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Wenige Minuten vor halb acht läutete ich an der Eingangstür von Fernly Park. Parker, der Butler, öffnete mir erstaunlich schnell.
Es war ein so wunderschöner Abend, dass ich es vorgezogen hatte, zu Fuß hinzugehen. Ich betrat die große, viereckige Halle, und Parker half mir aus dem Mantel.
Gerade in diesem Augenblick durchquerte Mr. Ackroyds Sekretär, ein sympathischer junger Mann namens Raymond, die Halle. Er hatte die Hände voller Post, die er in Ackroyds Arbeitszimmer trug.
«Guten Abend, Sir. Kommen Sie zu Tisch? Oder ist es ein ärztlicher Besuch?»
Das letztere war eine Anspielung auf meine schwarze Tasche, die ich auf die Eichentruhe gelegt hatte.
Ich erklärte, dass ich jeden Augenblick einen Ruf zu einer Geburt erwarte und daher für alle Fälle gerüstet sein müsse.
Raymond nickte und ging seines Weges, rief aber zurück: «Gehen Sie nur in den Salon. Sie kennen den Weg. Die Damen müssen jeden Augenblick herunterkommen. Ich bringe die Papiere zu Mr. Ackroyd und verständige ihn gleichzeitig von Ihrer Anwesenheit.»
Ich schob meine Krawatte zurecht, warf einen Blick in den großen Spiegel, der dort hing, und ging auf die mir gegenüberliegende Tür zu, die, wie ich wusste, in den Salon führte.
Als ich eben die Klinke niederdrücken wollte, hörte ich von drinnen ein Geräusch, das ich für das Schließen eines Fensters hielt. Ich öffnete die Tür und wäre beinahe mit Miss Russell zusammengestoßen, die soeben aus dem Zimmer herauskam. Wir entschuldigten uns gegenseitig.
Zum ersten Mal betrachtete ich sie genauer, und es fiel mir auf, wie schön die Haushälterin einst gewesen sein musste – oder eigentlich noch immer war. Keine Silberfäden durchzogen ihr dunkles Haar, und wenn sie Farbe hatte, wie eben jetzt, verwischte sich der sonst so strenge Ausdruck ihres Gesichtes.
Ich fragte mich, ob sie wohl aus gewesen sein mochte, denn sie atmete schwer, als ob sie gelaufen wäre.
«Ich fürchte, ich komme ein wenig zu früh», sagte ich.
«Oh, ich glaube nicht. Es ist halb acht vorüber, Doktor Sheppard.» Sie zögerte einen Augenblick, ehe sie fortfuhr: «Ich wusste nicht, dass Sie zu Tisch erwartet werden. Mr. Ackroyd erwähnte es nicht.»
Ich hatte das unklare Gefühl, dass ihr meine Anwesenheit bei Tisch nicht genehm sei, doch konnte ich mir nicht vorstellen, weshalb.
«Was macht das Knie?», erkundigte ich mich.
«Danke, unverändert, lieber Doktor. Aber ich muss gehen. Mrs. Ackroyd wird gleich hier sein. Ich habe nur eben nachgesehen, ob die Blumen in Ordnung sind.»
Hastig verließ sie das Zimmer.
Ich schlenderte ans Fenster und dachte nach, warum sie wohl in so auffallender Weise bemüht war, ihre Anwesenheit im Zimmer zu rechtfertigen. Bei dieser Gelegenheit sah ich – was ich ohnedies schon wusste, vorhin aber nicht bedacht hatte –, dass die Fenster in Wirklichkeit hohe Flügeltüren waren, die sich auf die Terrasse öffneten. Das Geräusch, das zu mir gedrungen war, konnte daher nicht von dem Herablassen eines Schiebefensters herrühren.
Mehr um mich von peinlichen Gedanken abzulenken als aus anderen Gründen, mühte ich mich zu erraten, was wohl jenes Geräusch verursacht haben konnte.
Dann fielen meine Augen auf ein Möbelstück, das man, wie ich glaube, eine Vitrine nennt. Ihr Deckel kann angehoben werden, und durch das Glas sieht man den Inhalt des Schrankes. Ich trat hinzu und betrachtete dessen Inhalt. Da gab es einige antike Silbergegenstände, einen Kinderschuh von König Karl L, etliche chinesische Figuren aus Jade und eine Menge afrikanischer Geräte und Raritäten. Ich hob den Deckel, um eine Jadefigur näher zu betrachten. Da entglitt er meinen Fingern und fiel zurück.
