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Tim Lord starrte die geschlossene Tür des
Wohnwagens an. Daran klebte ein Abdeckband. »Rebecca« stand darauf.
Aber er wusste, dass Melanie Dupre da drin war – die
Schauspielerin, die Pete Logans aktuelle Bettgefährtin mimte. Das
verriet ihm der Lärm, der aus dem Wohnwagen drang – klirrendes Glas
und hysterisches Geschrei.
»So führt sie sich schon den ganzen Vormittag
auf«, erklärte Melanie Dupres sichtlich missgelaunte Assistentin.
Den Namen dieser Frau konnte er sich nie merken.
Tim lauschte einem Geräusch, das ihn an
zertrümmerte CDs erinnerte, und zuckte zusammen. Würde die
Versicherung des Studios den Schaden bezahlen? Oder sollten sie die
Summe von Miss Dupres Gage abziehen, um ihr eine Lektion zu
erteilen?
»Ist sie wegen dieser Affäre ausgeflippt?«, fragte
er die Assistentin neugierig. »Sie wissen schon, Greta und Bruno
…«
»Das glaube ich nicht.«
Wie die meisten Assistentinnen war sie eine
entfernte Verwandte des Stars, und sie sah Melanie sogar ein
bisschen ähnlich. Aber eine ausgeprägte Akne entstellte ihr
ansonsten attraktives Gesicht. Er überlegte, warum die
Schauspielerin das Mädchen nicht zu ihrem Dermatologen schickte.
Immerhin zählte er zu den besten von L.A. Das wusste Tim, weil Miss
Dupres Vertrag die Klausel enthielt, das Studio müsse während der
Dreharbeiten die Kosten für ihre chemischen Peelings
übernehmen.
»Vermutlich geht es um Mr. Townsend«, fuhr die
Assistentin leise fort, als könnte Melanie drinnen im Wohnwagen
zuhören – trotz des Lärms, den sie in ihrer Zerstörungswut
erzeugte. »Letzte Nacht hat er sie abserviert.«
Tim nickte. Natürlich. Das hätte er sich denken
können.
Nur selten kam was Gutes dabei heraus, wenn ein
Schauspielerpaar das erotische Leinwandknistern auch hinter der
Kamera ausprobierte. Genau das hatten Melanie und Jack vor kurzem
getan. Und wenn so eine Liaison vor dem Ende der Dreharbeiten in
die Brüche ging, wirkte sich das höchst unangenehm auf die
Atmosphäre am Set aus. Das wusste Tim aus eigener Erfahrung, und
deshalb hütete er sich vor solchen Problemen.
Offenbar hatten Melanie und Jack sich nicht
gehütet.
Also wirklich, warum musste das passieren? Wieso
an diesem Tag? Warum zum Teufel hatten Greta Woolston und Bruno di
Blase ausgerechnet die letzte Nacht gewählt, um gemeinsam
abzuhauen? Ein Ereignis, das Jack zweifellos bewogen hatte, seine
Prioritäten neu zu ordnen …
Und warum hatte Jack sich nach Hindenburg ausgerechnet diesen Film ausgesucht?
Warum keine nette kleine Komödie mit unbekannten
Schauspielern?
»Mel?« Tim hämmerte gegen die Wohnwagentür. »Hey,
Mel, ich bin’s – Tim. Darf ich reinkommen?«
Bevor Melanie antworten konnte, kam Paul Thomkins
angerannt, einer der Regieassistenten. Unter der Copkiller-II-Baseballkappe
ragten seine Ohren hervor, vor Kälte knallrot. Dabei war es mit
minus zehn Grad noch relativ mild. Laut Vorhersage sollte die
Temperatur in der nächsten Stunde um weitere fünf Grad
fallen.
Das war alles noch harmlos. Am Vortag war einem
Kameramann bei minus neunzehn Grad beinahe ein Finger
abgefroren.
Wieso zum Geier hatte Lou für den letzten
Copkiller einen arktischen Schauplatz
gewählt? Warum nicht Hawaii? Dort versteckten sich doch bestimmt
viele gefährliche Verbrecher. In ihrer Abneigung gegen Jack
Townsend und dem Bestreben, ihm das Leben möglichst schwer zu
machen, ging sie eindeutig zu weit. Genau genommen war der Satz
»Ich brauche eine grö ßere Waffe« wesentlich besser als »Es ist so
lange komisch, bis es jemandem wehtut«. Da musste man nur ein
Testpublikum fragen.
