20

 

Inspektor Raglan war sehr verstimmt. 

«Das ändert alles, wirklich alles. Ich weiß nicht, ob Ihnen das klar ist, Monsieur Poirot?»

«Ich denke schon», antwortete Poirot. «Ich vermutete es schon seit einiger Zeit.»

«Und jetzt die Alibis», fuhr Raglan fort. «Alle wertlos! Vollkommen wertlos! Müssen von neuem beginnen, müssen herausfinden, was jeder ab halb zehn Uhr tat. Halb zehn – an diesen Zeitpunkt müssen wir uns halten. Sie hatten bezüglich jenes Kent vollkommen recht – wir werden ihn vorläufig nicht frei lassen. Einen Augenblick mal – um 9.40 Uhr war er im ‹Dog & Whistler›. In einer Viertelstunde konnte er hingekommen sein, wenn er eilig lief. Es ist also nicht unmöglich, dass er es war, den Mr. Raymond mit Ackroyd sprechen und um Geld bitten hörte. Eines ist allerdings klar: Die telefonische Nachricht kann nicht von ihm gekommen sein. Der Bahnhof liegt eine Meile entfernt in der entgegengesetzten Richtung, und bis ungefähr zehn Minuten nach zehn war Kent in jener Schenke. Zum Kuckuck mit dem Telefonanruf! Immer kommen wir auf ihn zurück. Was kann es nur für eine Bewandtnis damit haben?»

«Sie haben recht», stimmte Poirot zu. «Eine merkwürdige Sache.»

Wir langten in diesem Augenblick vor meinem Hause an, und ich eilte zu meinen Patienten, die schon eine hübsche Weile warteten. Poirot und der Inspektor liefen weiter.

Nachdem der letzte Patient gegangen war, schlenderte ich in jenes kleine Zimmer hinten im Haus, das ich meine Werkstatt nenne – ich bin sehr stolz auf meine selbst gebauten Apparate. Caroline hasst den Raum, denn Annie darf sich mit Staubwedel und Besen dort nicht austoben.

Ich war eben dabei, das Innere eines Weckers in Stand zu setzen, als die Tür geöffnet wurde und Caroline den Kopf hereinsteckte.

«Oh, da bist du, James», knurrte sie. «Monsieur Poirot möchte dich sprechen.»

«Gut», sagte ich etwas nervös, da ihr plötzliches Erscheinen mich so erschreckt hatte, dass mir ein feines Rädchen des Triebwerkes aus der Hand fiel. «Er kann hierherkommen.»

Caroline rümpfte die Nase und zog sich zurück. Dann führte sie Poirot herein und schlug die Tür krachend hinter sich zu.

«Ja, mein Freund», sagte der kleine Mann und kam händereibend näher, «wie Sie sehen, werden Sie mich nicht so leicht los.»

«Alles erledigt?»

«Vorläufig ja. Und Sie, sind Sie mit Ihren Patienten fertig?»

«Ja.»

Poirot nahm Platz, sah mir zu und neigte den eiförmigen Kopf zur Seite, wie jemand, der einen köstlichen Scherz genießt.

«Sie irren», meinte er schließlich. «Sie werden noch einen Patienten vornehmen müssen.»

«Doch nicht etwa Sie?» rief ich erstaunt.

«Ach nein, nicht mich. Ich – ich erfreue mich ausgezeichneter Gesundheit. Nein, ich will Ihnen die Wahrheit gestehen, es ist ein kleines Komplott von mir. Ich möchte jemanden sprechen, verstehen Sie; gleichzeitig finde ich es aber nicht nötig, dass das ganze Dorf sich darüber den Kopf zerbricht, was unweigerlich geschehen würde, wenn man die Dame in mein Haus treten sähe – denn es ist eine Dame. Aber bei Ihnen war sie schon als Patientin. Ich sandte ihr ein paar Zeilen und bat sie um eine Zusammenkunft in Ihrem Haus. Sie sind mir doch nicht böse?»

«Im Gegenteil», erwiderte ich. «Das heißt, vorausgesetzt, dass ich der Unterredung beiwohnen darf.»

«Aber natürlich! In Ihrem eigenen Behandlungszimmer!»

«Weshalb sind Sie eigentlich so begierig, Miss Russell zu sprechen?»

Poirot zog die Brauen in die Höhe. «Das ist doch einleuchtend», meinte er.

«Da haben wir es wieder», brummte ich. «Ihnen leuchtet alles ein, aber mich lassen Sie im Dunkeln tappen.»

Poirot schüttelte freundlich den Kopf.