Sofort erkannte ich, dass ich dieses Geräusch schon vernommen hatte; als hätte jemand diesen Deckel langsam und vorsichtig geschlossen. Um mich zu überzeugen, wiederholte ich die Bewegung.
Ich stand noch über die Vitrine gebeugt, als Flora Ackroyd eintrat. Viele mögen sie nicht, doch niemand kann ihr seine Bewunderung versagen. Zu ihren Freunden kann sie reizend sein. Ihr echt skandinavisches Haar leuchtet wie fahles Gold. Ihre Augen sind blau – blau wie die Wasser der norwegischen Fjorde, und ihre Haut schimmert wie Milch und Schnee. Ihre Schultern wirken etwas knabenhaft, ebenso die schmächtigen Hüften.
Flora trat zu mir an die Vitrine und äußerte ketzerische Zweifel über den Kinderschuh, den Karl I. getragen haben sollte.
«Unter allen Umständen», fuhr Miss Flora fort, «halte ich das Aufheben, das man von Dingen macht, nur weil irgend jemand sie trug oder benützte, für lächerlichen Unsinn. Die Feder, mit der George Eliot schrieb, ist nur eine Feder wie alle anderen Federn. Wenn jemand wirklich so für George Eliot schwärmt, warum kauft er nicht lieber das Buch, das sie schrieb?»
«Ich vermute, Sie lesen nie so unmoderne Sachen, Miss Flora?»
«Sie irren, Doktor Sheppard. Ich liebe George Eliots Werke.»
Das freute mich. Es ist wirklich erschreckend, was junge Mädchen heutzutage lesen und was ihnen eingestandenermaßen gefällt.
«Sie haben mir noch nicht gratuliert, Doktor Sheppard», sagte Flora. «Wissen Sie noch nichts?»
Sie streckte mir die Hand entgegen, an deren drittem Finger eine wundervoll gefasste Perle schimmerte.
«Ich heirate Ralph», fuhr sie fort. «Der Onkel freut sich sehr darüber. Dadurch bleibe ich in der Familie.»
Ich ergriff ihre beiden Hände.
«Mein liebes Kind», sagte ich, «ich wünsche Ihnen alles Glück.»
«Wir sind seit einem Monat verlobt», fuhr Flora in ihrer kühlen Art fort, «doch erst gestern wurde es öffentlich bekannt gegeben. Onkel Robert will uns Great Stones als Wohnsitz überlassen, wo wir dann Landwirtschaft treiben könnten. Aber wir werden den ganzen Winter hindurch jagen, die Saison in London verbringen und dann auf unserer Jacht segeln. Ich liebe das Meer. Natürlich werde ich auch den Veranstaltungen unseres Pfarrkreises Interesse entgegenbringen und den Sitzungen des Mütterbundes beiwohnen.»
Hier rauschte Mrs. Ackroyd herein und entschuldigte sich langatmig, dass sie sich verspätet habe.
So leid es mir tut, ich muss sagen, dass ich Mrs. Ackroyd nicht mag. Sie besteht nur aus Knochen, Zähnen und Ketten. Eine äußerst unangenehme Frau. Sie hat kleine, steingraue Augen, und tönen ihre Worte noch so überschwänglich, ihre Augen blicken stets berechnend.
Ich ging ihr entgegen, während Flora am Fenster stehen blieb, und drückte ihre ringgeschmückte Hand. Dann begann sie hastig zu plaudern. Ob ich schon von Floras Verlobung wisse? Wie passend in jeder Hinsicht! Die reizenden jungen Leute hatten sich auf den ersten Blick ineinander verliebt. So ein vollkommenes Paar, er so dunkel und sie so blond!
«Ich kann Ihnen gar nicht sagen, lieber Doktor Sheppard, welche Freude dies für ein Mutterherz ist.»
Mrs. Ackroyd seufzte – ein Tribut, den sie dem Mutterherzen zollte –, während ihre Augen mich scharf beobachteten.
