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Tim Lord starrte die geschlossene Tür des Wohnwagens an. Daran klebte ein Abdeckband. »Rebecca« stand darauf. Aber er wusste, dass Melanie Dupre da drin war – die Schauspielerin, die Pete Logans aktuelle Bettgefährtin mimte. Das verriet ihm der Lärm, der aus dem Wohnwagen drang – klirrendes Glas und hysterisches Geschrei.
»So führt sie sich schon den ganzen Vormittag auf«, erklärte Melanie Dupres sichtlich missgelaunte Assistentin. Den Namen dieser Frau konnte er sich nie merken.
Tim lauschte einem Geräusch, das ihn an zertrümmerte CDs erinnerte, und zuckte zusammen. Würde die Versicherung des Studios den Schaden bezahlen? Oder sollten sie die Summe von Miss Dupres Gage abziehen, um ihr eine Lektion zu erteilen?
»Ist sie wegen dieser Affäre ausgeflippt?«, fragte er die Assistentin neugierig. »Sie wissen schon, Greta und Bruno …«
»Das glaube ich nicht.«
Wie die meisten Assistentinnen war sie eine entfernte Verwandte des Stars, und sie sah Melanie sogar ein bisschen ähnlich. Aber eine ausgeprägte Akne entstellte ihr ansonsten attraktives Gesicht. Er überlegte, warum die Schauspielerin das Mädchen nicht zu ihrem Dermatologen schickte. Immerhin zählte er zu den besten von L.A. Das wusste Tim, weil Miss Dupres Vertrag die Klausel enthielt, das Studio müsse während der Dreharbeiten die Kosten für ihre chemischen Peelings übernehmen.
»Vermutlich geht es um Mr. Townsend«, fuhr die Assistentin leise fort, als könnte Melanie drinnen im Wohnwagen zuhören – trotz des Lärms, den sie in ihrer Zerstörungswut erzeugte. »Letzte Nacht hat er sie abserviert.«
Tim nickte. Natürlich. Das hätte er sich denken können.
Nur selten kam was Gutes dabei heraus, wenn ein Schauspielerpaar das erotische Leinwandknistern auch hinter der Kamera ausprobierte. Genau das hatten Melanie und Jack vor kurzem getan. Und wenn so eine Liaison vor dem Ende der Dreharbeiten in die Brüche ging, wirkte sich das höchst unangenehm auf die Atmosphäre am Set aus. Das wusste Tim aus eigener Erfahrung, und deshalb hütete er sich vor solchen Problemen.
Offenbar hatten Melanie und Jack sich nicht gehütet.
Also wirklich, warum musste das passieren? Wieso an diesem Tag? Warum zum Teufel hatten Greta Woolston und Bruno di Blase ausgerechnet die letzte Nacht gewählt, um gemeinsam abzuhauen? Ein Ereignis, das Jack zweifellos bewogen hatte, seine Prioritäten neu zu ordnen …
Und warum hatte Jack sich nach Hindenburg ausgerechnet diesen Film ausgesucht? Warum keine nette kleine Komödie mit unbekannten Schauspielern?
»Mel?« Tim hämmerte gegen die Wohnwagentür. »Hey, Mel, ich bin’s – Tim. Darf ich reinkommen?«
Bevor Melanie antworten konnte, kam Paul Thomkins angerannt, einer der Regieassistenten. Unter der Copkiller-II-Baseballkappe ragten seine Ohren hervor, vor Kälte knallrot. Dabei war es mit minus zehn Grad noch relativ mild. Laut Vorhersage sollte die Temperatur in der nächsten Stunde um weitere fünf Grad fallen.
Das war alles noch harmlos. Am Vortag war einem Kameramann bei minus neunzehn Grad beinahe ein Finger abgefroren.
Wieso zum Geier hatte Lou für den letzten Copkiller einen arktischen Schauplatz gewählt? Warum nicht Hawaii? Dort versteckten sich doch bestimmt viele gefährliche Verbrecher. In ihrer Abneigung gegen Jack Townsend und dem Bestreben, ihm das Leben möglichst schwer zu machen, ging sie eindeutig zu weit. Genau genommen war der Satz »Ich brauche eine grö ßere Waffe« wesentlich besser als »Es ist so lange komisch, bis es jemandem wehtut«. Da musste man nur ein Testpublikum fragen.