«Sie spotten über mich. Nehmen Sie zum Beispiel die Sache mit Miss Flora. Der Inspektor war überrascht, aber Sie – Sie waren es nicht.»

Ich dachte ein wenig nach.

«Vielleicht haben Sie recht», gab ich schließlich zu. «Ich fühlte, dass Flora etwas verheimlichte, daher traf mich die Wahrheit nicht völlig unerwartet. Aber den armen Raglan hat es schon sehr angegriffen.»

«Allerdings! Der arme Mann muss alle seine Ansichten umstellen. Ich habe seinen Gemütszustand übrigens ausgenutzt und ihn veranlasst, mir einen kleinen Gefallen zu erweisen.»

«Und?»

Poirot zog ein Blatt Papier aus der Tasche. Es standen einige Worte darauf, die er laut vorlas.

«‹Seit einigen Tagen fahndet die Polizei nach Captain Ralph Paton, dem Stiefsohn von Mr. Ackroyd auf Fernly Park, der Freitag unter so tragischen Umständen ums Leben kam. Captain Paton wurde in Liverpool verhaftet, als er sich gerade nach Amerika einschiffen wollte.› Dies, mein Freund, wird morgen in den Zeitungen stehen.»

Ich starrte ihn verblüfft an.

«Aber – aber das ist doch nicht wahr! Er ist doch nicht in Liverpool.»

Poirot lachte mich an.

«Sie haben eine rasche Auffassungsgabe! Nein, er wurde nicht in Liverpool gefunden. Inspektor Raglan war auch sehr abgeneigt, diese Notiz der Presse zu übergeben. Da ich ihm aber versicherte, dass die Veröffentlichung sehr interessante Ergebnisse zeitigen würde, gab er schließlich nach.»

«Ich zerbreche mir den Kopf darüber», sagte ich endlich, «was Sie davon erwarten.»

«Sie sollten Ihre kleinen grauen Zellen gebrauchen», versetzte Poirot ernst.

Er erhob sich und trat an meine Werkbank heran.

«Die Technik scheint wirklich Ihre große Leidenschaft zu sein», sagte er, nachdem er meine Basteleien besichtigt hatte.

Jeder hat sein Hobby. Ich lenkte Poirots Aufmerksamkeit auf mein selbst gebautes Funkgerät und zeigte ihm noch einige meiner kleinen Erfindungen – unbedeutende Dinge, die sich jedoch im Hause sehr bewähren.

«Mir scheint», sagte Poirot, «Sie hätten Erfinder werden sollen. Aber ich höre die Glocke – das ist gewiss Ihre Patientin.»

Er hatte recht.

«Guten Morgen, Mademoiselle», begrüßte Poirot sie. «Wollen Sie nicht Platz nehmen? Doktor Sheppard ist so gütig, mir sein Zimmer zu einer kleinen Unterredung mit Ihnen zur Verfügung zu stellen.»

Miss Russell setzte sich. Falls sie innerlich erregt war, offenbarte sich dies in keiner Weise.

«Sie wünschen?», begann sie. «Ihre Aufforderung, hierherzukommen, hat mich – etwas überrascht.»

«Miss Russell, ich habe eine Nachricht für Sie.»

«Wirklich?»

«Charles Kent ist in Liverpool verhaftet worden.»

In ihrem Gesicht zuckte kein Muskel. Sie öffnete kaum merklich die Augen etwas weiter und fragte zurückhaltend: «Was – interessiert mich das?!»

In diesem Augenblick fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Die Ähnlichkeit, die mich so lange verfolgt hatte – das Vertraute in dem selbstbewussten Wesen von Charles Kent! Die beiden Stimmen, die eine rau und roh, die andere sorgsam beherrscht – sie hatten die gleiche Klangfarbe. Es war Miss Russell, an die ich in jener Nacht vor dem Gartentor von Fernly Park erinnert worden war.

Ich blickte Poirot an, und er nickte mir unmerklich zu.

«Ich dachte, es würde Sie interessieren, sonst nichts.»

«Wer ist übrigens Charles Kent?», fragte Miss Russell.

«Der Mann, Mademoiselle, der in der Mordnacht in Fernly war.»

«Wirklich?»

«Glücklicherweise hat er ein Alibi. Um drei viertel zehn war er in einer Schenke, eine Meile von hier.»

«Gut für ihn», bemerkte sie.

«Wir wissen jedoch immer noch nicht, was er in Fernly wollte – zum Beispiel, wen er dort besuchte.»

«Leider kann ich Ihnen da nicht behilflich sein», entgegnete die Haushälterin höflich. «Ich weiß nichts davon. Wenn das alles ist …»

Sie versuchte aufzustehen, doch Poirot hielt sie zurück.