»Tim«, flüsterte Paul und beugte sich hinab.
Trotz der Cowboystiefel mit den zentimeterdicken
Absätzen war Tim Lord nur einsachtundsechzig groß. Und das störte
ihn noch empfindlicher als die Frechheit des Filmkritikers der
New York Times, der Hindenburg eine »vor Kitsch triefende
Selbstbefriedigung eines eingebildeten Regisseurs« genannt
hatte.
»Gerade habe ich eine Nachricht aus Anchorage
erhalten«, wisperte Paul. »Der Helikopter mit Jack ist
unterwegs.«
»Großartig.« Tim holte tief Luft, richtete sich
möglichst hoch auf und klopfte wieder an die Wohnwagentür.
»Melanie? Hier ist Tim, Schätzchen. Hör mal, lass mich rein, wir
müssen reden.«
»Und …«, fügte Paul hinzu, immer noch im
Flüsterton – anscheinend, damit Melanies Assistentin nichts
mitbekam. »Und im Radio wurde eine neue Kaltfront angekündigt. Die
könnte ziemlich schlimm werden. Weitere fünf Minusgrade.«
»Fabelhaft.« Tim spürte, wie ihn langsam die
Zuversicht verließ. Aber das war seiner Stimme nicht anzumerken.
Immerhin gehörte es zu den Pflichten eines Regisseurs, stets Ruhe
auszustrahlen und alles unter Kontrolle zu halten. Bloß keine
Besorgnis zeigen … »Einfach fabelhaft.« Wieder zur Tür gewandt,
rief er: »Mel, Schätzchen, Jack ist bald da, und wir müssen zu
drehen anfangen … die Szene im Bergwerk. Ein Schneesturm zieht auf,
und ich …«
Da flog die Tür des Wohnwagens auf, so plötzlich,
dass sogar die Assistentin zusammenzuckte. Immer noch im
Filmkostüm, mit grässlich verschmierter Wimperntusche, starrte
Melanie auf Tim hinab. Sogar Miss Dupre, eine zierliche Gestalt,
war größer als der Oscar-Preisträger Tim Lord. »Weißt du
eigentlich«, jammerte sie mit tränenerstickter Stimme, »was dieser
Trottel letzte Nacht zu mir gesagt hat? Weißt
du das?«
Obwohl er es nicht für möglich gehalten hatte,
wurde er noch mutloser. Noch zwei Tage. Mehr Zeit blieb ihm nicht.
In zwei Tagen musste er die Dreharbeiten beenden, nach L.A.
zurückkehren und anfangen, den Film zusammenzuschneiden.
Da brauchte er das hier wirklich nicht. Er
brauchte keine romantischen Verwicklungen zwischen seinen
Hauptdarstellern, keine protestierenden Umweltfanatiker,
keine tollwütigen Tierschützer. Nichts von diesem ganzen
Wahnsinn!
Niemand hatte Jack Townsends Independent-Film
Hamlet kitschig oder ein Produkt der
Selbstbefriedigung genannt. So viel hatte er registriert.
Klar, der Film hatte nur einen Bruchteil dessen
eingespielt, was Hindenburg an den
Kinokassen erzielte. Aber dieser Hamlet
hatte fantastische Kritiken bekommen, sogar in der New York Times.
Irgendwie fürchtete Tim, Copkiller IV würde keine so glänzenden Kritiken
erhalten.
»Bitte, Mel«, begann er in einem Ton, den er für
besänftigend hielt. »Du kennst doch Jack. Vor wichtigen
Dreharbeiten ist er immer nervös …«
»Mit dem Film hat das nichts zu tun!«, kreischte
sie.
Das dichte Schneetreiben verschluckte ihre Stimme.
Tim bezweifelte, dass die Crew, die vor der stillgelegten Zeche
saß, irgendwas hörte. Gott sei Dank.
»Was ist denn bloß los mit euch?«, beschwerte sich
Melanie. »Dauernd bildet ihr euch ein, alles würde sich nur um
euren blöden Film drehen! Aber mit Copkiller hat das ganz sicher nichts zu tun, Tim.
Sondern mit der unumstößlichen Tatsache, dass Jack Townsend ein
egoistisches, manipulatives Ekel ist und …«
Drüben beim Minenschacht heulte eine Sirene. Das
Team für die Spezialeffekte hatte die Sprengkapseln zurechtgelegt
und bereitete den Test für eine Explosion vor. Um fliegenden
Kieselsteinen und Holzsplittern auszuweichen, mussten sie alle um
zwanzig Schritte zurückweichen.