«Roger und Sie sind doch alte Freunde. Wir wissen, wie viel er auf Ihr Urteil gibt. In meiner Lage – als Witwe – habe ich es so schwer. Da sind so viele unangenehme Dinge zu erledigen – Ausstattung und alles andere. Ich bin überzeugt, dass Roger die Absicht hat, Flora etwas auszusetzen, doch wie Ihnen bekannt sein dürfte, ist er in Geldangelegenheiten etwas eigen. Könnten Sie ihn in diesem Punkt nicht ein wenig ausforschen? Flora hat Sie so gern. Wir schätzen Sie wie unseren ältesten Freund, obwohl wir Sie erst seit zwei Jahren kennen.»
Mrs. Ackroyds Redefluss wurde durch das Öffnen der Zimmertür kurzerhand abgeschnitten. Ich freute mich über diese Unterbrechung, denn ich hasse es, in anderer Leute Angelegenheiten hineingezogen zu werden.
«Sie kennen doch Major Blunt, nicht wahr, lieber Doktor?»
«Ja, gewiss.»
Viele Leute kennen Hektor Blunt, zumindest dem Namen nach. Er hat in den unwahrscheinlichsten Gegenden mehr wilde Tiere erlegt als sonst irgendein Sterblicher, glaube ich. Wenn man ihn erwähnt, sagen die Leute: «Blunt – Sie meinen doch nicht den berühmten Reisenden und Großwildjäger?»
Er und Ackroyd waren völlig verschieden. Hektor Blunt dürfte ungefähr fünf Jahre jünger sein als Ackroyd. In früher Jugend schlossen sie Freundschaft, und obwohl ihre Wege auseinandergingen, hält diese Freundschaft immer noch … Alle zwei Jahre einmal verbringt Blunt vierzehn Tage in Fernly, und dann erinnert immer ein neuer Tierkopf mit schrecklichen Hörnern und gläsernen Augen in der Halle an seinen Besuch.
Blunt betrat den Raum mit dem ihm eigenen bedächtigen, trotzdem aber federnden Schritt. Er ist mittelgroß und von kräftigem, etwas stämmigem Körperbau. Sein fast mahagonibraunes Gesicht ist merkwürdig ausdruckslos. Seine grauen Augen erwecken den Eindruck, als beobachteten sie stets etwas, was sich in weiter Ferne zuträgt. Er spricht wenig, und was er sagt, kommt ruckweise, als müsste er sich die Worte gewaltsam abringen.
Er begrüßte mich in seiner gewöhnlichen abgehackten Sprechweise: «Guten Abend, Sheppard», und ging auf den Kamin zu.
Da fragte ihn Flora unvermittelt: «Major Blunt, wollen Sie mir nicht die afrikanischen Dinge hier erklären? Ich bin überzeugt, Sie wissen genau, was sie bedeuten.»
Ich habe Hektor Blunt einen Frauenhasser nennen hören, doch merkte ich, dass er mit äußerster Bereitwilligkeit – anders kann man es nicht nennen – zu Flora an die Vitrine trat. Sie neigten sich gemeinsam darüber.
Jetzt erschienen Ackroyd und sein Sekretär, und sofort bat Parker zu Tisch.
Ich saß zwischen Mrs. Ackroyd und Flora, Blunt an Mrs. Ackroyds anderer Seite und neben ihm Geoffrey Raymond.
Die Mahlzeit verlief nicht sehr angeregt. Ackroyd war sichtlich zerstreut. Er sah erbärmlich aus und aß fast nichts. Mrs. Ackroyd, Raymond und ich hielten das Gespräch aufrecht. Flora schien unter der Missstimmung ihres Onkels zu leiden, und Blunt war wieder in seine gewohnte Schweigsamkeit verfallen.
Gleich nach dem Essen schob Ackroyd seinen Arm unter den meinen und entführte mich in sein Arbeitszimmer.
«Nach dem Kaffee werden wir nicht weiter gestört werden», erklärte er. «Ich habe Raymond gebeten, dafür Sorge zu tragen.»
Ich beobachtete ihn unauffällig, aber sehr genau. Es war klar, dass er unter dem Eindruck einer großen Erregung stand. Ein Weilchen schritt er im Zimmer auf und ab, setzte sich aber, als Parker mit dem Kaffee kam, in den Lehnstuhl vor dem Kamin.
Das Arbeitszimmer war ein behaglicher Raum. Bücherregale bedeckten eine ganze Wand. Die bequemen Stühle waren mit dunkelblauem Leder bezogen. Unweit des Fensters stand ein großer Schreibtisch, den geschichtete und gesichtete Papier bedeckten. Auf einem runden Tischchen lagen Zeitschriften und Sportblätter.