«Das ist noch nicht alles», fuhr er ruhig fort. «Heute früh bekam die Sache eine neue Wendung. Es hat jetzt den Anschein, als wäre Mr. Ackroyd nicht um drei viertel zehn Uhr ermordet worden, sondern früher. Zwischen zehn Minuten vor neun, als Doktor Sheppard wegging, und drei viertel zehn.»

Ich sah, wie die Farbe aus ihrem Gesicht wich, wie sie totenblass wurde. Sie neigte sich vor, ihre Gestalt schwankte.

«Aber Miss Ackroyd sagte – Miss Ackroyd sagte …»

«Miss Ackroyd hat bereits zugegeben, dass sie log. Sie hat das Arbeitszimmer den ganzen Abend nicht betreten.»

«Und …»

«Somit hätten wir in jenem Charles Kent den Mann gefunden, den wir suchen. Er kam nach Fernly, kann nicht Rechenschaft darüber ablegen, was er dort getan hat …»

«Ich kann Ihnen sagen, was er dort getan hat. Er hat Mr. Ackroyd kein Haar gekrümmt und ist überhaupt nie in die Nähe des Arbeitszimmers gekommen. Er hat es nicht getan, das sage ich Ihnen.»

Sie neigte sich vor. Ihre eiserne Selbstbeherrschung war endlich gebrochen. Schrecken und Verzweiflung spiegelten sich in ihrem Gesicht.

«Monsieur Poirot! Monsieur Poirot! Bitte, glauben Sie mir!»

Poirot stand auf und ging auf sie zu. Er klopfte ihr beruhigend auf die Schulter.

«Aber ja, gewiss will ich Ihnen glauben. Ich musste Sie nur zum Sprechen bringen.»

Einen Augenblick lang regte sich ihr Misstrauen.

«Ist das auch wahr, was Sie sagen?»

«Dass jener Charles Kent des Verbrechens bezichtigt wird? Ja, das ist wahr. Sie allein können ihn retten, wenn Sie den Grund für seine Anwesenheit in Fernly angeben.»

«Er kam, um mich zu sehen.» Sie sprach mit leiser, eiliger Stimme.

«Ich ging ihm entgegen …»

«In das Gartenhaus, ja, das weiß ich.»

«Woher wissen Sie das?»

«Mademoiselle, es ist der Beruf von Hercule Poirot, alles zu wissen. Ich weiß, dass Sie an jenem Abend schon früher ausgegangen waren und dass Sie im Gartenhaus eine Botschaft zurückließen, die besagte, um welche Zeit Sie hinkommen wollten.»

«Ja, das tat ich. Er hatte mir Nachricht gegeben, dass er kommen werde. Ich wagte nicht, ihn in das Haus zu lassen. Ich schrieb an die von ihm bezeichnete Adresse, dass ich ihn im Gartenhaus treffen wollte, und beschrieb es ihm genau. Dann fürchtete ich, dass er vielleicht nicht warten werde, und lief hinaus, um dort Nachricht zu hinterlassen, dass ich erst zehn Minuten nach neun kommen könne. Ich wollte vermeiden, dass die Dienerschaft mich sah, deshalb schlüpfte ich durch die Balkontür des Salons. Als ich zurückkam, begegnete mir Doktor Sheppard. Mein Atem ging schnell, so hastig war ich gelaufen. Ich hatte keine Ahnung, dass er an jenem Abend zum Dinner erwartet wurde.»

«Fahren Sie fort», sagte Poirot. «Sie gingen also zehn Minuten nach neun hinaus, um ihn zu treffen. Was sprachen Sie miteinander?»

«Das ist nicht so leicht zu …»

«Mademoiselle», unterbrach sie Poirot, «in dieser Angelegenheit muss mir die volle Wahrheit gesagt werden. Was Sie uns erzählen, braucht nie über diese vier Wände hinauszugelangen. Doktor Sheppard wird verschwiegen sein, und ich bin es auch. Sehen Sie, ich will Ihnen doch helfen. Jener Charles Kent ist Ihr Sohn, nicht wahr?»

Sie nickte. Tiefe Röte war ihr in die Wangen geschossen.

«Niemand wusste es bisher. Es war vor langer, langer Zeit – unten in Kent. Ich war nicht verheiratet …»

«Darum gaben Sie ihm den Namen der Grafschaft als Familiennamen. Ich verstehe.»

