18
Eine halbe Stunde später saßen Poirot, Inspektor Raglan und ich in dem Zug, der nach Liverpool fuhr. Der Inspektor war sichtlich aufgeregt.
«Dies wird vielleicht etwas Licht in die Erpressungsangelegenheit bringen», sagte er frohlockend. «Nach allem, was ich am Telefon hörte, soll der Kerl ein übler Bursche sein. Nimmt Betäubungsmittel. Es dürfte uns nicht schwerfallen, alles, was wir wissen wollen, von ihm zu erfahren. Wahrscheinlich ist er auch in den Mord verwickelt. Aber weshalb hält sich Paton dann verborgen? Das Ganze ist ein Wirrwarr – weiter nichts. Übrigens, Mr. Poirot, bezüglich der Fingerabdrücke hatten Sie vollkommen recht. Sie stammen von Ackroyd selbst. Ich hatte ursprünglich den gleichen Gedanken, wies ihn aber von mir, da er mir zu unwahrscheinlich vorkam.»
Ich lächelte vor mich hin. Es war so augenfällig, wie Inspektor Raglan sich mühte, den Schein zu wahren.
«Was diesen Mann betrifft», sagte Poirot, «so ist er doch nicht verhaftet?»
«Nein, nur unter Verdacht festgehalten.»
«Und wie verteidigt er sich?»
«Sehr schwach», grinste der Inspektor. «Er ist ein schlauer Vogel.»
Bei unserer Ankunft in Liverpool sah ich überrascht, mit welcher Begeisterung Poirot empfangen wurde. Chefinspektor Hayes, der uns abholte, hatte offenbar eine übertrieben hohe Meinung von seinen Fähigkeiten.
«Nun, da Poirot hier ist, wird es nicht mehr lange dauern», sagte er vergnügt. «Ich dachte, Sie hätten sich zurückgezogen, Monsieur?»
«Das ist auch richtig, mein lieber Hayes, ich hatte mich zurückgezogen. Doch wie langweilig ist so ein Ruhestand! Sie können sich nicht vorstellen, wie einförmig ein Tag nach dem anderen verstreicht!»
«Möglich! Und so kamen Sie hierher, um einen Blick auf unsere neueste Entdeckung zu tun? Ist das Doktor Sheppard? Ich hoffe, Sie werden ihn identifizieren können, Doktor?»
«Das kann ich nicht sagen», versetzte ich unsicher.
«Wie wurden Sie seiner habhaft?», fragte Poirot.
«Wie Sie wissen, war seine Beschreibung bekannt gemacht worden. Allerdings nicht sehr genau, gebe ich zu. Dieser Bursche hat richtig die amerikanische Aussprache und leugnet nicht, an jenem Abend in der Nähe von King’s Abbot gewesen zu sein. Erklärt nur immer, was zum Teufel das uns angehe und dass er uns alle in der Hölle schmoren sehen wolle, ehe er irgendeine Frage beantworte.»
«Würden Sie erlauben, dass auch ich ihn sehe?», fragte Poirot. Der Chefinspektor kniff ein Auge zu.
«Wir sind entzückt, Sie hierzuhaben. Sie dürfen alles machen, was Sie wollen. Inspektor Japp von Scotland Yard fragte erst kürzlich nach Ihnen. Sagte, Sie seien inoffiziell an dem Fall beteiligt. Wo verbirgt sich Captain Paton, können Sie mir das nicht sagen?»
«Ich bezweifle, dass das zum jetzigen Zeitpunkt klug wäre», parierte Poirot großartig, und ich biss mir auf die Lippen, um ein Lächeln zu verbergen.
Der kleine Mann verstand sein Handwerk wirklich gut.
Kurz darauf wurden wir zu dem Gefangenen geführt. Es war ein junger Mann, nicht älter als zwei-oder dreiundzwanzig, groß, schlank, mit leicht schlenkernden Armen und allen Zeichen großer Körperkraft, wenn auch schon etwas verbraucht. Sein Haar war dunkel, und er hatte blaue, verschmitzte Augen, die selten jemandem ehrlich ins Gesicht blickten.