«Ich hatte kürzlich nach dem Essen wieder einen Anfall jener Schmerzen», bemerkte Ackroyd gleichgültig, während er sich mit Kaffee bediente. «Bringen Sie mir doch wieder von Ihren Tabletten.»
«Dacht ich mir’s doch. Ich habe gleich welche mitgebracht.»
«Sehr freundlich. Bitte geben Sie sie mir.»
«Sie sind in meiner Tasche in der Halle. Ich will sie holen.»
Ackroyd hielt mich zurück.
«Bemühen Sie sich nicht. Parker wird sie bringen. Parker, wollen Sie die Tasche des Herrn Doktor hereinholen?»
«Jawohl, Sir.»
Parker verschwand. Als ich sprechen wollte, winkte Ackroyd mit der Hand ab.
«Noch nicht. Warten Sie etwas. Ich bin in einer Verfassung, dass ich mich kaum beherrschen kann.»
Das sah ich deutlich genug. Und mir war sehr unbehaglich zu Mute. Allerhand Ahnungen bestürmten mich.
«Bitte, überzeugen Sie sich, ob das Fenster geschlossen ist», bat er.
Ich stand auf und kam seinem Wunsch nach.
Es war keine Balkontür, sondern ein gewöhnliches Schiebefenster. Schwere blaue Vorhänge waren vorgezogen, doch das Fenster selbst stand offen.
Während ich noch dort stand, kam Parker mit meiner Tasche zurück.
«Es ist geschlossen», sagte ich und trat wieder ins Zimmer zurück.
«Haben Sie den Riegel vorgeschoben?»
«Ja, ja. Was ist mit Ihnen los, Ackroyd?»
Soeben schloss sich die Tür hinter Parker, sonst hätte ich die Frage nicht gestellt. Geraume Zeit verstrich, ehe Ackroyd sich zu einer Antwort entschloss.
«Ich leide Höllenqualen», sagte er leise. «Nein, bemühen Sie sich nicht wegen der verdammten Tabletten. Das galt Parker. Dienstboten sind oft so neugierig. Setzen Sie sich zu mir. Die Tür ist doch zu?»
«Ja. Niemand kann uns belauschen. Seien Sie unbesorgt!»
«Sheppard, niemand weiß, was ich seit vierundzwanzig Stunden leide. Wenn jemals eines Mannes Haus über seinem Kopf zusammenbrach, so war es das meine. Die Sache mit Ralph ist das wenigste. Darüber wollen wir jetzt nicht sprechen. Doch das andere – das andere –! Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll. Und ich muss möglichst bald zu einem Entschluss gelangen.»
«Was ist denn los?»
Ackroyd schwieg minutenlang, als ob das Reden ihn Überwindung kostete. Als er endlich begann, traf mich seine Frage völlig unvorbereitet. Nichts hätte mich mehr überraschen können.
«Sheppard, nicht wahr, Sie haben Ashley Ferrars während seiner letzten Krankheit behandelt?»
«Ja.»
Die nächste Frage schien ihm noch mehr Schwierigkeiten zu bereiten.
«Hatten Sie nie den Verdacht, dass – nun, dass er vielleicht vergiftet worden sei?»
Ich schwieg einige Minuten, um mir eine Antwort zurechtzulegen. Roger Ackroyd war nicht Caroline.
«Ich will Ihnen die Wahrheit sagen», gab ich zurück. «Damals schöpfte ich noch keinerlei Verdacht, doch dann – nun, dann brachte mich zuerst nur das müßige Geschwätz meiner Schwester auf den Gedanken. Seither werde ich ihn nicht los. Doch glauben Sie mir, ich kann den Verdacht in keiner Weise begründen.»
«Er ist vergiftet worden», sagte Ackroyd.
Er sprach mit dumpfer, schwerer Stimme.
«Von wem?», fragte ich hastig.
«Von seiner Frau.»
«Woher wissen Sie das?»
«Sie hat es mir gesagt.»
«Wann?»
«Gestern. Mein Gott. Zehn Jahre scheinen dazwischen zu liegen.»
