20
»So was passiert nun mal«, erklärte Jack und tauchte einen Löffel in die Eiscremepackung. »Wenn zwei Leute so heftig streiten wie wir …«
»… entsteht eine wachsende Spannung«, vollendete Lou seinen Satz und bohrte ihren eigenen Löffel ins Eis. »Sicher, das verstehe ich. Aber obwohl ich praktisch noch eine Jungfrau war …«
»Das nehme ich zurück, wie ich bereits betont habe.« Jack schaute von der anderen Seite des Bettes zu ihr hinüber. »Und nimm dir nicht die ganze Schokoladensauce.« Nachdem sie ihm die Flasche gegeben hatte, fuhr er fort: »Klar, wir streiten ziemlich oft. Warum? Das solltest du dich mal fragen.«
»Oh, das weiß ich. Weil du ein Blödmann bist.«
»Nein …« Jack quetschte die Schokoladensauce direkt in seinen Mund und schob einen Löffel Eiscreme hinterher. »Deshalb streiten wir nicht, sondern weil du dein unersättliches Verlangen nach mir nicht unterdrücken kannst, und das bringt dich auf die Palme.«
»Redest du in Gesellschaft deiner Freundinnen immer mit vollem Mund? Oder bin nur ich die Glückliche?«
Jack schluckte die Eiscreme und die Schokoladensauce hinunter. Dann wälzte er sich zu Lou hinüber und legte seinen Kopf auf einen ihrer nackten Schenkel. Wie er anerkennend festgestellt hatte, als seine Hand in der Küche unter ihr Flanellhemd geglitten war, besaß sie glatte, stramme und trotzdem samtweiche Oberschenkel. Eine solche Haut hatte er nicht mehr berührt seit … Er konnte sich nicht erinnern. Wahrscheinlich noch nie.
Nur eins wusste er ganz genau. Er hatte noch nicht genug von ihr. Noch lange nicht.
»Was hältst du davon, wenn wir einfach hierbleiben?«, fragte er und strich über eine ihrer langen kastanienroten Locken. »Für immer. Oder wenigstens, bis der Schnee schmilzt.«
Lou löffelte den letzten Rest aus der Eiscremepackung. »Das können wir nicht. Wir haben keinen Pekannusskuchen. Außerdem gibt es hier kein Fernsehen.«
»Das brauchen wir nicht. Wir haben uns.«
Lachend schüttelte sie den Kopf. »Morgen werden wir uns umbringen. Spätestens in zwei Tagen.«
»Nein. Hat dir schon mal jemand gesagt, dass deine Haare aussehen wie ein Sonnenuntergang in Key West?«
»Nein. Und hat dir schon mal jemand gesagt, dass du dich beim Orgasmus anhörst wie ein brüllender Affe?«
»Siehst du, das ist es, warum wir so gut zusammenpassen. Außer dir kenne ich keine Frau, die völlig immun gegen Schmeicheleien ist. Und wie ich in den letzten achtundvierzig Stunden erkennen musste, waren die meisten meiner früheren Beziehungen belanglose, leere sexuelle Abenteuer …«
»Da wir gerade davon sprechen – wenn du mich mit irgendeiner Krankheit angesteckt hast, wende ich mich an die Presse.«
»Würdest du mich bitte ausreden lassen?«, seufzte er müde. »Ich versuche, dir etwas mitzuteilen, das mir persönlich sehr viel bedeutet.«
Lou hob eine Hand. »Solange es nicht um Chlamydien geht, bin ich ganz Ohr. Jedenfalls benutzen wir nächstes Mal ein Kondom.«
Stöhnend verdrehte er die Augen. Warum war das so schwierig? Vielleicht, weil sie ständig witzige Bemerkungen auf Lager hatte. Oder vielleicht, weil er emotional und körperlich erschöpft war – allerdings auf angenehme Weise. Vielleicht, weil er daran gewöhnt war, erobert zu werden, statt selber jemanden zu erobern.
Oder vielleicht, weil er zum ersten Mal in seinem Leben Wert darauf legte – viel zu großen Wert -, was eine Frau von ihm hielt.
»Hör mal, ich weiß, wir hatten einige Differenzen. Aber in den letzten vierundzwanzig Stunden hast du wirklich meinen Respekt gewonnen, Lou. In kritischen Situationen bist du vernünftig, tapfer und tüchtig. Von deiner Leidenschaft im Bett ganz zu schweigen. Ich muss zugeben, dass ich beim Sex mit … äh … gewissen Frauen mein geistiges Wachstum behindert habe. Klugheit geht vor Schönheit, das weiß ich jetzt.«
»Wenn du glaubst, ich würde es dir jetzt deswegen mit dem Mund machen«, sagte sie und leckte ihren Löffel ab, »vergiss es.«
»Du weißt schon, was ich meine. Lou, du bist die erste Frau in meinem Leben, die alle Erzeugnisse meiner Kochkunst gegessen und danach sogar das Geschirr gespült hat. Gar nicht zu reden von deiner Lust auf ein kleines Dessert …«
»Offensichtlich hast du deine anderen Freundinnen nicht auf eine achtundvierzigstündige Horrortour geführt. Wenn ein Mädchen vor bewaffneten Meuchelmördern davonlaufen muss, wird es nun mal hungrig.«
»Ich meine das alles ernst, Lou. Wenn wir in die Zivilisation zurückkehren, sollten wir … vielleicht überlegen, nun … ich dachte, wir könnten zusammenziehen.«
Sehr riskant. Das wusste er. Noch nie hatte er eine Frau gefragt, ob sie bei ihm wohnen wolle. Die Frauen hatten das immer irgendwie selbst in die Hand genommen. Manchmal war er vom Studio nach Hause gekommen und hatte all das fremde Zeug in seinem Schrank gefunden.