«Ich habe gearbeitet. Ich brachte es fertig, für seinen Unterhalt zu sorgen. Ich habe ihm nie gesagt, dass ich seine Mutter bin. Aber er geriet auf die schiefe Bahn, trank und nahm Rauschgift. Ich ermöglichte ihm die Überfahrt nach Kanada. Fast zwei Jahre lang hörte ich nichts von ihm. Dann fand er irgendwie heraus, dass ich seine Mutter bin. Er schrieb und verlangte Geld. Schließlich gab er Nachricht, er sei wieder im Lande. Er wolle mich in Fernly besuchen, schrieb er. Ich durfte ihn nicht ins Haus lassen. Ich hatte einen so guten Ruf. Wenn irgendjemand etwas davon erfahren hätte, wäre es um meine Stellung geschehen gewesen. Also schrieb ich ihm in der eben erwähnten Weise.»

«Und am Morgen fragten Sie Doktor Sheppard um Rat?»

«Ja, ich wollte erfahren, ob es nicht eine Hilfe gebe. Er war kein schlechter Junge – bevor er sich an das Gift gewöhnte.»

«Ich verstehe», sagte Poirot. «Fahren Sie fort. Kam er dann am Abend in das Gartenhaus?»

«Ja, er wartete bereits auf mich. Er war sehr grob und anmaßend. Ich hatte mein ganzes Geld mitgebracht und gab es ihm. Wir sprachen nur wenig, und dann ging er fort.»

«Um welche Zeit war das?»

«Es dürfte zwischen 20 und 25 Minuten nach neun gewesen sein. Es war noch nicht halb zehn, als ich wieder das Haus erreichte.»

«Welchen Weg ging er?»

«Genau den gleichen, den er gekommen war – den Pfad, der neben der Pförtnerwohnung in die Auffahrt mündet.»

«Und Sie, was haben Sie dann getan?»

«Ich ging in das Haus zurück. Major Blunt spazierte rauchend auf der Terrasse auf und ab, deshalb machte ich einen Umweg und ging herum an den Seiteneingang. Es war genau halb zehn.»

Poirot nickte wieder. Er notierte einiges in einem kleinen Büchlein.

«Ich denke, das wäre alles.»

«Muss ich …» Sie zögerte. «Muss ich das alles Inspektor Raglan erzählen?»

«Vielleicht wird es nötig sein. Vorläufig aber wollen wir nichts übereilen. Gehen wir langsam, ordnungsgemäß und methodisch vor. Charles Kent ist formell noch nicht wegen Mordes angeklagt. Es können noch Umstände eintreten, die Ihre Erzählung überflüssig machen.»

Miss Russell erhob sich.

«Ich danke Ihnen vielmals, Monsieur Poirot», sagte sie. «Sie waren sehr gütig – wirklich sehr gütig zu mir. Sie … Sie glauben mir doch, nicht wahr? Dass Charles nichts mit diesem furchtbaren Mord zu tun hat?»

«Es steht unzweifelhaft fest, dass der Mann, der um halb zehn mit Mr. Ackroyd in der Bibliothek sprach, unmöglich Ihr Sohn gewesen sein kann. Seien Sie guten Mutes, alles wird noch gut werden.»

«Das ist es also?», forschte ich. «Immer wieder kommen wir auf Ralph Paton zurück. Wie fanden Sie heraus, dass Charles Kent gerade Miss Russell treffen wollte? War Ihnen die Ähnlichkeit aufgefallen?»

«Schon lange hatte ich sie mit dem Unbekannten in Verbindung gebracht, ehe ich ihn persönlich sah. Gleich nachdem wir den Federkiel gefunden hatten, der auf einen Kokainsüchtigen schließen ließ, entsann ich mich Ihres Berichtes über Miss Russells Besuch bei Ihnen. Dann fand ich im Morgenblatt den Artikel über Kokain. Jetzt schien mir alles sehr klar. Sie hatte am Vormittag von jemandem gehört, der gewohnheitsmäßig Betäubungsmittel nahm, sie las den Artikel in der Zeitung und kam zu Ihnen, um einige tastende Fragen zu stellen. Sie erwähnte Kokain, weil der Artikel gerade von diesem Rauschgift handelte. Dann, als Sie sich zu interessiert zeigten, wich sie eiligst von dem Thema ab. Ich vermutete gleich einen Sohn oder Bruder oder sonst irgendeinen unerwünschten männlichen Verwandten. Doch nun muss ich gehen. Es ist Essenszeit.»

«Nehmen Sie den Lunch mit uns», schlug ich vor.

Poirot schüttelte den Kopf und zwinkerte mit den Augen.

«Nein, heute nicht. Ich möchte Miss Caroline nicht zwei Tage hintereinander zu vegetarischer Diätkost zwingen.»

Es gab wirklich nicht viel, das Hercule Poirot entging.