Er hielt einen Augenblick inne, dann fuhr er fort: «Verstehen Sie mich, Sheppard? Ich erzähle Ihnen das streng vertraulich. Es soll nicht weiterverbreitet werden. Ich brauche Ihren Rat, ich kann die schwere Verantwortung nicht allein tragen. Ich weiß wirklich nicht, was ich tun soll.»
«Ich sehe noch nicht klar. Was veranlasste Mrs. Ferrars, dieses Geständnis abzulegen?»
«Vor drei Monaten bat ich Mrs. Ferrars, meine Frau zu werden. Sie lehnte ab. Ich bat wieder, und sie willigte ein. Doch sie lehnte ab, die Verlobung zu veröffentlichen, ehe das Trauerjahr abgelaufen sei. Gestern sprach ich mit ihr und wies darauf hin, dass ein Jahr und drei Wochen seit dem Ableben ihres Mannes verstrichen seien und dass der Veröffentlichung unseres Verlöbnisses daher nichts mehr im Wege stehe. Es war mir aufgefallen, dass sie seit einigen Tagen ein ganz sonderbares Verhalten zur Schau trug. Und jetzt, ganz plötzlich, brach sie völlig zusammen. Sie – sie sagte mir alles. Wie sie dieses Scheusal von einem Gatten gehasst, wie ihre Liebe zu mir entstanden und gewachsen sei, wie sie endlich zu dem schrecklichen Mittel Zuflucht genommen habe. Gift! Mein Gott – kaltblütiger Mord!»
Ich sah den Abscheu, sah das Entsetzen in Ackroyds Gesicht. So hatte er wohl auch Mrs. Ferrars angeblickt. Er ist vor allem ein braver Bürger. Alles Normale, Gesunde und Gesetzmäßige in ihm muss sich wohl in jenem Augenblick von ihr abgewendet haben.
«Ja», fuhr er mit leiser, eintöniger Stimme fort, «sie gestand alles. Allem Anschein nach gibt es einen Menschen, der seit langem alles wusste – und der ungeheure Summen von ihr erpresste. Dieser Druck trieb sie beinahe in den Wahnsinn.»
«Wer ist dieser Mann?»
Da tauchten vor meinem geistigen Auge Ralph Paton und Mrs. Ferrars auf, wie sie Seite an Seite mit einander zugeneigten Köpfen auf und ab gegangen waren. Plötzliche Angst befiel mich. Angenommen, dass … Nein, sicher war das ausgeschlossen. Ich erinnerte mich an Ralphs freimütige Begrüßung an jenem Nachmittag. Lächerlich!
«Sie wollte seinen Namen nicht preisgeben», sagte Ackroyd langsam, «sie gab nicht einmal zu, dass es ein Mann sei. Doch selbstverständlich …»
«Selbstverständlich», stimmte ich bei, «wird es ein Mann gewesen sein. Haben Sie jemand in Verdacht?»
Statt einer Antwort stöhnte Ackroyd und barg seinen Kopf zwischen den Händen.
«Es kann nicht sein», sagte er dann. «Es macht mich wahnsinnig, auch nur daran zu denken. Ich möchte den Verdacht nicht aussprechen, der mir durch den Kopf schoss. Ich will Ihnen nur so viel sagen: Ich konnte ihren Reden entnehmen, dass die in Frage kommende Person möglicherweise mit meiner Haushaltung zusammenhängt – doch das ist ausgeschlossen. Ich muss sie falsch verstanden haben!»
«Was sagten Sie ihr?»
«Was konnte ich sagen? Sie merkte natürlich, wie furchtbar ihr Geständnis mich getroffen hatte. Und dann stellte sich für mich die Frage, wie ich mich pflichtgemäß zu verhalten hätte. Sehen Sie, sie machte mich nachträglich zu ihrem Mitschuldigen. Glauben Sie mir, ich war wie betäubt. Sie erbat sich vierundzwanzig Stunden Bedenkzeit – und nahm mir das Versprechen ab, bis dahin nichts zu unternehmen. Und sie weigerte sich standhaft, den Namen des Schurken zu nennen, der sie erpresst hatte. Ich vermute, sie hatte Angst, ich würde hingehen und ihn niederschlagen. Und dann wäre erst recht der Teufel los gewesen. Sie sagte, ich würde von ihr hören, ehe vierundzwanzig Stunden um seien. Mein Gott, ich schwöre Ihnen, Sheppard, dass mir niemals einfiel, was sie zu tun beabsichtigte: Selbstmord! Und ich habe sie dazu gebracht!»