»… und ich lasse mich nicht mehr ausnutzen«, fuhr
Melanie fort, die auch während des Sirenengeheuls weitergeredet
hatte. »Das war’s, Tim. Mit diesem Kerl arbeite ich nicht mehr
zusammen. Keine Sekunde länger. Verstanden?«
Wie ein fernes Donnergrollen verkündete, hatte die
Explosion reibungslos stattgefunden. Nun würde die Crew alles für
die Aufnahmen vorbereiten. Und die Hauptdarsteller mussten
möglichst bald am Set erscheinen.
»Hör mal, Mel«, versuchte Tim, seinen Star zu
beruhigen. »Ich weiß, du machst einiges durch. Das verstehe ich.
Wir alle sind gestresst. So geht es an den letzten Drehtagen immer
zu. Aber du solltest bedenken, dass Jack noch schlimmer dran ist
als wir. Ich meine, Greta …«
Natürlich hätte er La Woolston nicht erwähnen
dürfen. Das erkannte er sofort. Die Rolle der Mimi in Hindenburg war in den letzten zwei Jahren die
begehrteste Hollywoods gewesen. Melanie hatte sich darum ebenso
gerissen wie drei Dutzend andere Starlets, ganz zu schweigen von
einigen Rock-Diven und einer Talkshow-Moderatorin. Als Greta die
Rolle bekommen hatte, war Mel bitter enttäuscht gewesen.
»O Gott!«, heulte sie, und ihr Gesicht verzerrte
sich. »Wie konntest du, Tim? Wie konntest
du nur?«
Krachend fiel die Wohnwagentür ins Schloss. Tim,
die Assistentin und Paul wechselten bedeutungsvolle Blicke.
»Vielleicht«, schlug die Assistentin nach einigen
Sekunden vor, »sollte ich ihre Therapeutin anrufen.«
»Vielleicht«, entgegnete Tim bissig, »hätten Sie
das schon vor einer halben Stunde tun sollen.«
Während die Assistentin beschämt davoneilte,
räusperte sich der Regieassistent, und Tim starrte ihn entnervt
an.
»Was ist jetzt schon wieder los?«
»Äh …« Paul berührte das Headset, das an seinem
feuerroten Ohr steckte. »Soeben erfahre ich, dass Lou bei ihm ist.
Bei Townsend, meine ich.«
Entsetzt rang Tim nach Atem. »Was … was sagst du
da?«
»Hm …«, murmelte Paul nervös. »Sie sitzt im selben
Hubschrauber. Lou. Mit Jack. Auf sehr beengtem Raum.«
Tim presste beide Hände an seine Schläfen. Nein.
Nein, das durfte nicht wahr sein.
»Großer Gott«, hauchte Paul, »die werden sich
umbringen.«
Vicky Lord warf die Tür ihrer Hotelsuite zu und
lehnte sich schwer dagegen. Oder so schwer, wie das eine zierliche
Frau zustande brachte, die stets ein Adlerauge auf ihre
fünfundfünfzig Kilo und fünfzehn Prozent Körperfett warf.
»Du meine Güte«, sagte sie zu Lupe, die erstaunt
von ihrer Zeitschrift und dem flimmernden Fernseher zu ihrer
Arbeitgeberin aufblickte. »Diese Reporter sind gnadenlos.
Unglaublich, dass ich die Hotelhalle unversehrt durchqueren konnte!
›Mrs. Lord! Mrs. Lord! Möchten Sie einen Kommentar zur di
Blase/Woolston-Affäre abgeben? Wissen Sie, was Jack Townsend heute
Morgen macht? Ist er selbstmordgefährdet?‹ Und diese lästigen
Umweltschützer! Man sollte meinen, Tim würde eine Katzenfarm in die
Luft sprengen, keinen
stillgelegten Minenschacht, so wie die sich aufführen!« Als sie
die Whiskyflasche auf der Bar ihrer Hotelsuite entdeckte, rannte
sie darauf zu und füllte ein Glas. »Nur ein kleiner Schluck«,
erklärte sie Lupe, die das Magazin inzwischen versteckt und den
Fernseher ausgeschaltet hatte. »Den brauche ich, nach alldem
…«
Wie üblich gab Lupe keinen Kommentar dazu ab. Sie
erhob sich und ergriff den Pelzmantel, den ihre Chefin zu Boden
hatte fallen lassen. Das teure Stück bestand zwar aus echten
Chinchillafellen, sah aber aus wie eine Imitation und hätte sogar
die eifrigsten Tierschützer mit ihren Farbspraydosen
getäuscht.
