihren Gedanken gerissen wurde, biss sich auf die Lippen und verdarb damit den Effekt des Lipliners. »O Gott, tut mir leid, Schätzchen«, entschuldigte sie sich zerknirscht.
»Schon gut.« Lou sank auf ihrem harten Plastikstuhl zusammen. »Das verkrafte ich. So eine Riesenüberraschung war es nun auch wieder nicht. Ich hatte den Verdacht schon länger. Im Gegensatz zu anderen Leuten.«
»Falls du Jack meinst …« Vicky hob die Brauen. »Der wusste es.«
»Unsinn, Vicky«, erwiderte Lou und lachte bitter, »er hatte keine Ahnung.«
»Was Barry und Greta angeht?« Vicky schüttelte ihre Bobfrisur. »Natürlich wusste er es. So dumm, wie du immer glaubst, ist er nicht.«
»Immerhin hat er dich sitzen lassen, oder?«, betonte Lou. »Und wenn das nicht das Dümmste war, was ein Mann machen konnte, dann weiß ich auch nicht …«
»Wie süß von dir!« Vicky schenkte ihr ein Engelslächeln.
»Aber ich schwöre dir, Schätzchen, er hat sein Hotelzimmer nicht wegen Greta demoliert. Ich meine, wenn er ihretwegen so durchgedreht wäre, hätte sie ihm etwas bedeuten müssen.«
»Und da er kein Herz besitzt, ist das eine biologische Unmöglichkeit.«
Was Vicky – eines der vielen Starlets, die Jack Townsend auf seinem Lebensweg hinter sich gelassen hatte – bestätigen müsste. In Hollywood hatte nur ein einziger Mann noch mehr Affären angefangen und beendet, nämlich Tim Lord, der Regisseur von Hindenburg und der neuen Copkiller-Folge.
Wenigstens erwies Jack seinen Eroberungen den Gefallen und heiratete sie nicht, und so zerrte er sie auch nicht vor diverse Scheidungsgerichte, so wie Tim Lord das regelmäßig tat. Vicky war Tims dritte Ehefrau. Unglücklicherweise neigte der Mann dazu, seine Hauptdarstellerinnen zu heiraten, in Hollywood eine weitverbreitete Tendenz. Und obwohl Vicky in Hindenburg nur eine kleine Rolle gespielt hatte (die Ehefrau des bedauernswerten Piloten), war es ihr gelungen, die Herzen des Publikums und des Regisseurs zu erobern.
Mit dem Wechsel von Jack zu Tim hatte Vicky einen guten Tausch gemacht. Sie vergötterte ihren neuen Ehemann, der sie offensichtlich auch anbetete, während Jack …
Nun, wenn der Tag käme, an dem Jack irgendwen wichtig nahm, der nicht Jack Townsend hieß, würde Lou am Pool des Beverly Hills Hotels erscheinen, nur mit einem Tanga bekleidet.
»Schau mal!« Vickys Miene erhellte sich. »Da kommt jemand, der kompetent aussieht. Vielleicht kann er uns erklären, warum sich unser Flug verzögert.«
Der kompetente Gentleman war tatsächlich ein Mitglied der Crew, überraschenderweise der Pilot. Höflich erläuterte das kräftig gebaute Individuum, das eine Wollmütze trug: »Wir warten nur noch auf Mr. Townsend. Dann starten wir.«
Lou traute ihren Ohren nicht. »Mr. Townsend?«, wiederholte sie heiser und riss die Augen auf. »Heißt das, wir warten auf Jack Townsend
Nur mühsam konnte der Pilot seinen Blick von der faszinierenden Vicky abwenden, aber er schaffte es schließlich. »So ist es, Ma’am«, bestätigte er, zu Lou gewandt, bevor er widerstrebend davonstapfte – so wie alle Männer fühlte er sich zu Vicky Lords ätherischer Schönheit hingezogen wie eine Motte zum Licht.