Und er wollte Lou nicht auf falsche Gedanken bringen. Eine Ehe kam nicht infrage. Nur ein Narr würde eine Frau heiraten, mit der er erst einmal geschlafen hatte. Okay, zwei Mal – wenn man die Spielchen unter der Dusche danach mitzählte … Aber zusammenleben – das war etwas anderes.
Allerdings hatte er das Gefühl, Lou Calabrese wäre nicht der Typ, der eines Morgens mit einem Koffer und einer Box voller CDs auf seiner Schwelle stehen würde. Nein, sie würde ganz sicher auf eine Einladung warten. Die sprach er jetzt aus, bevor jemand anderer auftauchen konnte, um sie ihm vor der Nase wegzuschnappen.
Aber falls er Dankbarkeit für dieses freundliche Angebot erwartet hatte, wurde er bitter enttäuscht.
Sie beugte sich über ihn und tätschelte freundschaftlich seine Schulter. »Danke, Kumpel. Aber bevor wir künftige häusliche Arrangements erörtern, warten wir erst mal ab, ob wir die nächsten vierundzwanzig Stunden überstehen, ohne einander zu erschießen.«
Unbehaglich schaute er sie an. Verstand sie nicht, was er soeben gesagt hatte? »Lou, ich rede nicht von der Ranch in Salinas. Ich habe auch ein Haus in den Bergen. Sieben Schlafzimmer und ein Pool mit Blick bis zum Horizont …«
Lou übergab ihm die leere Eiscremepackung, beide Löffel und die Flasche mit der Schokoladensauce. »Großartig, Jack. Lass uns erst einmal darüber schlafen, okay? Jetzt sind wir beide todmüde …« Sie stand auf und schlenderte splitternackt ins Bad.
Ein paar Sekunden später hörte er, wie sie wieder einmal Donalds elektrische Zahnbürste benutzte.
Auch das war seltsam. Wie viele Frauen kannte er, die eine fremde Zahnbürste benutzen würden? Keine einzige.
Was geschah mit ihm? Er wusste es nicht genau. Warum fand er den Sex mit Lou so bedeutsam? Nur weil es der beste Sex seines Lebens gewesen war, musste er ja noch lange nicht die Nerven verlieren. Wenn er nicht aufpasste, würde er sich womöglich noch einbilden, er wäre in sie verliebt oder so was. Und das stimmte nicht. Auf gar keinen Fall.
Er wusste nur, dass er jetzt am liebsten immer mit ihr zusammen sein wollte. Aber das musste deshalb ja noch nicht unbedingt Liebe sein, einfach nur …
Interesse. Ja, sie interessierte ihn, so wie ein neues exotisches Auto. Er hatte eine Testfahrt mit ihr absolviert, war zufrieden, und jetzt wollte er sie leasen. Nicht besitzen. Nur leasen.
Eventuell mit einer Kaufoption.
Lou schaltete das Licht im Bad aus und kehrte ins Schlafzimmer zurück. Hier lag das Problem. Wie sollte er sich vernünftig verhalten, wenn sie ständig splitternackt vor ihm herumlief?
Natürlich wusste er inzwischen, was für einen Körper der voluminöse Pullover und die weite Hose verborgen hatten. An den richtigen Stellen wohlgerundet, an den übrigen schlank. Dazu perfekt geformte Brüste mit verlockenden rosigen Knospen. Und das unglaubliche rote Haar zwischen den Schenkeln, das ihn wahnsinnig machte und das sie in einer Form trug, die Tim Lord »Landebahn« nennen würde – er konnte relativ anzüglich sein, wenn keine Frauen in der Nähe waren.
Wie sollte Jack einer so zauberhaften Versuchung widerstehen?
Vielleicht, dachte er hoffnungsvoll, würde Lou neben ihm schnarchen. Denn mit einer Schnarcherin könnte er nicht zusammenleben, das würde ihn total abtörnen.
Lou schaute ihn an, und dieses schelmische Lächeln, das sie ihm manchmal schenkte, umspielte ihre Lippen.
»Gute Nacht, Townsend«, sagte sie und zupfte an einer Schnur, um die Lampe über ihrer Seite des Bettes auszuschalten.