«Nein, nein», sagte ich, «nur keine Übertreibung! Die Verantwortung für ihren Tod trifft bestimmt nicht Sie.»
«Was soll ich tun? Die arme Frau ist tot. Warum also, vergangenes Unheil aufrühren?»
«Da kann ich Ihnen nur beipflichten», meinte ich.
«Doch da ist noch ein anderer Punkt. Wie soll ich des Schurken habhaft werden, der sie ebenso sicher in den Tod trieb, wie wenn er sie ermordet hätte? Er kannte das erste Verbrechen und klammerte sich daran wie ein gieriger Geier. Sie hat ihre Schuld gebüßt. Soll er frei ausgehen?»
«Ich verstehe», sagte ich langsam. «Sie wollen ihn niederschießen? Das wird viel Aufsehen erregen. Haben Sie das bedacht?»
«Gewiss. Ich habe alles ganz genau erwogen.»
«Ich teile Ihre Ansicht über die Bestrafung des Schuftes, aber …»
Ackroyd erhob sich und ging hin und her. Dann ließ er sich wieder in den Lehnstuhl fallen.
«Hören Sie, Sheppard, lassen wir die Dinge vorläufig auf sich beruhen. Wenn keine Nachricht mehr von ihr kommt, wollen wir Totes ruhen lassen.»
«Wenn keine Nachricht mehr kommt? Was verstehen Sie darunter?» fragte ich neugierig.
«Ich habe das bestimmte Gefühl, dass sie irgendwie, irgendwo eine Botschaft für mich hinterließ – ehe sie starb. Ich kann es nicht beweisen, aber es ist sicher so.»
Ich schüttelte den Kopf. «Hinterließ sie keinen Brief, keine Nachricht?», fragte ich.
«Sheppard, ich bin überzeugt, dass sie es tat. Und mehr noch, ich fühle, dass sie mit Bedacht den Tod wählte, damit die ganze Sache an den Tag komme, wenn auch nur, um sich an jenem Menschen zu rächen, der sie zur Verzweiflung getrieben hat. Ich glaube, wäre ich damals bei ihr gewesen, sie hätte mir den Namen genannt …»
Er brach ab. Die Tür öffnete sich geräuschlos, und Parker trat ein, ein silbernes Tablett in der Hand.
«Die Abendpost, Sir», sagte er und überreichte Ackroyd das Tablett mit den Briefen. Dann nahm er die Kaffeetassen und verschwand.
Meine vorübergehend abgelenkte Aufmerksamkeit kehrte zu Ackroyd zurück. Er starrte wie versteinert einen blauen Briefumschlag an. Die übrigen Briefe waren zu Boden gefallen.
«Ihre Handschrift», flüsterte er. «Sie muss gestern Abend noch ausgegangen sein und den Brief aufgegeben haben, ehe sie …»
Er riss den Umschlag auf und entnahm ihm die umfangreiche Einlage. Dann sah er mit starrem Blick auf.
«Wissen Sie bestimmt, dass Sie das Fenster geschlossen haben?» fragte er.
«Ganz bestimmt», sagte ich überrascht.
«Ich werde den ganzen Abend das unbehagliche Gefühl nicht los, dass man mich beobachtet und belauscht.»
Er entfaltete die großen Briefbogen und las mit gepresster Stimme vor:
Mein lieber, innigst geliebter Roger. Ein Verbrechen muss gesühnt werden. Ich fühle es – ich las es heute Nachmittag in Deinen Augen. So gehe ich den einzigen Weg der mir zu gehen übrigbleibt. In Deine Hände lege ich die Bestrafung jenes Menschen, der mir das Leben im letzten Jahr zur Hölle machte. Ich wollte Dir nachmittags seinen Namen nicht nennen, doch bin ich entschlossen, ihn Dir jetzt zu sagen. Da ich weder Kinder noch nahe Verwandte habe, die geschont werden müssten, brauchst du die Öffentlichkeit nicht zu scheuen. Liebster Roger, verzeihe – wenn Du kannst – das Unrecht, das ich Dir zufügen wollte …
Im Begriff umzublättern, hielt Ackroyd inne.
«Verzeihen Sie, Sheppard, aber ich muss dies allein lesen», sagte er mit unsicherer Stimme. «Es ist für mich, nur für mich bestimmt.»