»O mein Gott!« Mit bebenden Fingern umklammerte Lou die Tischkante und starrte Vicky an, die ihr Handy hervorkramte. »Hast du …«, begann sie zögernd. »Vick, hast du gehört, was der Mann soeben sagte?«
»Was er sagte?« Angeekelt verzog Vicky das Gesicht. »Was er anhatte, war viel schlimmer. Hast du jemals an einem Kerl, der kein Statist in Braveheart war, so viel kariertes Zeug gesehen?«
Ungläubig blinzelte Lou ihre Freundin an. Vicky musste doch mitgekriegt haben, dass sich der Mann, dem sie ein gebrochenes Herz verdankte, auf dem Weg zu diesem Flughafen befand. Trotzdem galt ihre einzige Sorge den Outfits der Einheimischen?
Aber so war sie nun einmal. Und das gehörte zu den Gründen, warum Lous Freundschaft mit ihr schon so lange hielt. Manchmal konnte Vicky furchtbar oberflächlich sein. Sie war unfähig, an einem Designerschuhladen vorbeizugehen, ohne etwas zu kaufen. Andererseits aber hatte sie eine genauso ausgeprägte Schwäche für Unterprivilegierte. Sobald sie einen Obdachlosen entdeckte, drückte sie ihm hundert Dollar in die Hand.
»Hör mal, Vicky, Jack wird in unserem Flieger sitzen«, erklärte Lou, weil sie sicher war, dass Vicky das nicht verstanden hatte. »Jack Townsend.«
»Ja, natürlich«, murmelte Vicky geistesabwesend, »warum sollte ich an diesem Tag auch nur ein kleines bisschen Glück haben? Wahrscheinlich hat er seinen früheren Flug verpasst, wegen dieses Ausrasters im Hotel. Wieso funktioniert sein Handy nicht? Was ist eigentlich los mit diesem gottverlassenen Nest? Erst kein Espresso! Und jetzt das
»Vicky«, zischte Lou.
Sie musste zischen, weil sie plötzlich glaubte, etwas würde ihr die Kehle zuschnüren. Etwas – oder jemand. Sie erinnerte sich an Unsichtbare Gefahr mit Kevin Bacon. Sie hatte Teile dieses Films am Abend zuvor im Hotelzimmer gesehen – über einen unsichtbaren Wissenschaftler, der seine Kollegen terrorisierte und …
»Keine Ahnung, was da vorgeht!«, jammerte Vicky, das Handy am Ohr. »Warum kriege ich kein Netz? Wo zum Teufel sind wir denn? In Sibirien?«
»Vicky!« Machtvoll kehrte Lous Stimme zurück, voller Staunen – und Bewunderung. »Wie kannst du nur so gelassen sein? Der Mann hat dein Herz entzweigerissen. Nun wirst du mit ihm im selben Flieger sitzen, und du tust, als wäre das nichts Besonderes. Während ich ihn am liebsten ermorden würde – nach allem, was er dir angetan hat! Was ist dein Geheimnis? Da bin ich wirklich neugierig.«
Ungeduldig klappte Vicky das Handy zu und steckte es in ihre Tasche. »Das nennt man Schauspielkunst. Für meine Leistung als Jack Townsends Exfreundin müsste ich eigentlich einen Oscar bekommen.« Sie schaute auf ihre goldene Armbanduhr und schnitt eine Grimasse. Trotzdem blieben ihre ebenmäßigen Gesichtszüge unglaublich hübsch. »Wenn ich meine Lymphdrainage verschieben muss, sollte ich sofort anrufen.« Entschlossen stand sie auf. »Okay, ich suche eine Telefonzelle.«
»Vicky …« Glücklicherweise hatte Lou nicht gefrühstückt. Sonst würde jetzt alles hochkommen. »Ich fürchte, mir wird schlecht.«
»Unsinn. Geh mal für kleine Mädchen und wasch dir das Zeug vom Kopf. Wenn du mit Tim wegen dieser Umweltfanatiker streitest, darf kein Ketchup in deinem Haar kleben.« Auf bleistiftdünnen Stilettos drehte sich Vicky um, trippelte davon und ließ ihre Freundin allein, die nach Luft rang und immer noch die Tischkante umklammerte.