»Tim«, flüsterte Paul und beugte sich hinab.
Trotz der Cowboystiefel mit den zentimeterdicken Absätzen war Tim Lord nur einsachtundsechzig groß. Und das störte ihn noch empfindlicher als die Frechheit des Filmkritikers der New York Times, der Hindenburg eine »vor Kitsch triefende Selbstbefriedigung eines eingebildeten Regisseurs« genannt hatte.
»Gerade habe ich eine Nachricht aus Anchorage erhalten«, wisperte Paul. »Der Helikopter mit Jack ist unterwegs.«
»Großartig.« Tim holte tief Luft, richtete sich möglichst hoch auf und klopfte wieder an die Wohnwagentür. »Melanie? Hier ist Tim, Schätzchen. Hör mal, lass mich rein, wir müssen reden.«
»Und …«, fügte Paul hinzu, immer noch im Flüsterton – anscheinend, damit Melanies Assistentin nichts mitbekam. »Und im Radio wurde eine neue Kaltfront angekündigt. Die könnte ziemlich schlimm werden. Weitere fünf Minusgrade.«
»Fabelhaft.« Tim spürte, wie ihn langsam die Zuversicht verließ. Aber das war seiner Stimme nicht anzumerken. Immerhin gehörte es zu den Pflichten eines Regisseurs, stets Ruhe auszustrahlen und alles unter Kontrolle zu halten. Bloß keine Besorgnis zeigen … »Einfach fabelhaft.« Wieder zur Tür gewandt, rief er: »Mel, Schätzchen, Jack ist bald da, und wir müssen zu drehen anfangen … die Szene im Bergwerk. Ein Schneesturm zieht auf, und ich …«
Da flog die Tür des Wohnwagens auf, so plötzlich, dass sogar die Assistentin zusammenzuckte. Immer noch im Filmkostüm, mit grässlich verschmierter Wimperntusche, starrte Melanie auf Tim hinab. Sogar Miss Dupre, eine zierliche Gestalt, war größer als der Oscar-Preisträger Tim Lord. »Weißt du eigentlich«, jammerte sie mit tränenerstickter Stimme, »was dieser Trottel letzte Nacht zu mir gesagt hat? Weißt du das
Obwohl er es nicht für möglich gehalten hatte, wurde er noch mutloser. Noch zwei Tage. Mehr Zeit blieb ihm nicht. In zwei Tagen musste er die Dreharbeiten beenden, nach L.A. zurückkehren und anfangen, den Film zusammenzuschneiden.
Da brauchte er das hier wirklich nicht. Er brauchte keine romantischen Verwicklungen zwischen seinen Hauptdarstellern, keine protestierenden Umweltfanatiker, keine tollwütigen Tierschützer. Nichts von diesem ganzen Wahnsinn!
Niemand hatte Jack Townsends Independent-Film Hamlet kitschig oder ein Produkt der Selbstbefriedigung genannt. So viel hatte er registriert.
Klar, der Film hatte nur einen Bruchteil dessen eingespielt, was Hindenburg an den Kinokassen erzielte. Aber dieser Hamlet hatte fantastische Kritiken bekommen, sogar in der New York Times.
Irgendwie fürchtete Tim, Copkiller IV würde keine so glänzenden Kritiken erhalten.
»Bitte, Mel«, begann er in einem Ton, den er für besänftigend hielt. »Du kennst doch Jack. Vor wichtigen Dreharbeiten ist er immer nervös …«
»Mit dem Film hat das nichts zu tun!«, kreischte sie.
Das dichte Schneetreiben verschluckte ihre Stimme. Tim bezweifelte, dass die Crew, die vor der stillgelegten Zeche saß, irgendwas hörte. Gott sei Dank.
»Was ist denn bloß los mit euch?«, beschwerte sich Melanie. »Dauernd bildet ihr euch ein, alles würde sich nur um euren blöden Film drehen! Aber mit Copkiller hat das ganz sicher nichts zu tun, Tim. Sondern mit der unumstößlichen Tatsache, dass Jack Townsend ein egoistisches, manipulatives Ekel ist und …«
Drüben beim Minenschacht heulte eine Sirene. Das Team für die Spezialeffekte hatte die Sprengkapseln zurechtgelegt und bereitete den Test für eine Explosion vor. Um fliegenden Kieselsteinen und Holzsplittern auszuweichen, mussten sie alle um zwanzig Schritte zurückweichen.
