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Als ich am nächsten Tag an der Haustür von Marby Grange auf die Klingel drückte, befiel mich leichte Nervosität. Ich zerbrach mir den Kopf, was Poirot herauszufinden hoffte. Er hatte mich mit der Aufgabe betraut. Warum? Wollte er, wie bei Major Blunt, im Hintergrund bleiben? 

Meine Betrachtungen wurden durch das Erscheinen eines adretten Stubenmädchens unterbrochen.

Ja, Mrs. Folliot sei daheim. Ich wurde in einen großen Salon geführt, und während ich die Dame des Hauses erwartete, blickte ich neugierig um mich. Einige gute alte Porzellanstücke, ein paar sehr schöne Radierungen …

Ich hatte eben die Betrachtung eines Bartolozzi beendet, als Mrs. Folliot eintrat. Sie war groß, hatte braunes Haar und ein äußerst gewinnendes Lächeln.

«Doktor Sheppard?» fragte sie zögernd.

«So heiße ich», erwiderte ich. «Ich muss wegen dieses Überfalles um Verzeihung bitten, aber ich möchte eine Auskunft über ein Stubenmädchen erbitten, das früher in Ihren Diensten stand – Ursula Bourne.»

Kaum war der Name gefallen, als das Lächeln aus ihrem Antlitz schwand und alle Herzlichkeit ihres Wesens zu Eis erstarrte.

«Ursula Bourne?» wiederholte sie zögernd.

«Ja», sagte ich, «vielleicht können Sie sich an diesen Namen erinnern?»

«O ja, gewiss. Ich … ich erinnere mich des Namens sehr genau.»

«Wenn ich nicht irre, verließ sie vor etwa einem Jahr Ihr Haus?»

«Ja, ja, das stimmt.»

«Und waren Sie mit ihr zufrieden? Wie lange war sie übrigens in Ihrem Haus?»

«Oh, vielleicht zwei Jahre. Ich erinnere mich nicht genau, wie lange es war. Sie … sie ist sehr tüchtig. Ich bin überzeugt, Sie werden mit ihr zufrieden sein.»

«Könnten Sie mir nicht irgend etwas Näheres über sie mitteilen?» fragte ich.

«Irgend etwas über sie?»

«Ja. Woher sie kommt, wer ihre Familie ist – und dergleichen.» Mrs. Folliots Gesichtsausdruck wurde immer kälter.

«Ich weiß gar nichts.»

«Wo war sie, ehe sie bei Ihnen eintrat?»

«Leider kann ich mich nicht daran erinnern.»

Nun gesellte sich Ärger zu ihrer Nervosität. Sie warf den Kopf zurück, und diese Geste war mir irgendwie vertraut.

«Müssen Sie wirklich all diese Fragen stellen?»

«Durchaus nicht», sagte ich erstaunt. «Ich hatte keine Ahnung, dass es Ihnen peinlich ist, sie zu beantworten. Ich bitte vielmals um Verzeihung.»

Ihr Unwille schien nachzulassen.

«Oh, peinlich? Davon kann keine Rede sein. Es … es schien mir nur etwas merkwürdig. Sonst nichts.»

Die Erfahrung als Arzt bringt es mit sich, dass man gewöhnlich merkt, wenn man belogen wird. Ich hatte sofort erkannt, dass ihr viel, sogar sehr viel daran lag, meine Fragen nicht zu beantworten. Sie fühlte sich außerorden t lich unbehaglich, hatte die Fassung verloren, und es war klar, dass irgend etwas dahintersteckte. Ein Kind hätte sie durchschauen können. Es war mir ebenso klar, dass sie nicht geneigt war, mir sonst noch etwas zu erzählen. Was für ein Geheimnis Ursula Bourne auch umgeben mochte, Mrs. Folliot würde es mir bestimmt nicht offenbaren.

Ich bat nochmals wegen der Störung um Entschuldigung, nahm meinen Hut und ging.

 

«Ich hatte heute einen sehr interessanten Nachmittag», begrüßte mich Caroline, als ich mich in meinem Lehnstuhl niedergelassen hatte und die Füße wohlig am Kaminfeuer wärmte .

«So? Kam vielleicht Miss Ganett zum Tee?»

«Rat weiter», sagte Caroline mit ungeheurem Behagen.

Ich riet weiter und ging sämtliche Mitglieder von Carolines Nachrichtentruppen durch, aber jedes Mal schüttelte Caroline triumphierend den Kopf. Schließlich gab sie freiwillig selbst Auskunft.

«Mr. Poirot!», sagte sie. «Nun, was sagst du dazu?»