Er steckte den Brief in den Umschlag und legte ihn auf den Tisch.
«Nein», rief ich leidenschaftlich, «lesen Sie ihn jetzt.»
Ackroyd sah mich erstaunt an.
«Verzeihen Sie», sagte ich und fühlte, dass ich rot wurde. «Ich meine nicht, dass Sie vorlesen sollen. Aber lesen Sie, solange ich noch da bin.»
«Nein, ich möchte lieber warten.»
Aus mir selbst unbekannten Gründen drang ich weiter in ihn. «Lesen Sie wenigstens den Namen des Mannes», sagte ich.
Nun ist Ackroyd außerordentlich halsstarrig. Je mehr man ihn zu einer Sache überreden möchte, desto fester steht sein Entschluss, es nicht zu tun. Alle meine Bemühungen waren vergeblich.
Zwanzig Minuten vor neun hatte er den Brief erhalten. Zehn Minuten vor neun verließ ich ihn, ohne dass er den Brief gelesen hatte. Ich zögerte, die Klinke in der Hand, und blickte nochmals zurück, um mich zu überzeugen, ob ich nicht etwas vergessen hätte. Kopfschüttelnd ging ich hinaus und schloss die Tür hinter mir.
Ich fuhr zurück, als Parkers Gestalt dicht neben mir auftauchte. Er sah verlegen aus. Ob er an der Tür gelauscht hatte?
Welch selbstgefälliges Antlitz dieser Mensch hatte, und wie durchtrieben seine Augen blickten!
«Mr. Ackroyd wünscht ausdrücklich, nicht gestört zu werden», sagte ich kalt, «er bat mich, es Ihnen zu sagen.»
«Sehr wohl, Sir. Mir … war, als wäre geläutet worden.»
Das war eine so greifbare Lüge, dass ich es nicht der Mühe wert fand, darauf zu antworten. Parker schritt vor mir in die Halle, um mir in den Mantel zu helfen, und ich eilte in die Nacht hinaus. Der Mond war von Wolken bedeckt, und alles schien finster und still.
Die Uhr der Dorfkirche schlug neun, als ich durch die Gartenpforte schritt. Ich wandte mich nach links, dem Dorf zu, und wurde beinahe von einem Mann überrannt, der mir entgegenkam.
«Ist dies der Weg nach Fernly Park?», fragte der Fremde mit heiserer Stimme.
Ich blickte ihn an. Er trug den Hut tief in die Stirn gedrückt und hatte den Rockkragen hochgeschlagen. Ich konnte sein Gesicht nicht erkennen, doch schien er jung zu sein. Die Stimme klang rau und ungebildet.
«Hier ist das Gartentor.»
«Danke.» Er zögerte und fügte dann ganz überflüssigerweise hinzu: «Ich bin hier nämlich fremd.»
Er ging weiter, durchschritt das Gittertor, und ich blickte ihm nach.
Das Merkwürdige war, dass mich seine Stimme an jemand erinnerte, den ich kannte, doch fiel mir nicht ein, wer es sein mochte.
Zehn Minuten später war ich wieder zuhause. Caroline war äußerst begierig zu wissen, warum ich so früh zurück sei. Ich musste mir einen halb erdichteten Bericht über den Verlauf des Abends zurechtlegen, um sie zufrieden zu stellen, und ich hatte das unbehagliche Gefühl, dass sie meine durchsichtige Erfindung durchschaute.
Um zehn Uhr erhob ich mich, gähnte und schlug vor, zu Bett zu gehen. Caroline nickte.
Es war Freitagabend, und am Freitag ziehe ich immer alle Uhren auf. Ich hielt auch diesmal an dieser Gewohnheit fest, während Caroline sich überzeugte, ob die Küchentür ordentlich verschlossen war.
Um Viertel nach zehn stiegen wir die Treppe empor. Ich war eben oben angelangt, als unten in der Halle das Telefon läutete.
«Mrs. Bates», meinte Caroline sofort.
Ich lief die Treppe hinab und ergriff den Hörer.
«Wie?», rief ich. «Was! Natürlich, ich komme sofort.»
Dann sprang ich die Treppe hinauf, griff nach meiner Tasche und stopfte rasch das Notwendigste hinein.
«Parker telefonierte aus Fernly», rief ich Caroline erregt zu. «Sie haben Roger Ackroyd ermordet aufgefunden.»