«Also, Kent», begann der Chefinspektor. «Stehen Sie auf. Da sind einige Herren, die Sie besuchen wollen. Kennen Sie einen von ihnen?»
Kent sah uns mürrisch an, antwortete aber nicht. Ich sah, wie seine Blicke über uns hinweggingen und dann zu mir zurückkehrten.
«Nun, Doktor, was sagen Sie?», fragte mich der Chefinspektor.
«Die Größe stimmt», antwortete ich. «Und nach dem allgemeinen Eindruck könnte es der betreffende Mann sein. Mehr kann ich nicht sagen.»
«Was zum Teufel hat dies alles zu bedeuten?», fragte Kent. «Was haben Sie gegen mich? Heraus damit! Was soll ich verbrochen haben?»
Ich nickte mit dem Kopf.
«Er ist es», sagte ich. «Ich erkenne die Stimme.»
«Sie erkennen meine Stimme? Wo glauben Sie die denn schon gehört zu haben?»
«Am letzten Freitagabend vor dem Gittertor von Fernly Park. Sie fragten mich nach dem Weg dahin.»
«So, habe ich das getan?»
«Geben Sie es zu?», fragte der Inspektor.
«Ich gebe gar nichts zu. Nicht eher, bis ich weiß, wessen Sie mich verdächtigen.»
«Haben Sie in den letzten Tagen keine Zeitung gelesen?» fragte Poirot. Er sprach zum ersten Mal.
Die Augen des Mannes verengten sich.
«Das ist es also? Ich las, dass ein alter Mann in Fernly ermordet wurde. Wollt ihr mir jetzt diese Tat in die Schuhe schieben?»
«Sie waren an jenem Abend dort», sagte Poirot ruhig.
«Woher wissen Sie das?»
«Daher.» Poirot zog etwas aus der Tasche und hielt es ihm hin. Es war der Gänsekiel, den wir im Gartenhaus gefunden hatten. Bei diesem Anblick verwandelte sich der Ausdruck seines Gesichtes. Er streckte die Hand danach aus.
«Schnee», sagte Poirot nachdenklich. «Nein, nein, mein Freund, er ist leer. Der Federkiel lag genau da, wo Sie ihn an jenem Abend im Gartenhaus fallen ließen.»
Charles Kent blickte ihn unsicher an.
«Sie scheinen höllisch viel zu wissen, Sie kleiner ausländischer Grünschnabel. Vielleicht bedenken Sie aber Folgendes: Die Zeitungen behaupten, der alte Herr sei zwischen drei viertel zehn und zehn Uhr ermordet worden.»
«Ist mir bekannt», stimmte Poirot bei.
«Ja, aber war es wirklich so? Das möchte ich wissen.»
«Der Herr hier wird es Ihnen sagen», antwortete Poirot.
Er wies auf Inspektor Raglan. Dieser zögerte, blickte wie fragend zu Chefinspektor Hayes und dann zu Poirot hinüber und sagte endlich: «Es ist richtig. Zwischen drei viertel zehn und zehn Uhr.»
«Dann haben Sie kein Recht, mich hier zurückzuhalten», begehrte Kent auf. «Zwanzig Minuten nach neun lag Fernly Park schon weit hinter mir. Sie können im ‹Dog & Whistler› nachfragen. Das ist eine Schenke auf dem Wege nach Cranchester, ungefähr eine Meile von Fernly Park entfernt: Ich schlug dort ein wenig Radau, soweit ich mich erinnere, und es fehlte nicht viel an drei viertel zehn. Was sagen Sie dazu?»
Inspektor Raglan schrieb etwas in sein Notizbuch.
«Nun?», fragte Kent.
«Erkundigungen werden eingeholt», antwortete der Inspektor. «Wenn Sie die Wahrheit sagen, werden Sie es nicht zu bereuen haben. Was hatten Sie überhaupt in Fernly Park zu suchen?»
«Besuchte jemand.»
«Wen?»
«Das geht Sie nichts an.»
«Halten Sie Ihre Zunge besser im Zaum, mein Lieber», warnte der Chefinspektor.
«Zum Teufel mit der Zunge! Weshalb ich hinging, ist meine Sache. Das ist alles, was darüber zu sagen ist.»