Ich dachte allerhand darüber, doch hütete ich mich, es Caroline anzuvertrauen.

«Mich besuchen! Er sagte sehr höflich, da er meinen Bruder gut kenne, würde es ihm wohl erlaubt sein, die Bekanntschaft seiner reizenden Schwester, deiner reizenden Schwester, zu machen. Ich bringe jetzt alles durche i nander – aber du weißt schon, was ich meine.»

«Worüber habt ihr euch unterhalten?»

«Er hat mir allerlei von sich und seinen Fällen erzählt. Hast du von jenem Prinzen gehört, der kürzlich eine Tänzerin heiratete?»

«Ja.»

«Nun, es scheint, dass Mr. Poirot eine rätselhafte Affäre aufdeckte, in die beide verwickelt waren. Der Prinz war außer sich vor Dankbarkeit.»

«Verlieh er ihm dafür eine Krawattennadel mit einem Smaragd in der Größe eines Kiebitzeies?», erkundigte ich mich spöttisch.

«Davon hat er nichts erzählt. Warum fragst du?»

«Nur so. Ich dachte, dies sei so der Brauch.»

«Es ist sehr interessant, diese Dinge einmal von der a n deren Seite zu hören», sagte meine Schwester.

Für Caroline wohl. Ich konnte nur das Geschick bewundern, mit dem Poirot aus seinen vielen Fällen unfehlbar jenen auszuwählen verstanden hatte, der bei einer alternden, in einem kleinen Dorf lebenden ledigen Frau am meisten Anklang finden musste.

Ich hätte gern gewusst, wieweit Poirot bei der Wahrheit geblieben war, während er mit Caroline plauderte. Vermutlich überhaupt nicht. Er hatte wahrscheinlich seine Andeutungen mit Bewegungen der Augenbrauen und Schultern unterstrichen.

«Und nach alldem», bemerkte ich, «warst du vermutlich bereit, ihm aus der Hand zu fressen?»

«Sei nicht gewöhnlich, James. Ich weiß gar nicht, woher du diese vulgären Ausdrücke nimmst.»

«Wahrscheinlich von meinem einzigen Bindeglied mit der Außenwelt – von meinen Patienten. Unglücklicherweise besteht meine Praxis nicht aus königlichen Prinzen und Tänzerinnen.»

Caroline schob ihre Brille in die Höhe und sah mich an.

«Du bist so mürrisch, James. Das muss von der Leber kommen. Nimm abends eine blaue Pille.»

Wer mich zuhause sieht, würde niemals auf den Gedanken kommen, ich sei Arzt. Caroline bestimmt für sich und für mich.

«Verwünschte Leber», sagte ich gereizt. «Habt ihr auch über den Mord gesprochen?»

«Natürlich, James. Worüber sollte man sonst hier sprechen! Ich war in der Lage, Poirot über verschiedene Punkte aufzuklären. Er war mir sehr dankbar und sagte, ich hätte das Zeug zu einem echten Detektiv – und ein wunderbares psychologisches Verständnis für die menschliche Natur.»

Caroline glich einer Katze, die sich bis an den Rand mit dicker Schlagsahne vollgegessen hatte. Sie schnurrte.

«Er sprach viel über die kleinen grauen Gehirnzellen und deren Funktionen. Seine, meinte er, seien erstklassig.»

«Das sieht ihm ähnlich», warf ich ein. «Bescheidenheit ist nicht seine hervorragendste Tugend!»

«Ich wollte, du wärst nicht so bissig, James. Mr. Poirot meinte, es sei sehr wichtig, dass Ralph so bald wie möglich gefunden würde. Sein Verschwinden wird bei der gerichtlichen Untersuchung sehr unangenehm beurteilt werden.»

«Und was hast du darauf erwidert?»

«Ich gab ihm recht», sagte Caroline wichtig. «Und ich konnte ihm auch verraten, wie die Leute jetzt darüber reden und denken.»

«Caroline, hast du Poirot erzählt, was du damals im Wald hörtest?»

«Gewiss», antwortete sie behaglich.

Ich sprang auf und begann auf und ab zu wandern.

«Ich hoffe, du weißt, was du tust?», schleuderte ich ihr entgegen. «Du legst die Schlinge um Ralphs Hals, so wahr du hier sitzt.»

«Durchaus nicht», bemerkte Caroline gelassen. «Ich war nur erstaunt, dass du es ihm nicht erzählt hast.»

«Ich hätte mich gehütet, das zu tun», sagte ich. «Ich habe den Jungen gern.»

