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Tödliches Schweigen folgte diesen Worten. 

«Sie sind toll!», lachte ich dann.

«Nein», erwiderte Poirot gelassen, «ich bin nicht toll. Eine kleine Zeitdifferenz lenkte zuerst meine Aufmerksamkeit auf Sie – gleich von Anfang an übrigens.»

«Ein Widerspruch in der Zeitangabe?», fragte ich bestürzt.

«Allerdings. Wir alle waren uns darüber einig, dass man fünf Minuten braucht, um von der Pförtnerwohnung zum Haus zu gelangen – vorausgesetzt, dass nicht der abkürzende Weg zur Terrasse gewählt wurde. Nach Ihren und Parkers Angaben verließen Sie das Haus zehn Minuten vor neun, und doch schlug es neun Uhr, als Sie das Parktor durchschritten. Das unfreundliche Wetter an jenem Abend verlockte nicht zum Spazierengehen, warum also brauchten Sie zehn Minuten für einen Weg, der bequem in der Hälfte der Zeit zurückzulegen war? Nach Ihrer Aussage bat Ackroyd Sie, das Fenster zu schließen. Überzeugte er sich aber, ob Sie seiner Bitte nachgekommen waren? Wenn Sie es nun offengelassen hätten, um sich eine schnelle, ungesehene Ein- und Ausgangsmöglichkeit zu schaffen? Diese Annahme schob ich schließlich als unwahrscheinlich beiseite. Ackroyd hätte sicher gehört, wie Sie durch das Fenster einstiegen, und es ist kaum anzunehmen, dass er sich in diesem Fall hätte kampflos abschlachten lassen. Aber sofort kam mir eine andere Überlegung – übrigens die Richtige. Wenn Sie Ackroyd erstochen hätten, ehe Sie ihn verließen – als Sie hinter seinem Stuhl standen? Dann konnten Sie das Haus durch den Haupteingang verlassen, zum Gartenhaus laufen, dort Ralph Patons Schuhe anziehen, die Sie in Ihrer Tasche mitgebracht hatten, durch die feuchte Erde zurückstapfen und so beim Einsteigen Fußspuren auf dem Fensterbrett hinterlassen. Nun schnell die Tür des Arbeitszimmers von innen abschließen, zum Fenster hinaus, zurück zum Gartenhaus, um flink in die eigenen Schuhe zu schlüpfen, und hastig zum Parktor. Dann eilten Sie nachhause. Es handelte sich jetzt um Ihr Alibi, denn Sie hatten das Diktiergerät auf halb zehn gestellt.»

«Mein lieber Poirot» – meine Stimme klang selbst meinen eigenen Ohren fremd und gezwungen –, «Sie grübeln zu viel über den Fall nach. Was, um Himmels willen, könnte ich durch die Ermordung Ackroyds gewinnen?»

«Sicherheit, mein Freund! Sie waren es, der die Erpressungen an Mrs. Ferrars verübte. Wer konnte besser wissen, woran Mr. Ferrars gestorben war, als der Arzt, der ihn betreute? Seinerzeit, bei unserem Gespräch im Garten, erwähnten Sie eine Erbschaft, die Ihnen vor einem Jahr zugefallen sei. Es war mir unmöglich, Spuren dieser Erbschaft zu ermitteln. Sie hatten sie erfunden, weil Sie die zwanzigtausend Pfund erklären wollten, die Sie von Mrs. Ferrars erhalten hatten. Sie brachten Ihnen nicht viel Glück. Das meiste ging durch Spekulation verloren. Dann zogen Sie die Daumenschrauben zu fest an, und Mrs. Ferrars wählte einen Ausweg, auf den Sie nicht gefasst waren. Hätte Ackroyd nämlich die Wahrheit erfahren, so wäre er erbarmungslos gegen Sie vorgegangen, und Sie wären für immer erledigt gewesen.»

«Und der Telefonanruf?», fragte ich und versuchte die Sache ins Lächerliche zu ziehen. «Sie fanden vermutlich auch dafür eine glaubwürdige Erklärung?»

«Ich will Ihnen gestehen, es war ein Rätsel für mich, als ich herausbrachte, dass wirklich ein Anruf vom Bahnhof King’s Abbot aus erfolgt war. Zuerst dachte ich, Sie hätten die Geschichte einfach erfunden. Sie mussten einen Vorwand haben, um in Fernly erscheinen zu können, den Leichnam aufzufinden und das Diktiergerät zu entfernen, von dem Ihr Alibi abhing. Ich hatte nur eine unklare Vorstellung, wie alles wohl durchgeführt worden sei, als ich Ihre Schwester zum ersten Mal besuchte und sie fragte, was für Patienten an jenem Freitagvormittag bei Ihnen gewesen waren. Ich dachte damals nicht im entferntesten an Miss Russell. Ihr Besuch war ein glücklicher Zufall, weil er Ihre Gedanken von dem eigentlichen Gegenstand meines Interesses ablenkte. Ich fand, was ich suchte. Unter Ihren Patienten von jenem Vormittag befand sich der Steward eines amerikanischen Dampfers. Wer kam eher in Betracht, an jenem Abend nach Liverpool zu reisen? Und später war er auf hoher See und daher aus dem Weg. Ich stellte fest, dass die ‹Orion› Samstag in See stach, und nachdem ich den Namen des Stewards festgestellt hatte, sandte ich ihm eine Depesche, die eine bestimmte Frage enthielt. Hier die Antwort, die ich in Ihrer Gegenwart empfing.»

Er reichte mir die Nachricht. Sie lautete:

«Stimmt. Doktor Sheppard ersuchte mich, im Hause eines Patienten Nachricht zu hinterlassen. Sollte ihm vom Bahnhof aus Bescheid telefonieren. Dieser lautete: Keine Antwort.»

«Das war ein sehr kluger Einfall», sagte Poirot. «Der Anruf war authentisch. Ihre Schwester sah, wie Sie ihn entgegennahmen. Über den Inhalt des Gesprächs lag allerdings nur eine Aussage vor – die Ihre.»

Ich gähnte.

«All dies», sagte ich, «ist sehr interessant, aber kaum glaubhaft.»

«Finden Sie? Erinnern Sie sich, was ich sagte: morgen erfährt Inspektor Raglan die Wahrheit. Ihrer Schwester zuliebe will ich Ihnen jedoch Gelegenheit zu einem Ausweg geben. Ich denke zum Beispiel an eine Überdosis von Schlafmitteln. Verstehen Sie mich? Aber Captain Paton muss reingewaschen werden – das ist selbstverständlich. Ich möchte vorschlagen, dass Sie Ihr interessantes Manuskript – unter Aufgabe Ihrer früheren Zurückhaltung – abschließen.»

«Sie scheinen sehr produktiv zu sein, was Vorschläge anbelangt», bemerkte ich. «Sind Sie jetzt fertig?»

«Nun, da Sie mich daran erinnern, bleibt mir wirklich noch etwas zu sagen übrig. Es wäre sehr unklug von Ihnen, wollten Sie mich in gleicher Weise zum Schweigen bringen wie Mr. Roger Ackroyd. Derartiges verfängt bei Hercule Poirot nicht. Verstehen Sie?»

«Mein lieber Poirot», sagte ich ein wenig lächelnd, «was immer ich auch sonst sein mag, ein Narr bin ich nicht.»

Ich erhob mich.

«Jetzt muss ich aber» – ich unterdrückte ein Gähnen – «nachhause. Ich danke Ihnen für den ebenso interessanten wie lehrreichen Abend.»

Auch Poirot stand auf und verneigte sich mit gewohnter Höflichkeit, als ich das Zimmer verließ.