»… und ich lasse mich nicht mehr ausnutzen«, fuhr Melanie fort, die auch während des Sirenengeheuls weitergeredet hatte. »Das war’s, Tim. Mit diesem Kerl arbeite ich nicht mehr zusammen. Keine Sekunde länger. Verstanden?«
Wie ein fernes Donnergrollen verkündete, hatte die Explosion reibungslos stattgefunden. Nun würde die Crew alles für die Aufnahmen vorbereiten. Und die Hauptdarsteller mussten möglichst bald am Set erscheinen.
»Hör mal, Mel«, versuchte Tim, seinen Star zu beruhigen. »Ich weiß, du machst einiges durch. Das verstehe ich. Wir alle sind gestresst. So geht es an den letzten Drehtagen immer zu. Aber du solltest bedenken, dass Jack noch schlimmer dran ist als wir. Ich meine, Greta …«
Natürlich hätte er La Woolston nicht erwähnen dürfen. Das erkannte er sofort. Die Rolle der Mimi in Hindenburg war in den letzten zwei Jahren die begehrteste Hollywoods gewesen. Melanie hatte sich darum ebenso gerissen wie drei Dutzend andere Starlets, ganz zu schweigen von einigen Rock-Diven und einer Talkshow-Moderatorin. Als Greta die Rolle bekommen hatte, war Mel bitter enttäuscht gewesen.
»O Gott!«, heulte sie, und ihr Gesicht verzerrte sich. »Wie konntest du, Tim? Wie konntest du nur?«
Krachend fiel die Wohnwagentür ins Schloss. Tim, die Assistentin und Paul wechselten bedeutungsvolle Blicke.
»Vielleicht«, schlug die Assistentin nach einigen Sekunden vor, »sollte ich ihre Therapeutin anrufen.«
»Vielleicht«, entgegnete Tim bissig, »hätten Sie das schon vor einer halben Stunde tun sollen.«
Während die Assistentin beschämt davoneilte, räusperte sich der Regieassistent, und Tim starrte ihn entnervt an.
»Was ist jetzt schon wieder los?«
»Äh …« Paul berührte das Headset, das an seinem feuerroten Ohr steckte. »Soeben erfahre ich, dass Lou bei ihm ist. Bei Townsend, meine ich.«
Entsetzt rang Tim nach Atem. »Was … was sagst du da?«
»Hm …«, murmelte Paul nervös. »Sie sitzt im selben Hubschrauber. Lou. Mit Jack. Auf sehr beengtem Raum.«
Tim presste beide Hände an seine Schläfen. Nein. Nein, das durfte nicht wahr sein.
»Großer Gott«, hauchte Paul, »die werden sich umbringen.«
 
Vicky Lord warf die Tür ihrer Hotelsuite zu und lehnte sich schwer dagegen. Oder so schwer, wie das eine zierliche Frau zustande brachte, die stets ein Adlerauge auf ihre fünfundfünfzig Kilo und fünfzehn Prozent Körperfett warf.
»Du meine Güte«, sagte sie zu Lupe, die erstaunt von ihrer Zeitschrift und dem flimmernden Fernseher zu ihrer Arbeitgeberin aufblickte. »Diese Reporter sind gnadenlos. Unglaublich, dass ich die Hotelhalle unversehrt durchqueren konnte! ›Mrs. Lord! Mrs. Lord! Möchten Sie einen Kommentar zur di Blase/Woolston-Affäre abgeben? Wissen Sie, was Jack Townsend heute Morgen macht? Ist er selbstmordgefährdet?‹ Und diese lästigen Umweltschützer! Man sollte meinen, Tim würde eine Katzenfarm in die Luft sprengen, keinen stillgelegten Minenschacht, so wie die sich aufführen!« Als sie die Whiskyflasche auf der Bar ihrer Hotelsuite entdeckte, rannte sie darauf zu und füllte ein Glas. »Nur ein kleiner Schluck«, erklärte sie Lupe, die das Magazin inzwischen versteckt und den Fernseher ausgeschaltet hatte. »Den brauche ich, nach alldem …«
Wie üblich gab Lupe keinen Kommentar dazu ab. Sie erhob sich und ergriff den Pelzmantel, den ihre Chefin zu Boden hatte fallen lassen. Das teure Stück bestand zwar aus echten Chinchillafellen, sah aber aus wie eine Imitation und hätte sogar die eifrigsten Tierschützer mit ihren Farbspraydosen getäuscht.
