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Am gleichen Abend hatten wir eine kleine Mah-Jongg-Party. Diese besondere Art, Gastfreundschaft zu üben, ist in King’s Abbot sehr beliebt. Die Gäste kommen nach dem Abendessen und werden mit schwarzem Kaffee bewirtet, später auch mit Tee, Brötchen und Gebäck. Unsere Gäste waren Miss Ganett und Colonel Carter, der in der Nähe der Kirche wohnt. Bei derartigen Gelegenheiten wird sehr viel geklatscht, und ich war der festen Überzeugung, dass diese Mah-Jongg-Party nur ein Vorwand für Caroline war, die aufregenden Ereignisse der letzten Tage in Ruhe zu behandeln. 

«Unfreundliches Wetter», begann der Colonel, der am Kamin lehnte, während meine Schwester Miss Ganett half, sich ihrer vielen Hüllen zu entledigen. «Sehr geheimnisvolle Geschichte mit dem armen Ackroyd … finden Sie nicht auch, Sheppard? Ich habe von Erpressungen munkeln hören … Zweifellos steckt eine Frau dahinter. Verlassen Sie sich darauf, eine Frau hat hier die Hand im Spiel.»

In diesem Augenblick kamen die beiden Damen herein und nahmen Platz.

Miss Ganett sprach dem Kaffee zu, während Caroline das Mah-Jongg-Kästchen auf den Tisch stellte.

«Wollen wir anfangen?», fragte sie.

Wir setzten uns, und ganze fünf Minuten wurde schweigend gespielt.

«Heute Vormittag habe ich Flora Ackroyd gesehen», sagte Miss Ganett.

«So?»; fragte Caroline. «Wo denn?»

«Mich sah sie nicht.» Miss Ganett sprach mit jenem ungeheuren Nachdruck, wie er nur in kleinen Orten gedeiht.

«Ah …» Caroline war interessiert. «War Flora allein?»

«Aber, liebste Caroline …!» Miss Ganett schüttelte den Kopf.

Die Blicke der beiden Damen trafen sich und schienen einander ausgezeichnet zu verstehen.

«Wirklich?», flüsterte Caroline. «Das stimmt also doch? Nun, mich überrascht es nicht im geringsten.»

«Wir warten auf Sie, Miss Sheppard, Sie sind an der Reihe», brummte Colonel Carter. Er gefällt sich manchmal in der Rolle des Mannes, der nur auf das Spiel erpicht ist und nichts auf Klatsch gibt – allerdings lässt sich niemand dadurch täuschen.

«Was ich noch sagen wollte», fuhr Miss Ganett fort, ohne den nicht unberechtigten Einwurf zu beachten, «Flora hatte Glück, wirklich viel Glück …»

«Inwiefern?», fragte Carter. «Warum soll Miss Flora Glück gehabt haben?»

«Ich verstehe vielleicht nicht viel von Verbrechen», fuhr sie mit der Miene eines Menschen fort, der alles weiß, was es nur zu wissen gibt, «aber das eine kann ich euch sagen: die erste Frage, die gewöhnlich gestellt wird, lautet: ‹Wer hat den Verstorbenen zuletzt am Leben gesehen?› … Und derjenige wird dann meistens argwöhnisch betrachtet. Flora war die letzte, die ihren Onkel sprach. Das hätte schlimm für sie aussehen können, sehr schlimm sogar; ich glaube, dass Ralph nur ihretwegen verschwunden ist – um den Verdacht von ihr abzulenken …»

«Aber, aber», widersprach ich. «Sie wollen doch nicht andeuten, dass ein junges Mädchen wie Flora ihren Onkel …»

«Na … ich weiß nicht. Kürzlich las ich in einem Buch über die Pariser Unterwelt, dass junge Mädchen mit engelhaften Gesichtern sehr oft Schwerverbrecherinnen sind …»

«Unsinn», bemerkte Caroline sofort, «vielleicht ist dies in Frankreich der Fall, aber nicht bei uns. Ich habe übrigens meine eigene Meinung über Captain Ralph Paton, behalte sie aber vorläufig für mich.»

Um so besser, dachte ich und machte dann den Vorschlag, mit dem Spiel aufzuhören; es war ja doch nur ein Vorwand, um die lieben Dorfbewohner mehr oder weniger liebenswürdig zu kritisieren. Mein Vorschlag wurde denn auch mit nur schwachen Einwendungen angenommen.

«Wir zerbrechen uns hier den Kopf», sagte Miss Ganett, «und ich bin sicher, dass der Doktor, der ja immer mit Mr. Poirot zusammensitzt, genau Bescheid weiß …»

«Keine Rede davon», widersprach ich.

Ich war überzeugt, dass ich wirklich nichts wusste.

«James ist so zurückhaltend», beklagte sich meine Schwester.

«Und ist Poirot wirklich so ein großer Detektiv?» Dies kam von Colonel Carter.

«Der größte, den die Welt jemals sah», behauptete Caroline nachdrücklich. «Er musste inkognito hierherkommen, um der Öffentlichkeit zu entgehen.»