»Gute Nacht, Lou.«
Tiefes Dunkel erfüllte den Raum. Schon vor langer Zeit war das Kaminfeuer im Wohnzimmer erloschen, lautlose Stille herrschte im Haus – abgesehen vom Wind, der immer noch tobte und heulte. Mit ein bisschen Fantasie konnte man sich vorstellen, dass da draußen ein arktischer Wolf heulte.
Während Jack in der Finsternis lag, schienen ihn nicht nur die leere Eiscremepackung, die beiden Löffel und die Flasche mit der Schokoladensauce von Lou zu trennen.
Diese Barrieren zumindest konnte man mühelos entfernen. Und sobald er das getan hatte, rückte er über die Matratze zu Lou. Seine Brust an ihren Rücken geschmiegt, legte er einen Arm über ihren Oberkörper und umfasste eine ihrer Brüste.
»Nicht schon wieder«, murmelte sie, kein bisschen erfreut.
»Was meinst du?«
»Nichts. Offenbar bist du ein unverbesserliches Gewohnheitstier.«
Jack hatte nicht die leiseste Ahnung, wovon sie redete. Doch was immer es sein mochte, es spielte keine Rolle. Jetzt nicht mehr. »Gib’s endlich zu, Calabrese«, flüsterte er in ihre Locken, die sich zwischen ihren Köpfen auf dem Kissen ausbreiteten. »Du bist mir verfallen.«
Außer dem Wind hörte er nur ihr leises Gelächter. Eigentlich hatte er beschlossen, wach zu bleiben, falls der Skimaskenkiller und seine Kumpel die Jagdhütte finden würden.
Aber Lous Lachen und der blumige Duft ihrer Haare lullten ihn ein. Dass dieses Aroma aus Donalds Shampooflasche stammte, wusste er nicht. Für ihn war es der Duft von Lous Seele. Kurz bevor er einschlummerte, dachte er, was für ein Glück es gewesen war, dass sie dieses Haus entdeckt hatten.
Hier hatten sie sich gefunden – und das war ein noch größeres Glück. Er malte sich aus, wie sie hierbleiben und auf ihre Rettung warten würden. Welche Mahlzeiten würde er kochen? Mit welchen Kartenspielen würden sie sich die Zeit vertreiben? Donald kam ihm wie ein Typ vor, der irgendwo Spielkarten verwahrte. Damit würden sie vor dem Kaminfeuer sitzen und sich Geschichten erzählen.
Und natürlich würden sie sich lieben, das war am wichtigsten.
Als er am nächsten Morgen erwachte, war Lou verschwunden. Nein, so hatte er sich das nicht vorgestellt. Wenn die Frauen eine Nacht mit ihm verbrachten, neigten sie für gewöhnlich dazu, genau da zu bleiben, wo er sie haben wollte – nämlich in seinem Bett. Sie standen nicht auf und rumorten ohne ihn herum. Es sei denn, sie wollten ihn mit einem Frühstück überraschen.
Aber Lou war nicht aufgestanden, um ihn mit einem Frühstück zu überraschen. Das merkte er gleich, als er ins Wohnzimmer stolperte, nur in ein Laken und die dicke Steppdecke gehüllt. Sie war weder in der Küche noch im Wohnzimmer. Die Tür des Bads stand weit offen, nur um ihn auf einen weiteren leeren Raum hinzuweisen.
Und das war nicht das Einzige, was ihn irritierte. Ein Jack mit müden, verschleierten Augen brauchte ein paar Minuten, um zu erkennen, was ihn störte. Das Licht. Ja, durch die Fenster drang Licht herein. Nicht einmal angesichts des leuchtend hellen Oberlichts hatte er registriert, dass die Nacht vorbei war. Grelles Sonnenlicht, so wie er es seit seiner Ankunft in Alaska nur selten und höchstens sekundenlang gesehen hatte.
Durch das Oberlicht sah er die Sonne hoch am wolkenlosen blauen Himmel stehen. Und der Schnee rings um die Hütte schimmerte in blendender Intensität.
Da erkannte er, wohin Lou verschwunden war. Ebenfalls in eine Steppdecke gehüllt, stand sie auf der Veranda, in einer Hand eine dampfende Tasse. Mit der anderen beschattete sie die Augen und blickte über den leuchtenden weißen Schnee hinweg.
Jack öffnete die Haustür, eisige Kälte nahm ihm den Atem. »Was machst du, Lou? Hier draußen ist es verdammt kalt. Geh ins Bett zurück.«
Mit wild zerzaustem Haar schaute sie ihn an. Es war vor dem Einschlafen noch feucht gewesen. Unter der Steppdecke trug sie ein anderes von Donalds Flanellhemden und die lange Unterhose vom Vortag. Die Füße steckten in riesigen Männerstiefeln, mindestens fünf Nummern zu groß für sie. Und die Kälte hatte ihre Nasenspitze rosig gefärbt wie bei einem Kaninchen.
Noch nie im Leben hatte Jack eine schönere Frau gesehen.
»Vielleicht bin ich verrückt«, sagte sie und zeigte in die Ferne. »Aber könnte das da drüben eine Stra ße sein?«