»Also gut«, sagte sich Lou. Zum Glück hielt sich au ßer ihr und der Frau hinter der Kaffeetheke niemand in der schäbigen kleinen Wartehalle des Flughafens auf. Deshalb hörte ihr niemand zu. »Das kriege ich hin. Ich kann mit Jack Townsend im selben Flieger sitzen. Wenn Vicky das schafft, kann ich es auch. Natürlich … ich rede einfach nicht mit ihm. Nur weil mein Exfreund mit seiner Exfreundin abgehauen ist, müssen wir uns noch lange nicht unterhalten. Früher habe ich auch nie mit ihm gesprochen, wenn sich’s vermeiden ließ. Also werde ich jetzt sicher nicht damit anfangen.«
Von diesem Entschluss ermutigt stand sie auf, hängte ihre Handtasche und die wesentlich schwerere Laptoptasche über die Schulter und ging zur Damentoilette. Die war gar nicht so schlimm, wie sie erwartet hatte. Das Licht über dem Waschbecken war einigermaßen gnädig. Bei genauerer Betrachtung schien es ihr dann doch ein wenig zu hell. Nur allzu deutlich sah sie die dunklen Ringe unter ihren Augen.
Mit feuchten Tüchern, die sie auf ihre widerspenstigen kastanienroten Locken presste, löste sie das Ketchup-Problem. Aber die violetten Schatten waren schwieriger zu entfernen. Sie nahm einen Concealer aus ihrer Tasche. Wunderbarerweise erzielte er die gewünschte Wirkung. Schade, dachte sie, dass es keinen Concealer für mein Leben gibt. Dein Exfreund ist schuld an deinem geringen Selbstwertgefühl? Tupf einfach ein bisschen was von diesem Stift drauf, und voilà – blitzschnell ist er verschwunden, als hätte er niemals existiert.
Ein Concealer für emotionale Narben. Lächelnd musterte sie ihr Spiegelbild. Gute Idee … Vielleicht sollte sie so was in ihrem Roman verwenden.
Dann erlosch ihr Lächeln. Lippenstift. Ja, den brauchte sie dringend.
Ganz unten in ihrer Handtasche fand sie einen und zog sich die Lippen nach. Viel besser. Nun sah sie beinahe wie ein menschliches Wesen aus. Wenn sie die Damentoilette verließ und ihrem Exfreund zufällig über den Weg lief, würde er wohl kaum merken, was für ein emotionales Wrack er aus ihr gemacht hatte. Und ihrem Hometrainer, auf dem sie sich so viele Stunden abgerackert hatte, um Barry aus ihrem System herauszuschwitzen, verdankte sie sogar eine straffere Figur. Außerdem hatte sie abgenommen, nachdem Barry aus ihrem Bungalow ausgezogen war. In jener deprimierenden Lebensphase hatte sie nur Erdnusskrokant bei sich behalten können. Seither wirkte sie fast so ätherisch wie die dritte Mrs. Tim Lord.
Fast. Nicht ganz. Denn in Lous ehemals vertrauensvollen braunen Augen – die ihre Brüder stets Golden-Retriever-Augen genannt hatten, – lag nun eine gewisse Vorsicht, die sie eher irdisch als himmlisch erscheinen ließ.
Jetzt im Moment konnte man ihren Blick höchstens mit den Augen eines Golden Retrievers vergleichen, der ein Frostschutzmittel gefressen hatte.
Barry, dachte sie, und die braunen Augen im Spiegel verengten sich. An allem bist nur du schuld.
Doch das stimmte nicht. Sie wusste es nur zu gut. Wenn irgendjemand für die Ereignisse verantwortlich war – dann sie. Niemals hätte sie sich in Barry Kimmel verlieben dürfen.
Erstens war er ein Schauspieler. Und wenn Lou während der Jahre in L.A. irgendwas gelernt hatte, dann dies: Einem Schauspieler sollte man nicht vertrauen – und sich schon gar nicht in so einen Kerl verlieben.