«Welch eine Ehre für unser kleines Dorf!», rief Miss Ganett. «Wissen Sie übrigens, was Elise, das Küchenmädchen in Fernly, meiner Clara erzählt hat? Eine ganze Menge Geld soll dort gestohlen worden sein, und die Zofe ist in die Sache verwickelt. Sie soll nächtelang weinen und geht Ende des Monats. Das Mädchen war mir immer schon verdächtig, verkehrte mit niemandem, ging immer allein aus. Ich habe sie mal zu unserem Mädchentreffen eingeladen, aber sie lehnte ab … Können Sie sich das denken? Dann fragte ich sie nach ihrer Heimat, ihrer Familie und so weiter, und ich muss gestehen, ihr Benehmen war äußerst ungezogen. Sehr ehrerbietig, aber direkt beleidigend zurückhaltend.»

Miss Ganett schöpfte Atem, Caroline ließ diese Gelegenheit nicht ungenutzt vorübergehen.

«Miss Russell hat an jenem Freitagvormittag James unter irgendeinem Vorwand konsultiert. Meiner Meinung nach wollte sie nur Ausschau halten, wo die Gifte aufbewahrt werden …»

«Aber, aber …», sagte diesmal Miss Ganett.

Caroline antwortete nur mit einem bedeutungsvollen Achselzucken.

«Sie erwähnten vorhin Ralph Paton», fuhr Miss Ganett fort. «Haben Sie eine Ahnung, wo er stecken könnte?»

«Ich glaube, ja.»

Wir alle starrten sie ungläubig an.

«Sehr interessant, Miss Caroline», bemerkte Carter.

Miss Ganett ließ nicht locker.

«Ihr … hm … eigener Gedanke?»

«Nicht ganz. Aber Mr. Poirot blieb neulich vor der großen Karte in der Halle stehen, brummte etwas vor sich hin und erwähnte dann, dass Cranchester die einzige größere Stadt der Umgebung sei. Und da ging mir auf einmal ein Licht auf: Ralph ist in Cranchester!»

«Kann ich mir nicht vorstellen», rief der Colonel. «Liegt zu sehr in der Nähe!»

«Gerade deshalb», beharrte sie. «Man hat festgestellt, dass er nicht mit dem Zug abgereist ist. Er wird ganz einfach zu Fuß nach Cranchester gelaufen sein. Keiner wird auf den Gedanken kommen, dass er sich so nahe von hier aufhält.»

«Merkwürdig», sagte Miss Ganett nachdenklich. «Mr. Poirot fuhr heute Nachmittag an mir vorbei. Er kam aus der Richtung von Cranchester.»

«Sehen Sie …» Caroline triumphierte.

«Sie tragen aber wirklich nicht viel zur Bereicherung unseres Wissens bei, Doktor», bemerkte der Colonel gemütlich. «Ein Herz und eine Seele mit dem großen Detektiv – und nicht die geringste Andeutung für uns, was eigentlich vorgeht …»

«Colonel Carter hat recht», fiel meine Schwester ein.

«Du sitzt da wie ein steinerner Gast und sagst nichts.»

«Aber Caroline», verteidigte ich mich, «ich habe tatsächlich nichts zu berichten. Oder vielleicht doch …», fuhr ich leichtsinnig fort. «Was haltet ihr von einem gefundenen Trauring mit dem Buchstaben ‹R› und einem Datum?»

Es war sehr unvorsichtig von mir, das zu sagen.

Ich übergehe die nun folgende Szene. Ich musste genau beschreiben, wo der Schatz gehoben worden war, und wurde gezwungen, auch das eingravierte Datum anzugeben.

«13. März?», fragte Caroline. «Genau vor sechs Monaten! Aha!»

Aus dem Gewirr erregter Vorschläge und Vermutungen gingen drei Annahmen hervor.

1. Colonel Carter: Ralph ist heimlich mit Flora verheiratet.

2. Miss Ganett: Roger Ackroyd war heimlich mit Mrs. Ferrars verheiratet.

3. Meine Schwester: Roger Ackroyd war heimlich mit Miss Russell verheiratet.

Eine vierte Möglichkeit wurde später noch von Caroline angedeutet, bevor wir zu Bett gingen.

«Mich würde es nicht wundern, wenn Flora und Geoffrey Raymond miteinander verheiratet wären …»

«Dann müsste im Ring wohl ‹G› statt ‹R› stehen», wandte ich ein. «Wie denkst du aber über Hektor Blunt?»

«Unsinn! Ich gebe zu, er bewundert sie und ist vielleicht sogar in sie verliebt. Aber verlass dich darauf: Ein Mädchen wird sich niemals in einen Mann verlieben, der dem Alter nach ihr Vater sein könnte, wenn ein hübscher, junger Sekretär in der Nähe ist. Vielleicht spielt sie etwas mit dem Feuer. Die jungen Mädchen von heute machen das alle so. Aber eins sage ich dir, James: Flora Ackroyd macht sich nicht das geringste aus Ralph Paton, hat sich nie etwas aus ihm gemacht. Das kannst du mir glauben!»

Und ich glaubte es.