»Warum kommen Sie so früh zurück, Mrs. Lord?«,
fragte Lupe, ging zum Schrank und hängte den Mantel sorgsam auf
einen Bügel. »Wegen des Schneesturms? Ich habe davon in den
Nachrichten gehört.«
»Ein Schneesturm?« Den wärmenden Whisky im Magen,
wo er sich angenehm mit dem Frühstück (Eiweißomelett und heißes
Wasser mit Zitrone) vereinte, schlenderte Vicky zur Fensterfront
auf der anderen Seite des Salons und betrachtete die dichten Wolken
über den Bergen. »Großer Gott … tatsächlich, ein Schneesturm. Das
gibt’s doch nicht! Jetzt sitze ich den ganzen Tag mit dem kleinen
Lord hier fest und kann nicht einmal shoppen.« Seufzend fügte sie
hinzu: »Als gäbe es in dieser gottverlassenen Stadt irgendwas, das
ich gern kaufen würde.« Sie wandte sich vom Fenster ab. »Okay,
sagen Sie es mir, hat er sich übergeben? Wie ich auf Erbrochenes
reagiere, wissen Sie ja.«
Verwirrt schaute Lupe ihre Arbeitgeberin an. Im
Lord-Haushalt gab es vieles, das sie nicht verstand. Aber die neue
Mrs. Lord gab ihr immer wieder Rätsel
auf. Allerdings war die neue besser als die alte. Die hatte Lupe
furchtbar erschreckt mit ihrem plötzlichen Interesse an
Bodybuilding und Pistolen, sobald es offensichtlich geworden war,
dass sie durch ein jüngeres Model ersetzt werden sollte.
»Keine Ahnung, was Sie meinen, Mrs. Lord«, gestand
Lupe. »Wer hat sich denn übergeben?«
Ungeduldig verdrehte Vicky die Augen. »Elijah. Man
hat mir mitgeteilt, ihm sei schlecht gewesen.«
»O nein, dem ist nicht schlecht. Er ist draußen am
Pool mit den anderen Kindern und der Nanny. Als ich zuletzt
nachsah, waren sie auf der Playstation in Jaws
Unleashed vertieft.«
Vicky sank auf die Couch, an derselben Stelle, wo
Lupe vorhin gesessen hatte, und begann, in der Zeitschrift zu
blättern. »Schon gut, Lupe. Sie müssen meine Gefühle nicht schonen,
mir geht es gut. Als ich die Aufgabe der Stiefmutter übernahm,
wusste ich, was mir drohte. Sagen Sie mir alles. Wie schlimm ist
es? Es ist doch nicht ansteckend, oder?«
»O Mrs. Lord!« Hilflos hob Lupe beide Hände.
»Wirklich, ich weiß nicht, wovon Sie reden. Elijah ist nicht krank.
Jetzt schwimmt er wahrscheinlich im Pool. In einer Stunde werde ich
den Lunch bestellen. Als ich ihn zuletzt sah, ging es ihm ganz
ausgezeichnet.« Sogar so gut, dass er einen Lego-Schlachtkreuzer
nach ihr geworfen hatte. Aber darüber wollte sie sich nicht bei der
Stiefmutter des Kindes beklagen, die ohnehin nichts dagegen tun
konnte oder würde.
»Moment mal.« Vicky schaute von der neuesten
Vogue -Ausgabe auf. »Wenn der Junge nicht
krank ist … warum bekam Tim dann diese Nachricht?«
»Keine Ahnung, Mrs. Lord. Jedenfalls habe ich Mr.
Lord nicht angerufen. Elijah ist okay. Zumindest hat er heute
Morgen seine ganzen Choco Pops aufgegessen.«
Mit schmalen Augen starrte Vicky das Mädchen an.