Aber wie hätte sie das wissen können, damals in der Highschool auf Long Island? Obwohl sie in derselben Straße aufgewachsen waren, hatte Barry niemals von der unbedeutenden Lou Calabrese Notiz genommen – bis zum letzten Schuljahr, wo sie endlich den Babyspeck abgelegt hatte und den Leuten abgewöhnen konnte, sie »Möhre« zu nennen – mithilfe einer Tönung, die ihre kupferroten Locken in mahagonifarbene verwandelte. Und da fragte Barry, ob sie mal mit ihm ausgehen würde. Einfach so. Barry Kimmel, der großartigste Junge in der Theatergruppe der Bay Haven Central Highschool.
Großartig, ja. Und für eine Weile – für sehr lange Zeit – hatte das genügt. Aber trotz ihrer Begeisterung war Lou schon am Anfang der Beziehung unsicher gewesen. Gewiss, Barry war fabelhaft. Das ließ sich nicht bestreiten.
Aber – Humor? Besaß er auch nur ein kleines bisschen Humor? Nein. Klar, nur wenige Leute teilten die Vorliebe der temperamentvollen Calabrese-Familie für derbe Scherze. Aber Barry fand sie ganz besonders widerlich. Durfte sie ihm das verübeln, wo er doch die bevorzugte Zielscheibe ihrer Brüder für alberne Streiche gewesen war?
Und seine Launen? Immer wenn er glaubte, seine Mitmenschen – sei es der Schauspiellehrer, die anderen Schauspieler oder Lou – würden ihn nicht genug beachten, verkroch er sich in seinem Schmollwinkel.
Okay, Barry war ein Künstler. Niemand, und am allerwenigsten Lou – das betonte er immer wieder -, verstand die Angst eines Schauspielers, wenn er eine neue Rolle übernahm und den Charakter der dargestellten Person zu ergründen suchte oder genau die richtige Betonung für jedes einzelne Wort seines Textes finden musste.
Wie konnte Lou, eine einfache Autorin, es auch nur wagen, diese beiden Formen kreativer Ausdruckskraft – Schreiben und Schauspiel – miteinander zu vergleichen? Schreiben war nur ein Handwerk, das wusste jeder. Und Schauspielerei – das war Kunst.
Und was am traurigsten war – Lou hatte ihm das jahrelang geglaubt.
Aber – o Gott, er war so attraktiv gewesen … Der wahr gewordene Traum eines jeden Teenagermädchens. Barry war Lous Nevarre gewesen (Rutger Hauer in Ladyhawke – Der Tag des Falken), ihr Lloyd Dobler (John Cusack in Teen Lover), ihr Hawkeye (Daniel Day Lewis in Der letzte Mohikaner).
Ihr Ein und Alles.
Und dass er sich für sie entschieden hatte, die pummelige Möhre Calabrese – für ein Mädchen, das sich immer mehr für Filme als für Mode oder Make-up interessiert hatte … Das war die Verwirklichung eines fantastischen Wunschtraums gewesen. Sie hatte er erwählt, nicht Candy Sparks, den Cheerleader-Captain und Star aller Musicals im Bay Haven Central Club. Oder Amber Castiglione, die Homecoming Queen und Besitzerin einer professionell zusammengestellten Mappe mit Model-Fotos.
O ja, das war Lous grandioser Coup gewesen – Barry Kimmel einzufangen, der unerhörte Triumph einer pummeligen Intelligenzbestie.
Bis jetzt. Zehn Jahre später sah es so aus, als hätten Candy und Amber doch noch gewonnen. Gehörte Greta Woolston nicht zur selben Kategorie? Als britische Version von Candy oder als europäische Amber. Und Barry, der jahrelang an Lou gekettet gewesen war, hatte plötzlich erkannt, dass er sich nicht damit begnügen musste. Klar, er konnte so viel Candy-Glamour haben, wie er nur wollte …
… jetzt, wo er genug eigenes Geld besaß, um dafür zu bezahlen. Dank Lou, die ihm dummerweise die Möglichkeit verschafft hatte, das Geld zu verdienen, das Frauen wie Candy und Greta Woolston reizte.
»Wie zynisch du bist«, hatte er Lou vorgeworfen, als er aus dem Bungalow ausgezogen war. »So kalt.« So kam sie ihm wahrscheinlich vor, weil sie sich nicht vor seine Füße geworfen und ihn angefleht hatte, bei ihm zu bleiben. Stattdessen hatte sie höflich die Tür aufgehalten, während er mit einer Kiste voller CDs an ihr vorbeigestolpert war.