«Sie heißen Charles Kent?», fragte Poirot. «Wo sind Sie geboren?»
Der Mann starrte ihn an, dann begann er zu grinsen. «Ich bin vollwertiger Brite», sagte er.
«Ja», bemerkte Poirot nachdenklich. «Ich glaube, das sind Sie. Ich denke, Sie kamen in Kent auf die Welt?»
Der Mann starrte ihn an.
«Warum? Wegen meines Namens? Was hat der damit zu tun? Ist ein Mann, weil er Kent heißt, verpflichtet, in jener Grafschaft geboren zu sein?»
«Unter gewissen Umständen kann ich mir denken, dass das so ist», sagte Poirot mit Bedacht. «Unter gewissen Umständen, verstehen Sie?»
Er betonte dies so nachdrücklich, dass die beiden Polizeibeamten erstaunt aufhorchten. Charles Kent dagegen stieg das Blut so sehr zu Kopf, dass ich einen Augenblick lang dachte, er werde Poirot an die Gurgel fahren. Er überlegte es sich jedoch und wandte sich lachend ab.
Poirot nickte befriedigt und zog sich zurück. Die beiden Polizeibeamten folgten ihm.
«Wir wollen diese Angaben überprüfen», bemerkte Raglan. «Ich glaube nicht, dass er lügt. Aber er wird uns erzählen müssen, was er eigentlich in Fernly gesucht hat. Es sieht so aus, als hätten wir unseren Erpresser gefunden. Vorausgesetzt, dass seine Geschichte wahr ist, kann er nichts mit dem Mord zu tun gehabt haben. Er hatte zehn Pfund bei sich, als wir ihn festnahmen, eigentlich eine große Summe. Ich denke, jene vierzig Pfund flossen in seine Tasche – die Nummern der Noten stimmen zwar nicht, aber er wird sie natürlich gewechselt haben. Wahrscheinlich hat Mr. Ackroyd ihm das Geld gegeben, worauf er sich so schnell wie möglich aus dem Staub machte. Was meinen Sie übrigens damit, dass er wohl aus Kent gebürtig ist? Was hat das damit zu tun?»
«Nicht das Geringste», erwiderte Poirot freundlich. «Nur ein kleiner Einfall von mir, sonst nichts. Ich … ich bin berühmt für meine kleinen Einfälle.»
«Wirklich?», fragte Raglan und betrachtete ihn neugierig.
Der Chefinspektor brach in schallendes Gelächter aus.
«Wiederholt hörte ich Inspektor Japp sagen: ‹Poirot und seine kleinen Einfälle!› Zu fantastisch für mich, aber es steckt etwas dahinter!»
«Sie machen sich über mich lustig», lächelte Poirot, «aber das macht nichts. Die Alten lachen manchmal immer noch, wenn den Jungen, Klugen das Lachen schon lange vergangen ist.»
Dann nickte er ihnen zu und trat auf die Straße hinaus.
Wir aßen in einem Hotel. Ich weiß jetzt, dass damals die ganze Sache schon klar enträtselt vor ihm lag. Er hatte die letzte Spur gefunden, die ihn zur Wahrheit führen sollte.
Zu jener Zeit jedoch argwöhnte ich noch nichts. Ich unterschätzte sein Selbstvertrauen und setzte als erwiesen voraus, dass die Dinge, die mir rätselhaft schienen, auch ihn verwirren mussten.
Am rätselhaftesten war mir, was wohl jener Charles Kent in Fernly Park gemacht haben konnte. Wieder und wieder legte ich mir die Frage vor, ohne eine befriedigende Antwort zu finden. Endlich wagte ich einen tastenden Vorstoß. Poirots Antwort kam sofort.
«Mon ami, ich glaube nicht, ich weiß.»
«Wirklich?», fragte ich ungläubig.
«Ja, wirklich. Aber Sie würden mich wohl kaum verstehen, wenn ich sagte, er sei an jenem Abend in Fernly gewesen, weil er aus Kent gebürtig ist.»
Ich starrte ihn an. «Das verstehe ich allerdings nicht», sagte ich.
«Ah», erwiderte Poirot mitleidig, «das macht nichts, ich habe aber meine kleinen Vermutungen!»