»Heißt das – ich wurde für nichts und wieder nichts vom Flughafen
hierher beordert?«
»Offenbar ein Missverständnis, Miss.« Lupe zuckte
die Schultern. »Vielleicht hat das Hotelpersonal irgendwas falsch
verstanden? Nun, so schlimm ist das gar nicht. Bei diesem Wetter
sollten Sie ohnehin nicht zum Drehort fliegen.« Sie wies mit dem
Kinn zum Fenster, vor dem die ersten Flocken tanzten. »Sonst würden
Sie die ganze Nacht auf diesem Berg festsitzen.«
Vicky folgte Lupes Blick und hielt den Atem an.
»Oh, Sie haben recht … iih, das sieht ja grässlich aus. Natürlich
bin ich froh, dass ich hier bin, in Sicherheit.« Dann runzelte sie
die hübsche Stirn. »Armer Jack, arme Lou. Bei diesem grauenvollen
Wetter müssen sie zum Set fliegen. Hoffentlich geht es ihnen
gut.«
Frank Calabrese studierte die Nummern, die er
sorgsam auf der Notrufliste neben dem Telefon in der Küche notiert
hatte. Nach vierzig Dienstjahren hatte er einiges gelernt. Zum
Beispiel trug er niemals weiße Unterhemden, die aus dem
V-Ausschnitt seines Uniformkragens lugten. Denn die würden ein
perfektes Ziel für Idioten abgeben, wenn sie ihn oberhalb seiner
kugelsicheren Weste treffen wollten.
Nicht dass jemals irgendwer auf ihn geschossen
hätte. Trotzdem musste man immer auf alles vorbereitet
sein. Und schwarze Unterhemden verschafften ihm einen zusätzlichen
Vorteil. Darauf sah man die Fettflecken von den Sandwiches mit den
Hackfleischbällchen nicht, die er so gern zum Lunch aß.
Noch lehrreicher als die Jahre beim New York
Police Department waren die vier Jahrzehnte gewesen, die er mit der
Erziehung seiner fünf Kinder verbracht hatte – unterstützt von
seiner inzwischen verstorbenen Frau Helen, was er bereitwillig
zugab. Doch seit sie vor zehn Jahren an Brustkrebs gestorben war,
übernahm er die elterlichen Pflichten allein. Und – das konnte er
ohne anzugeben behaupten – er hatte gute Arbeit geleistet.
Jetzt waren die Kids fast erwachsen und nicht mehr
auf die väterliche Aufsicht angewiesen. Aber er hatte unter anderem
gelernt, dass ein Vater stets die Telefonnummern aller seiner
Kinder parat haben musste, zusammen mit den restlichen wichtigen
Nummern, zum Beispiel vom nächstgelegenen Pizzaservice und von der
kostenlosen Hotline für Yankee-Tickets.
Die Augen zusammengekniffen, musterte er die
Liste. Er war weitsichtig, aber zu stur, um die Brille zu tragen,
die ihm der Augenarzt verordnet hatte. Die setzte er nur auf, wenn
er Agententhriller las – die liebte er, seit er in den Ruhestand
getreten war. Schließlich fand er die gesuchte Nummer und wählte
sie nach einem letzten Blick in die aufgeschlagene Zeitung, die vor
ihm auf dem Küchentisch lag.
Sie meldete sich natürlich nicht. Das tat sie nur
selten. Warum besaß sie überhaupt ein Handy, wenn sie fast jeden
Anruf ignorierte? Die Mailbox forderte ihn auf, eine Nachricht zu
hinterlassen. Sollte er was sagen?
Wenn Helen noch lebte, hätte sie ihm jetzt sagen können, ob man
einer Tochter, die von ihrem Liebhaber verschmäht worden war, etwas
mitteilen musste oder nicht. Vielleicht schon – wenn man sich
freute, dass sie den Kerl los war …
Nach reiflicher Überlegung entschied er, dass es
ihm egal war, ob ein Kommentar zu dem Zeitungsartikel taktlos
wirken mochte oder nicht. »Lou«, begann er nach dem Piepston, »hier
ist Dad. Heute Morgen hab ich’s in der Zeitung gelesen. Über
Barry.«
Was sollte er hinzufügen? Ich
konnte ihn ohnehin nie leiden. Nein. So was hatte er nach der
Trennung von Nick und Angie versucht, und was war passiert? Die
beiden versöhnten sich, und Nick, der Trottel, erzählte Angie, was
sein Vater gesagt hatte. Während der ganzen Zeit, die sie
beisammenblieben, musste Frank böse, vernichtende Blicke von der
Freundin seines jüngsten Sohnes ertragen. Zum Glück hatte es nur
ein paar Monate gedauert. Aber es war ziemlich unangenehm
gewesen.