»Irgendwie habe ich das Gefühl, das Mädchen, mit dem ich nach Kalifornien gezogen bin, das voller Hoffnungen und Träume war, gibt es nicht mehr«, warf er ihr vor.
»Weil das Mädchen erwachsen geworden ist, Barry«, hatte Lou erwidert. »Dank dir.«
Nur zu lebhaft erinnerte sie sich an den Schmerz, den seine Worte bewirkt hatten. Stimmte es? Hatte Barry sich deshalb in Greta verliebt? Wegen ihrer exzessiven Verletzlichkeit? Weil sie den Anschein erweckte, sie sei total unfähig, für sich selbst zu sorgen, und würde jemanden brauchen, der ständig auf sie aufpasste? Solche Gefühle hatte Lou noch nie in einem Mann erregt, das wusste sie.
Entschlossen wandte sie sich von ihrem Spiegelbild ab. »Hör auf«, flüsterte sie. »Hör einfach auf. Jetzt bist du nicht mehr Möhre Calabrese, sondern Lou Calabrese.« Die Schultern gestrafft, schaute sie wieder in ihre argwöhnischen, müden Augen. »Du bist eine Drehbuchautorin, und du hast einen Oscar gewonnen. Bald wirst du auch einen Literaturpreis erhalten.«
Falls sie jemals den Roman beendete. Das erste Kapitel hatte sie erst vor ein paar Tagen begonnen, die Story einer Frau, die von ihrem Highschool-Sweetheart betrogen wurde und der die Liebe eines guten, anständigen Mannes half, ihre Selbstachtung zurückzugewinnen. Natürlich reine Erfindung, denn inzwischen war Lou zu der Überzeugung gelangt, dass es – abgesehen von ihrem Vater und ihren Brüdern – keine guten, anständigen Männer gab.
»Wenn Greta Woolston keine Rolle mehr kriegt, weil ihre Implantate bis zu ihren Knien hinabhängen«, erklärte sie ihrem Spiegelbild, »wirst du immer noch Romane schreiben. Weil deine Vorzüge nicht aus Silikon bestehen. In der Zwischenzeit denk daran: Keine Schauspieler mehr. Und jetzt Kopf hoch!«
Das Motivationsgespräch funktionierte nicht. Eine Zeit lang starrte Lou das Lächeln an, das sie auf ihre frisch bemalten Lippen geklebt hatte. Dann gab sie es auf. Sie konnte einfach nicht lächeln. Aber auch nicht weinen. Vielleicht hatte Barry recht, und sie war tatsächlich zu zynisch.
Ja sicher, und wahrscheinlich hatte Jack Townsend auch gar nicht beabsichtigt, das Herz ihrer besten Freundin zu brechen. Klar.
Entnervt fuhr sie herum und stieß die Tür der Damentoilette auf …
Und kollidierte mit Jack Townsend, der an der Kaffeetheke stand. In Jeans und einer braunen Lederjacke sah er geradezu absurd lässig … und attraktiv aus.
»Oh, da ist sie ja.« Vicky, mittlerweile aus der Telefonzelle zurückgekehrt, trug eine Miene zur Schau, die wachsende Panik verriet. Bei ihr wirkte sogar wachsende Panik hinreißend. »Schau mal, wen wir da haben, Lou! Ach, offensichtlich hast du ihn auch schon bemerkt.«
Jack Townsend blickte von seiner Kaffeetasse auf, die Lou ihm bei ihrer stürmischen Ankunft beinahe aus der Hand geschlagen hatte.
Und sobald seine kühlen blauen Augen in ihre blickten, spürte sie, wie brennende Röte ihre Wangen hochstieg. Lou hatte schon vor langer Zeit damit aufgehört, ihre Haare dunkler zu färben. Denn es schien, als hätten die Leute zu Beginn ihres Collegestudiums den Namen »Möhre« wieder vergessen.