»Warum kommen Sie so früh zurück, Mrs. Lord?«, fragte Lupe, ging zum Schrank und hängte den Mantel sorgsam auf einen Bügel. »Wegen des Schneesturms? Ich habe davon in den Nachrichten gehört.«
»Ein Schneesturm?« Den wärmenden Whisky im Magen, wo er sich angenehm mit dem Frühstück (Eiweißomelett und heißes Wasser mit Zitrone) vereinte, schlenderte Vicky zur Fensterfront auf der anderen Seite des Salons und betrachtete die dichten Wolken über den Bergen. »Großer Gott … tatsächlich, ein Schneesturm. Das gibt’s doch nicht! Jetzt sitze ich den ganzen Tag mit dem kleinen Lord hier fest und kann nicht einmal shoppen.« Seufzend fügte sie hinzu: »Als gäbe es in dieser gottverlassenen Stadt irgendwas, das ich gern kaufen würde.« Sie wandte sich vom Fenster ab. »Okay, sagen Sie es mir, hat er sich übergeben? Wie ich auf Erbrochenes reagiere, wissen Sie ja.«
Verwirrt schaute Lupe ihre Arbeitgeberin an. Im Lord-Haushalt gab es vieles, das sie nicht verstand. Aber die neue Mrs. Lord gab ihr immer wieder Rätsel auf. Allerdings war die neue besser als die alte. Die hatte Lupe furchtbar erschreckt mit ihrem plötzlichen Interesse an Bodybuilding und Pistolen, sobald es offensichtlich geworden war, dass sie durch ein jüngeres Model ersetzt werden sollte.
»Keine Ahnung, was Sie meinen, Mrs. Lord«, gestand Lupe. »Wer hat sich denn übergeben?«
Ungeduldig verdrehte Vicky die Augen. »Elijah. Man hat mir mitgeteilt, ihm sei schlecht gewesen.«
»O nein, dem ist nicht schlecht. Er ist draußen am Pool mit den anderen Kindern und der Nanny. Als ich zuletzt nachsah, waren sie auf der Playstation in Jaws Unleashed vertieft.«
Vicky sank auf die Couch, an derselben Stelle, wo Lupe vorhin gesessen hatte, und begann, in der Zeitschrift zu blättern. »Schon gut, Lupe. Sie müssen meine Gefühle nicht schonen, mir geht es gut. Als ich die Aufgabe der Stiefmutter übernahm, wusste ich, was mir drohte. Sagen Sie mir alles. Wie schlimm ist es? Es ist doch nicht ansteckend, oder?«
»O Mrs. Lord!« Hilflos hob Lupe beide Hände. »Wirklich, ich weiß nicht, wovon Sie reden. Elijah ist nicht krank. Jetzt schwimmt er wahrscheinlich im Pool. In einer Stunde werde ich den Lunch bestellen. Als ich ihn zuletzt sah, ging es ihm ganz ausgezeichnet.« Sogar so gut, dass er einen Lego-Schlachtkreuzer nach ihr geworfen hatte. Aber darüber wollte sie sich nicht bei der Stiefmutter des Kindes beklagen, die ohnehin nichts dagegen tun konnte oder würde.