Also durfte er Lou nicht die Wahrheit gestehen –
dass er Barry Kimmel stets gehasst hatte, seit sie zum ersten Mal
mit dem Jungen heimgekommen war. Frank hatte ihn sofort für ein
Weichei gehalten. Und als der Typ in seiner weißen Stoffhose und
einem rosa – rosa! – Izod-Shirt auf der Veranda posierte und im
imitierten Kennedy-Stil mit Helen plauderte, hätte Frank ihm am
liebsten das selbstgefällige Grinsen aus dem Gesicht geschlagen.
Wenn er einen schmierigen Schleimer sah, merkte er’s. Und Barry
Kimmel war schon damals der König aller schmierigen Schleimer
gewesen.
Obwohl er versuchte, gemäßigt auszudrücken, was er
eigentlich verkünden wollte, schaffte er es nicht. »Was soll ich
denn sagen, Kiddo? Ein Mädchen wie dich hat der Widerling nicht
verdient. Hab ich recht, oder was? Ich meine, ein Mann, der lieber
eine aufgedonnerte Nutte heiratet als meine Kleine … Also reg dich
bloß nicht auf. Was deine Mutter sagen würde, wenn sie noch da
wäre, weißt du ja. Andere Mütter haben auch hübsche Töpfe, und
eines Tages wirst – äh – auch du einen passenden Deckel finden. Für
dich war er sowieso niemals gut genug.«
Irgendwie klang das nicht richtig. Aber Helen
hatte so was Ähnliches gesagt, als Adams erste ernsthafte Beziehung
in die Brüche gegangen war.
Und so fügte Frank hinzu: »Das war’s. Hoffentlich
bist du okay da draußen bei den Verrückten. Wenn du nach Hause
kommen willst … dein Zimmer ist immer für dich bereit. Die Jungs
würden dich alle gern sehen. Und du musst nicht befürchten, wir
würden dich wie einen Star behandeln. Oscar hin, Oscar her, hier
wirst du immer an deine Wurzeln erinnert. Ach, da ich gerade diesen
Oscar erwähne … Weißt du, was du damit machen solltest? Ich meine,
in Bezug auf Barry. Nun, wahrscheinlich dürfte ich das nicht sagen
…«
Verlegen unterbrach er sich und strich sich über
die Stirn. Helen hatte stets gewusst, wie sie mit Lou reden musste.
Bei den Jungs spielte es keine so große Rolle. Denen konnte man
alles sagen, sogar dem sensiblen Adam, und es machte ihnen nicht
viel aus.
Lou war schon immer anders gewesen. »Meine geniale
Tochter«, hatte Helen sie genannt. Mit gutem Grund. Lou war nie so
gewesen wie die Jungs. Nicht
nur weil sie ein Mädchen ist, dachte Frank. Immer analysierte sie
alles. Viel zu intensiv …
Bei einer Autorin war das völlig in Ordnung, bei
einem Polizisten nicht. Wenn ein Cop die Dinge analysierte, statt
seinem Instinkt zu vertrauen … nun ja, dann biss er normalerweise
ins Gras.
Zum Glück funktionierten Lous Instinkte genauso
gut wie ihr Verstand. Abgesehen von den Männern, die sie sich
bisher ausgesucht hatte.
»Also … ähm … hör zu«, sagte Frank ins Telefon.
»Ruf mich an, wenn du diese Nachricht hörst, ja? Wir sorgen uns um
dich. Und wir wollen wissen, ob es dir gut geht. Lass dich bloß
nicht von einem dieser verrückten Kulttrends einwickeln, auf die
diese ausgeflippten Stars schwören. Okay? Ruf mich an.«
Er legte auf. Hatte er zu viel geredet? Er
betrachtete das Foto von Barry und dieser Woolston aus dem
Hindenburg -Film. Lachend umarmten sie sich
über einem Hochzeitskuchen, und der sah aus … wie ein Zeppelin,
würde Adam behaupten.
Nein, dachte er, ich hab nicht zu viel gesagt. So,
wie er Lou kannte, würde sie vermutlich in die Berge flüchten und
ihre Wunden lecken, ganz allein.
Hoffentlich hatte sie ihr Handy mitgenommen. Im
Gegensatz zu den Jungs hatte sie solche Krisen noch nie besonders
gut verkraftet.