«Ich auch. Und deshalb sage ich, dass du Unsinn redest. Ich glaube nicht an Ralphs Schuld, und so kann ihm die Wahrheit auch nichts schaden, und wir sollten Poirot helfen, soweit es in unserer Macht steht. Denk doch, höchstwahrscheinlich war Ralph in der Mordnacht mit jenem Mädchen zusammen und hat in diesem Fall ein perfektes Alibi.»

«Wenn er ein perfektes Alibi hat», erwiderte ich, «weshalb tritt er dann nicht hervor, um es nachzuweisen?»

«Vielleicht um dem Mädchen keine Unannehmlichkeiten zu bereiten», bemerkte Caroline weise. «Wenn aber Mr. Poirot sie findet und ihr nahelegt, was ihre Pflicht ist, wird sie sich freiwillig melden und Ralph entlasten.»

«Du scheinst dir ein romantisches Märchen zurechtgelegt zu haben. Du liest zu viele kitschige Romane, Caroline. Ich habe dir das schon immer gesagt.»

Wieder sank ich in meinen Lehnstuhl.

«Hat Poirot noch nach anderem gefragt?», erkundigte ich mich.

«Nur nach den Patienten, die an jenem Tag bei dir waren.»

«Nach den Patienten?», fragte ich ungläubig.

Sie blieb von meinem Unglauben ganz unberührt.

«Ja, nach deinen regelmäßigen Patienten. Wie viele kamen, und wer sie waren.»

«Willst du vielleicht behaupten, dass du ihm darüber Auskunft geben konntest?», fragte ich.

Caroline ist wirklich verblüffend.

«Weshalb nicht?», fragte sie. «Ich kann den Weg, der zur Tür des Sprechzimmers führt, von meinem Fenster aus überblicken. Und ich habe ein ausgezeichnetes Gedächtnis, James. Weit besser als deins.»

«Davon bin ich überzeugt», murmelte ich mechanisch.

Meine Schwester zählte die Namen an den Fingern her.

«Da war die alte Mrs. Bennet und der Junge mit dem bösen Finger von der Farm, dann Dolly Grice, der du eine Nadel aus dem Finger zogst, dann der amerikanische Steward von dem Dampfer. Warte – das sind vier. Ja, und der alte George Evans mit dem Geschwür. Und zum Schluss …»

Bedeutungsvoll hielt sie inne.

«Nun?»

Triumphierend bereitete sie die Steigerung vor. Sie zischte es in erprobter Art heraus.

«Miss Russell!»

Dann lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück und blickte mich vielsagend an; und wenn Caroline jemand vielsagend anblickt, so ist das unmöglich zu übersehen.

«Ich weiß nicht, was du meinst», fragte ich unaufrichtig. «Weshalb sollte Miss Russell wegen ihres kranken Knies nicht meinen Rat einholen?»

«Ein krankes Knie?», wiederholte Caroline. «Unsinn! Nicht kränker als deines und meines. Sie hatte ganz andere Absichten.»

«Und die wären?»

Caroline musste zugeben, dass sie das nicht wusste.

«Aber verlass dich darauf – dahin wollte er gelangen. Mr. Poirot meine ich. Es stimmt etwas nicht mit dieser Frau, und er weiß es.»

«Genau die gleichen Worte gebrauchte Mrs. Ackroyd gestern, als ich mit ihr sprach.»

«Ah», sagte Caroline düster. «Mrs. Ackroyd ist auch so!»

«Wie?»

Caroline lehnte es ab, ihre Bemerkungen zu erläutern. Sie nickte nur mehrmals mit dem Kopf, rollte ihr Strickzeug zusammen und ging in ihr Zimmer, um ihre grell-lila Seidenbluse und das Medaillon anzulegen. Sie nannte das «zum Dinner umkleiden».

Ich blieb sitzen, starrte in die Glut und überdachte Carolines Worte. War Poirot wirklich mit der Absicht gekommen, etwas über Miss Russell in Erfahrung zu bringen, oder entsprang dies nur Carolines grübelndem Verstand, der alles nach seiner eigenen Auffassung auslegte?

In Miss Russells Benehmen war an jenem Morgen nichts Verdächtiges gewesen.

Ausgenommen …

Ich entsann mich ihrer wiederholten Erwähnung von Betäubungsmitteln, von Giften und Vergiftungen. Aber da steckte nichts dahinter. Ackroyd war nicht vergiftet worden. Dennoch war es seltsam.

Ich hörte Carolines Stimme ziemlich scharf von oben nach mir rufen.

«James, du wirst zu spät zum Dinner kommen.»

Ich legte Kohlen auf das Feuer und ging dann gehorsam hinauf. Es ist immer gut, Frieden im Hause zu haben.