Trotzdem wünschte sie manchmal noch, sie hätte keine roten Haare. Und dies war so ein Moment. Sie errötete sehr oft. Sie musste nur an dieses Problem denken, und schon wurde sie rot. Die Entschuldigung, die sie äußern wollte, weil sie Jack angerempelt hatte, erstarb auf ihren Lippen. Sobald die Hitze ihr Gesicht färbte, verlor sie die Fähigkeit, auch nur einfache Sätze zu formulieren. Plötzlich schien Lou Calabrese zu brennen.
Aber jede Frau, sagte sie sich, würde bei einer Begegnung mit Jack Townsend erröten. Nicht nur eine Rothaarige, deren Exfreund gerade mit seiner Exfreundin weggelaufen war. Und das lag daran, dass er fast eins neunzig groß war und seine neunzig Kilo Muskelmasse in perfekten Proportionen über seinen Körper verteilt war – nicht dass es besonders wichtig gewesen wäre. Er hatte dichtes dunkles Haar, an den Schläfen leicht ergraut, und eine markante, angeblich bei einem Boxkampf in der Schule leicht deformierte Nase. Er gehörte zu den in Manhattan ansässigen Townsends von Townsend Securities. Jack, der mit einem Silberlöffel im Mund geboren wurde und über ein komfortables Erbe verfügte, hatte noch nie etwas von einem Teenieschwarm gehabt so wie Barry. Klar, Barry – alias Bruno di Blase – war ein Schönling. Und Jack Townsend konnte man beim besten Willen keinen Schönling nennen.
Aber er sah zweifellos gut aus. Mit seinen leuchtenden blauen Augen und den dunklen Bartstoppeln war er nach Meinung unzähliger Kinobesucherinnen ein Geschenk des Himmels an alle heterosexuellen Frauen dieser Welt. Und was noch erstaunlicher war – er schien sich dessen nicht einmal bewusst zu sein. Auf die Armani-Anzüge und Hosen aus Leder, die Barry liebte, legte Jack Townsend keinen Wert. Auch nicht auf die Hollywood-Partys und Clubs, die Bruno di Blase frequentierte, in der Hoffnung, die Paparazzi würden ihn knipsen – was er natürlich abstritt. Wenn Jack Townsend nicht arbeitete, blieb er auf seiner siebzig Morgen großen Ranch in Salinas. In der Öffentlichkeit zeigte er sich nur, um seinen nächsten Film zu promoten. Lou vermutete, dass seine Trennung von der medienhungrigen Greta Woolston damit zusammenhing.
Natürlich hätte Greta es besser wissen müssen – ein Mann wie Jack Townsend hielt nichts vom Hollywood-Starrummel. So konnte Lou oft genug beobachten, dass Jack Townsend keine Doubles bei Nacktoder Actionszenen duldete. Make-up? Nicht in Jack Townsends Gesicht. An seinen Kopf ließ er niemanden ran – nicht einmal Haarstylisten, was auch die grauen Schläfen erklärte.
Und die dunklen Ringe unter den Augen, ganz so wie bei ihr? Um die nach den Dreharbeiten retuschieren zu lassen, wird Tim Lord ein Vermögen zahlen müssen. Lieber würde Jack sterben, als einen Concealer zu benutzen, nicht einmal bei Nahaufnahmen.
O ja, Jack Townsend verkörperte sehr viele Dinge – den Albtraum aller Maskenbildner, eine Erfolgsgarantie für alle Regisseure und den Traum aller Amerikanerinnen.
Aber eins konnte man nicht von ihm behaupten: Obwohl er unheimlich gut aussah und zurückhaltenden Charme versprühte, zählte er nicht zu den Menschen, die Lou am liebsten mochte.
Seiner Miene nach zu schließen, beruhte diese Abneigung auf Gegenseitigkeit. Er schaute Lou an und schien mit diesen unnatürlich blauen Augen direkt durch sie hindurchzustarren, dann schaute er weg und murmelte in seinem üblichen sarkastischen Ton: »Oh, Sie sind’s.«
War es möglich, überlegte sie, dass dieser Tag, der nicht eben vielversprechend begonnen hatte, immer noch schlimmer werden konnte?