»Moment mal.« Vicky schaute von der neuesten Vogue -Ausgabe auf. »Wenn der Junge nicht krank ist … warum bekam Tim dann diese Nachricht?«
»Keine Ahnung, Mrs. Lord. Jedenfalls habe ich Mr. Lord nicht angerufen. Elijah ist okay. Zumindest hat er heute Morgen seine ganzen Choco Pops aufgegessen.«
Mit schmalen Augen starrte Vicky das Mädchen an. »Heißt das – ich wurde für nichts und wieder nichts vom Flughafen hierher beordert?«
»Offenbar ein Missverständnis, Miss.« Lupe zuckte die Schultern. »Vielleicht hat das Hotelpersonal irgendwas falsch verstanden? Nun, so schlimm ist das gar nicht. Bei diesem Wetter sollten Sie ohnehin nicht zum Drehort fliegen.« Sie wies mit dem Kinn zum Fenster, vor dem die ersten Flocken tanzten. »Sonst würden Sie die ganze Nacht auf diesem Berg festsitzen.«
Vicky folgte Lupes Blick und hielt den Atem an. »Oh, Sie haben recht … iih, das sieht ja grässlich aus. Natürlich bin ich froh, dass ich hier bin, in Sicherheit.« Dann runzelte sie die hübsche Stirn. »Armer Jack, arme Lou. Bei diesem grauenvollen Wetter müssen sie zum Set fliegen. Hoffentlich geht es ihnen gut.«
 
Frank Calabrese studierte die Nummern, die er sorgsam auf der Notrufliste neben dem Telefon in der Küche notiert hatte. Nach vierzig Dienstjahren hatte er einiges gelernt. Zum Beispiel trug er niemals weiße Unterhemden, die aus dem V-Ausschnitt seines Uniformkragens lugten. Denn die würden ein perfektes Ziel für Idioten abgeben, wenn sie ihn oberhalb seiner kugelsicheren Weste treffen wollten.
Nicht dass jemals irgendwer auf ihn geschossen hätte. Trotzdem musste man immer auf alles vorbereitet sein. Und schwarze Unterhemden verschafften ihm einen zusätzlichen Vorteil. Darauf sah man die Fettflecken von den Sandwiches mit den Hackfleischbällchen nicht, die er so gern zum Lunch aß.
Noch lehrreicher als die Jahre beim New York Police Department waren die vier Jahrzehnte gewesen, die er mit der Erziehung seiner fünf Kinder verbracht hatte – unterstützt von seiner inzwischen verstorbenen Frau Helen, was er bereitwillig zugab. Doch seit sie vor zehn Jahren an Brustkrebs gestorben war, übernahm er die elterlichen Pflichten allein. Und – das konnte er ohne anzugeben behaupten – er hatte gute Arbeit geleistet.
Jetzt waren die Kids fast erwachsen und nicht mehr auf die väterliche Aufsicht angewiesen. Aber er hatte unter anderem gelernt, dass ein Vater stets die Telefonnummern aller seiner Kinder parat haben musste, zusammen mit den restlichen wichtigen Nummern, zum Beispiel vom nächstgelegenen Pizzaservice und von der kostenlosen Hotline für Yankee-Tickets.
Die Augen zusammengekniffen, musterte er die Liste. Er war weitsichtig, aber zu stur, um die Brille zu tragen, die ihm der Augenarzt verordnet hatte. Die setzte er nur auf, wenn er Agententhriller las – die liebte er, seit er in den Ruhestand getreten war. Schließlich fand er die gesuchte Nummer und wählte sie nach einem letzten Blick in die aufgeschlagene Zeitung, die vor ihm auf dem Küchentisch lag.
Sie meldete sich natürlich nicht. Das tat sie nur selten. Warum besaß sie überhaupt ein Handy, wenn sie fast jeden Anruf ignorierte? Die Mailbox forderte ihn auf, eine Nachricht zu hinterlassen. Sollte er was sagen? Wenn Helen noch lebte, hätte sie ihm jetzt sagen können, ob man einer Tochter, die von ihrem Liebhaber verschmäht worden war, etwas mitteilen musste oder nicht. Vielleicht schon – wenn man sich freute, dass sie den Kerl los war …
Nach reiflicher Überlegung entschied er, dass es ihm egal war, ob ein Kommentar zu dem Zeitungsartikel taktlos wirken mochte oder nicht. »Lou«, begann er nach dem Piepston, »hier ist Dad. Heute Morgen hab ich’s in der Zeitung gelesen. Über Barry.«
Was sollte er hinzufügen? Ich konnte ihn ohnehin nie leiden. Nein. So was hatte er nach der Trennung von Nick und Angie versucht, und was war passiert? Die beiden versöhnten sich, und Nick, der Trottel, erzählte Angie, was sein Vater gesagt hatte. Während der ganzen Zeit, die sie beisammenblieben, musste Frank böse, vernichtende Blicke von der Freundin seines jüngsten Sohnes ertragen. Zum Glück hatte es nur ein paar Monate gedauert. Aber es war ziemlich unangenehm gewesen.
Also durfte er Lou nicht die Wahrheit gestehen – dass er Barry Kimmel stets gehasst hatte, seit sie zum ersten Mal mit dem Jungen heimgekommen war. Frank hatte ihn sofort für ein Weichei gehalten. Und als der Typ in seiner weißen Stoffhose und einem rosa – rosa! – Izod-Shirt auf der Veranda posierte und im imitierten Kennedy-Stil mit Helen plauderte, hätte Frank ihm am liebsten das selbstgefällige Grinsen aus dem Gesicht geschlagen. Wenn er einen schmierigen Schleimer sah, merkte er’s. Und Barry Kimmel war schon damals der König aller schmierigen Schleimer gewesen.
Obwohl er versuchte, gemäßigt auszudrücken, was er eigentlich verkünden wollte, schaffte er es nicht. »Was soll ich denn sagen, Kiddo? Ein Mädchen wie dich hat der Widerling nicht verdient. Hab ich recht, oder was? Ich meine, ein Mann, der lieber eine aufgedonnerte Nutte heiratet als meine Kleine … Also reg dich bloß nicht auf. Was deine Mutter sagen würde, wenn sie noch da wäre, weißt du ja. Andere Mütter haben auch hübsche Töpfe, und eines Tages wirst – äh – auch du einen passenden Deckel finden. Für dich war er sowieso niemals gut genug.«
Irgendwie klang das nicht richtig. Aber Helen hatte so was Ähnliches gesagt, als Adams erste ernsthafte Beziehung in die Brüche gegangen war.
Und so fügte Frank hinzu: »Das war’s. Hoffentlich bist du okay da draußen bei den Verrückten. Wenn du nach Hause kommen willst … dein Zimmer ist immer für dich bereit. Die Jungs würden dich alle gern sehen. Und du musst nicht befürchten, wir würden dich wie einen Star behandeln. Oscar hin, Oscar her, hier wirst du immer an deine Wurzeln erinnert. Ach, da ich gerade diesen Oscar erwähne … Weißt du, was du damit machen solltest? Ich meine, in Bezug auf Barry. Nun, wahrscheinlich dürfte ich das nicht sagen …«
Verlegen unterbrach er sich und strich sich über die Stirn. Helen hatte stets gewusst, wie sie mit Lou reden musste. Bei den Jungs spielte es keine so große Rolle. Denen konnte man alles sagen, sogar dem sensiblen Adam, und es machte ihnen nicht viel aus.
Lou war schon immer anders gewesen. »Meine geniale Tochter«, hatte Helen sie genannt. Mit gutem Grund. Lou war nie so gewesen wie die Jungs. Nicht nur weil sie ein Mädchen ist, dachte Frank. Immer analysierte sie alles. Viel zu intensiv …
Bei einer Autorin war das völlig in Ordnung, bei einem Polizisten nicht. Wenn ein Cop die Dinge analysierte, statt seinem Instinkt zu vertrauen … nun ja, dann biss er normalerweise ins Gras.
Zum Glück funktionierten Lous Instinkte genauso gut wie ihr Verstand. Abgesehen von den Männern, die sie sich bisher ausgesucht hatte.
»Also … ähm … hör zu«, sagte Frank ins Telefon. »Ruf mich an, wenn du diese Nachricht hörst, ja? Wir sorgen uns um dich. Und wir wollen wissen, ob es dir gut geht. Lass dich bloß nicht von einem dieser verrückten Kulttrends einwickeln, auf die diese ausgeflippten Stars schwören. Okay? Ruf mich an.«
Er legte auf. Hatte er zu viel geredet? Er betrachtete das Foto von Barry und dieser Woolston aus dem Hindenburg -Film. Lachend umarmten sie sich über einem Hochzeitskuchen, und der sah aus … wie ein Zeppelin, würde Adam behaupten.
Nein, dachte er, ich hab nicht zu viel gesagt. So, wie er Lou kannte, würde sie vermutlich in die Berge flüchten und ihre Wunden lecken, ganz allein.
Hoffentlich hatte sie ihr Handy mitgenommen. Im Gegensatz zu den Jungs hatte sie solche Krisen noch nie besonders gut verkraftet.